YEMIN ORDE. Welch idyllischer, um nicht zu sagen pittoresker Ort. Dank seiner Lage in den Wäldern des Karmelgebirges dehnt sich von hier aus eine unvergleichliche Aussicht über das Mittelmeer aus, und seine Bewohner fühlen sich hier rundum glücklich. Diese Ortschaft könnte jedoch ein Tal der Tränen und des Leids sein. In Yemin Orde leben nämlich fünfhundert entwurzelte und oft traumatisierte Jugendliche zwischen 13 und 19 Jahren, die aus der ganzen Welt stammen und auf ihrer Alijah hierher gelangt sind. Ein Mann, ein ausgezeichneter Erzieher, Dr. CHAIM PERI, hat daraufhin beschlossen, sich um diese jungen Menschen zu kümmern und ihnen eine neue Chance zu bieten, indem er ihnen das notwendige Rüstzeug mit auf den Weg gibt, damit sie sich in Würde und aus eigener Kraft einen Platz an der Sonne erarbeiten können.
Sie haben Ihr Leben einer sehr komplexen Aufgabe geweiht, nämlich zahlreiche Kinder, deren Leben bisher unter keinem glücklichen Stern stand, in die unerbittliche und sehr vielschichtige israelische Gesellschaft zu integrieren. Mit welcher Einstellung gehen Sie an Ihre Aufgabe heran?
Im Zentrum von Yemin Orde kümmern wir uns um die Erziehung junger Menschen, die aus einem schwierigen und zerstörten Umfeld stammen. Sie kommen sowohl aus Bosnien, aus jüdischen Favelas oder Waisenheimen in Brasilien, aus Tschetschenien, Kuba, Russland, Weissrussland, Äthiopien oder auch Frankreich. Jedes Kind, das plötzlich in ein neues Umfeld und eine neue Kultur verpflanzt wurde, trägt die unvermeidlichen Spuren dieser von ihm durchlebten Umwälzungen und der Ängste, die durch die Trennung von seinem Zuhause und der gewohnten Lebensweise entstehen. Die meisten Kinder, die heute zu unseren Schützlingen gehören, haben in einem System ohne Gesetz und Ordnung gelebt, sie haben bereits in einer ihnen vertrauten Umgebung zahlreiche Schwierigkeiten durchgemacht. Die Umstellung ihres Lebens und ihr Eintreffen in Israel bedeuten eine weitere Krise, die zu den unzähligen Tragödien hinzukommt, die sie bereits erlitten haben. Unter diesen Umständen steht es herzlich schlecht um die Chancen dieser Jugendlichen, letztendlich zu normalen, gültige Wertvorstellungen besitzenden, produktiven und kreativen Bürgern zu werden. Unsere Arbeitseinstellung besagt, dass kein Kind scheitern darf. In diesem Sinne stehen wir vor einem der grossen Probleme unserer Zeit, nämlich der Tatsache, dass Israel keine Gemeinschaft mehr ist, die auf der Grundlage ihrer Ideale funktioniert, sondern eine zersplitterte Gesellschaft des Konsums und des Kapitalismus, deren politische Führung in einer Krise steckt. Der Dienst in der Armee, der Kampf für sein Land stellt keine Priorität mehr dar. Es geht uns also darum, diesen Jugendlichen aus einem destabilisierten Milieu den Übergang in eine Gesellschaft zu ermöglichen, die ebenfalls grossen Schwierigkeiten gegenübersteht. Wir möchten, dass Yemin Orde von unseren Schützlingen als ein Ort der Hoffnung auf ein erfülltes Leben wahrgenommen wird. Dazu berufe ich mich gern auf folgenden Wahlspruch, der etwas provokativ wirken kann: «Ein uns anvertrautes Kind muss in neun Monaten wiedergeboren werden.» Dabei handelt es sich natürlich um eine Wiedergeburt im Sinne einer neuen Bewusstwerdung im Hinblick auf den Sinn des Lebens: die Vergangenheit muss analysiert worden sein, damit die Zukunft in aller Gelassenheit vorbereitet werden kann.
Sie haben beschlossen, sich einer äusserst schwierigen Herausforderung zu stellen. Wie gehen Sie ganz konkret dabei vor?
Wir betreuen fünfhundert Kinder, von denen ein Drittel aus Äthiopien stammen; für sie haben wir ein besonderes Programm vorgesehen, das als Grundlage für ihre Erziehung in Israel dient. Unsere Kinder leben alle zusammen, erhalten eine schulische Ausbildung und werden in ein Intergrationsprogramm eingegliedert. Es ist mein grösster Stolz darauf hinweisen zu können, dass die beiden ersten Anwälte äthiopischer Herkunft, die in Israel am Gericht zugelassen wurden, aus unseren Reihen stammen.
Ausserdem entstanden die besten Lösungen für erzieherische Probleme kaum je an den Akademien, sondern vor Ort und im allgemeinen in kleinen Institutionen, welche die Botschaft verkünden: «Es gibt verschiedene Lösungen, wir weisen euch den Weg!». Hier, in Yemin Orde, wurden wir jahrzehntelang immer wieder mit neuen Herausforderungen konfrontiert. In den 60-er Jahren habe ich mit marokkanischen Kindern gearbeitet, in den 70-er Jahren waren es in Israel geborene, aus benachteiligten Milieus stammende Kinder, in den 80-ern habe ich mich sowohl in Israel als auch in Äthiopien selbst um äthiopische Kinder gekümmert, und seit dem Beginn der 90-er Jahre betreue ich Russisch sprechende Kinder. Während jeder Etappe legte uns G’tt eine neue Herausforderung in den Weg, und obwohl sich die Situationen alle voneinander unterscheiden, besitzen sie doch einen gemeinsamen Nenner: sie rissen ein Kind aus einem zerstörten Umfeld und warfen es in eine verworrene und hoffnungslose Umgebung. Wir müssen uns bewusst sein, dass die Samen, die wir heute in die uns anvertrauten Jugendlichen legen, später aufblühen werden, wenn wir das zeitliche gesegnet haben. In Yemin Orde haben wir eine Atmosphäre geschaffen, die jedem Jugendlichen die Gewissheit vermittelt, dass wir jederzeit für ihn da sind und ihm ein offenes Ohr leihen und dass es keine bürokratische Autorität gibt. Bei uns kann kein Kind jemals weggeschickt werden, denn einerseits versuchen sie dies oft zu provozieren, und andererseits haben wir ein anderes System der Bestrafung eingeführt, das die persönliche Wiedergutmachung eines verursachten Schadens vorsieht. Wir sind keine Institution, sondern ein Instrument, das mit Hilfe der Erziehung und der Harmonie auf eine bessere Zukunft hin arbeitet. Man muss sich klar machen, dass Kinder, die aus allen Ländern der Welt kommen, nicht immer die Voraussetzungen mitbringen sich miteinander zu verständigen, da die Vermischung von jungen Äthiopiern mit jungen Russen eigentlich keine natürliche Kombination darstellt. Wir erschaffen hier keine Utopie und kein ideales und beschütztes Dasein, wir bereiten unsere Jugendlichen darauf vor, ihr Leben als verantwortungsbewusste israelische Bürger in jeder Hinsicht in die Hand zu nehmen.
Trotz aller guten Absichten, von denen Sie beseelt sind, und trotz der positiven Erfahrungen bleibt ein grundlegendes Problem bestehen, nämlich die Tatsache, dass ein grosser Teil der russischsprachigen Immigranten gemäss der Halacha (jüdische Gesetzgebung) nicht als Juden angesehen werden. Wie gehen Sie mit dieser Frage um?
Es trifft zu, dass fast die Hälfte meiner Schützlinge aus der Sicht der Halacha nicht jüdisch sind. Ich denke, dass alle diese jungen Menschen, deren Grossväter, Grossmütter oder Väter Juden waren und auf die man heute in Israel mit dem Finger zeigt, weil sie als “nichtjüdisch” gelten, sich früher oder später sehr wahrscheinlich gegen uns wenden werden. Um eine eigene Identität zu besitzen, brauchen diese Jugendlichen vor allem das Gefühl, an ihrem Platz zu sein und akzeptiert zu werden. Werden sie abgelehnt, steigen Aggressionen hoch. Wir sprechen hier ein sehr heikles Problem an. Eine vor kurzem durchgeführte Studie hat ergeben, dass Tausende von jungen, in Israel als Nichtjuden eingetragenen Einwanderern, die immerhin knapp 35% der Jugendlichen ausmachen, die sich hier niederlassen möchten, in hohem Ausmass alkohol- oder drogensüchtig und gewalttätig sind und oft zu Kriminellen werden. Ich erachte es als sinnvoll, dass alle diese Jugendlichen eine religiöse Ausbildung erhalten, die derjenigen der Äthiopier und Falascha Mura entspricht. Man muss sich im klaren sein, dass ihr gewalttätiges Verhalten und ihre Exzesse nur die Spitze des Eisbergs ausmachen und dass die Situation nur noch schlimmer werden kann. Die Tatsache, sie nicht als Juden einzutragen, geht weit über das jüdische Gesetz hinaus. Es geht um das Problem des kulturellen Ausgestossenseins von Tausenden von Jugendlichen, die dadurch automatisch zu Aussenseitern und später nie zu Mitglieder der israelischen Gesellschaft werden; dies schürt Hass- und Rachegefühle. Schon jetzt bilden sich rassistische Gruppierungen nationalsozialistischer Prägung, die eine Bedrohung für Israel darstellen, eine Zeitbombe, die sofort entschärft werden muss. Es handelt sich um intelligente junge Leute, die über ein vielversprechendes Potential und kulturelles Rüstzeug verfügen. In Yemin Orde bieten wir ihnen in erster Linie einen erzieherischen Dialog an, der den jungen Menschen die Gewissheit vermittelt, dass sie mit all ihren kulturellen Unterschieden akzeptiert werden. Zusammen mit dem Grossrabbinat Israels habe ich vor einigen Jahren hier ein Studienzentrum geschaffen, das zu einem Religionsübertritt namens «Schwut Am» hinführt, und in dem wir sie auf eine ordnungsgemässe Konversion zum Judentum vorbereiten. Wir geben ihnen somit die Möglichkeit, sich schon nur auf praktischer Ebene mit der Zeit völlig in die israelische Gesellschaft zu integrieren. Die Tatsache, ob die Konversion letztendlich wirklich stattfindet oder nicht, stellt für uns weder einen Erfolg noch eine Niederlage dar, da unser wichtigstes Ziel darin besteht, diesen Jugendlichen ein Selbstwertgefühl zu verleihen. Diesem Thema möchte ich eine sentimentale Note hinzufügen, indem ich behaupte, dass diese Kinder, die zu Randexistenzen in unserer Gesellschaft zu werden drohen, uns in gewisser Weise vom Allmächtigen nach der Schoah zurückgegeben wurden. Wer gestattet uns, sie ihrem Elend zu überlassen? Natürlich gibt es keine einfachen Lösungen, doch es ist in höchstem Masse unvernünftig anzunehmen, dass Tausende von jungen Leuten, die in Israel leben, Militärdienst leisten und als Mitbürger akzeptiert werden möchten, bereit sind, vor einem rabbinischen Gericht zu erscheinen und zu sagen «ich verpflichte mich, den Schabbat einzuhalten, koscher zu essen usw.», ohne dabei zu lügen. Wir müssen mutige Lösungen im Rahmen der Halacha finden, um zu verhindern, dass sich in einigen Jahren schreckliche Tragödien hier abspielen. Ich führe regelmässig ernsthafte Diskussionen mit meinen Schutzbefohlenen, um darzulegen, wie man in Israel leben kann, wenn man vom Rabbinat abgelehnt wurde, ohne dadurch in den Teufelskreis der Ausgrenzung zu geraten.
In Yemin Orde geniessen die Jugendlichen im Grunde ein sehr beschütztes Dasein. Wie geht im allgemeinen die Integration in einen normalen Alltag vonstatten?
Dieser Ort stellt keine Durchgangsstation in ihrem Leben dar, sondern ein Heim, eine Referenz, eine Grundlage und eine Quelle des Trosts und der Ermutigung. Wir sind ihnen gegenüber eine Verpflichtung auf Lebzeiten eingegangen. Statistisch gesehen wenden sich von zehn Kindern, für die wir eine endgültige Patenschaft übernommen haben, ein oder zwei später wieder an uns und bitten uns um Hilfe, während die acht oder neun anderen ihr Berufsleben in Angriff nehmen, sich dabei unserer Unterstützung sicher sind und uns regelmässig besuchen.
Dazu muss gesagt werden, dass wir ihnen helfen, wenn sie ihren Militärdienst leisten, wir bürgen für ihre Hypotheken, wir sind an ihrer Seite, wenn sie heiraten möchten, wir schicken sie an die Universität, und auch wenn sie bereits 30 sind, treiben wir noch die finanziellen Mittel für ihr erstes Geschäft auf. Auf die eine oder andere Art bleiben alle mit uns in Kontakt und alle Ehemaligen unterstützen uns finanziell, sobald sie dazu in der Lage sind; auf diese Weise zahlen sie uns ihren Aufenthalt hier zurück, dessen Auslagen sozusagen «vorgestreckt wurden und ohne Fälligkeitsdatum zurückzuerstatten sind».
Zum Thema Finanzen möchte ich ebenfalls sagen, dass wir in jedem Halbjahr eine Gruppe junger Engländer aus London und Liverpool hier aufnehmen, die von ihren Eltern hierher geschickt werden und deren Aufenthalt voll bezahlt wird, um dadurch ihre jüdische und zionistische Erziehung konkret zu vervollständigen. Es handelt sich in vielen Fällen um junge Menschen, die in sehr wohlhabenden Kreisen aufwachsen und noch nie ihr Bett selbst gemacht haben, die sich plötzlich in einem völlig andersartigen Umfeld befinden, umgeben von jungen Russen, Äthiopiern usw.
Wenn Sie Ihre Arbeitsphilosophie in wenigen Worten zusammenfassen müssten, was würden Sie darin einschliessen?
Ganz einfach, sie besteht aus fünf Elementen: dem Himmel – der religiösen Erfahrung; der Erde – für jeden von euch gibt es einen Platz und ihr werdet immer ohne jede Einschränkung akzeptiert werden; den Traditionen der Vergangenheit zur Vorbereitung der Zukunft; der Qualität des Dialogs; und letztendlich lehren wir unsere Kinder, dass sie sich um diejenigen kümmern sollen, die weniger Glück hatten als sie. Dazu laden wir regelmässig Familien ein, die Opfer des Terrorismus wurden, die entweder einen lieben Angehörigen verloren haben, oder bei denen ein Familienmitglied zwar überlebt hat, aber ein Leben lang verkrüppelt sein wird. Ausserdem verbringen jedes Jahr 350 krebskranke Kinder den Sommer bei uns.
Wie wir sehen, ist Yemin Orde viel mehr als nur ein Durchgangszentrum. Hier wird auf das Leben vorbereitet, es ist auch ein nie versiegender Quell der Ermutigung. Dazu kann interessanterweise festgehalten werden, dass sich Dr. Peri auf Anfrage des Dalai Lama bereit erklärt hat, 14 tibetische Kinder für ein halbes Jahr aufzunehmen. Ausserdem haben wir erfahren, dass Elie Wiesel jedes Mal, wenn er neuen Mut fassen will, einige Tage mit den Jugendlichen von Yemin Orde verbringt!
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