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Inhaltsangabe Lettland Herbst 2000 - Tischri 5761

Editorial - Herbst 2000
    • Editorial

Rosch Haschanah 5761
    • Die Demut

Politik
    • Barak – Alles oder Nichts

Interview
    • Mosche Katsav Präsident!
    • Mein Leben für Israel

Reportage
    • Vor den Toren Libanons

Lettland
    • Jerusalem und die Baltischen Republiken
    • «Notke» - «Riga un Latvijas Virsrabins»
    • Juden in Riga
    • Riga – Gestern – Heute – Morgen
    • «Post Tenebras… Lux»
    • Das Zentrum für jüdische Studien
    • Versuch einer Selbstbiographie
    • Das Jüdische Museum in Riga

Schweden
    • Jerusalem und Stockholm
    • «Judiska Museet i Stockholm»

Antisemitismus
    • Hass im Internet
    • Sachsenhausen

Erziehung
    • Yemin Orde

Forschung und Wissenschaft
    • Maulwurfsratten – Weizen - Pilze

Wissenschaftliche Forschung
    • Pilze fürs Leben

Kunst und Kultur
    • Das Zentrum Für Jüdische Geschichte in Manhattan

Ethik und Judentum
    • Wohltätigkeit und Selbständigkeit

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Versuch einer Selbstbiographie

Von Professor Margers Vestermanis
Ein seriöses Curriculum vitae beginnt gewöhnlich mit den für das Leben entscheidenden Entwicklungsjahren. Wir aber, Jahrgang 1925, hatten keine erwähnenswerte Vorkriegsbiographie: Wir steckten noch in den letzten Teenagerjahren, als die Sowjets in Lettland einmarschierten und elf Monate später mit der Besetzung Lettlands durch Nazi Deutschland die Katastrophe über uns hereinbrach. Der erste Auftakt unseres bewussten Lebens wurde abrupt durch Krieg, Terror und Massenmord unterbrochen. Zurückschauend müssen wir uns fragen, wie es denn möglich geworden ist, dass wir, blutjung, unerfahren und unreif, es trotzdem schafften, die allgemeine jüdische Vernichtung zu überleben. Ich denke, dass es der Verdienst des Vaterhauses gewesen ist.
Mein Vater war ein typischer self made-man und Autodidakt. Sein Bildungshunger ließ ihn jede freie Stunde den Büchern widmen, oft auch nächtelang. Das war für einen erfolgreichen Großkaufmann und Grossindustriellen seiner Zeit ganz und gar ungewöhnlich. Aus den Gesprächen mit meinem Vater erhielt ich die ersten intellektuellen Impulse, aus den Büchern seiner Bibliothek, die er sich nach und nach angelegt hatte, stammt meine Passion für Geschichte. Neben einer deutschen, lettischen und russischen Zeitung wurden auch unbedingt die yiddische «Haint» und «Yiddische Bilder» abonniert. Die deutsche Sprache sollte uns den Zugang zur Weltkultur sichern, darum besuchten wir Kinder - mein älterer Bruder, meine ältere Schwester und ich - die deutsche Schule, die wir 1933 verließen. Wir gingen dann alle in die private jüdische «Esra»-Schule, wo der deutsche Unterricht innerhalb kurzer Zeit vom lettischen verdrängt wurde. Trotz der «Vielsprachigkeit» in der Familie und der Umgebung, zu der noch englische Privatstunden kamen, erhielten wir Kinder eine sehr jüdisch-nationale Erziehung, der aber jeder Gedanke an religiöse und nationale «Scheuklappen» fernlag. Von meinem sechsten bis zum fünfzehnten Lebensjahr wurde ich von einem Rabbi privat in den Grundlagen der jüdischen Religion und der Heiligen Schrift unterrichtet. Meine Eltern begründeten die Notwendigkeit dieses Studiums damit, dass die Heilige Schrift die Grundlage der jüdischen Kultur bilde, und wir es unserer Selbstachtung schuldig seien, sie gründlich zu kennen. Wir erhielten damit auf den Lebensweg das Entscheidende, die wichtigste Voraussetzung für das Überleben: ein starkes nationales Selbstgefühl und Behauptungswillen.
Meine Erlebnisse während der Holocaustzeit ähneln denen meiner Kameraden: Kurzfristige Haft im Zentralgefängnis, dann zwei Jahre im Rigaer Ghetto, dem das KZ Kaiserwald folgte. Von November 1943 bis Juli 1944 war ich in den Lagern KZ Poperwahlen und KZ Dondangen im Norden Kurlands inhaftiert. Alle meine Angehörigen waren zu dieser Zeit schon ermordet worden: Mein Bruder, ein gottbegnadeter Musiker, Student des Konservatoriums, wurde am 15. Oktober 1941 im Zentralgefängnis erschossen, meine Eltern und meine Schwester am 8. Dezember 1941 in Rumbula. Ich schmiedete während der ganzen Haftzeit verschiedene Fluchtpläne, unternahm auch zwei Fluchtversuche, die aber misslangen. Die Flucht glückte erst am 27. Juli 1944, als wir, Häftlinge des KZ Dondangen, in Gewaltmärschen nach Ventspils getrieben wurden. Am zweiten Marschtag, als wir die waldige Gegend bei Ugäle passierten, sprang ich am hellichten Tage vor den Augen des verdutzten SS-Begleitkommandos über den Chausseegraben und erreichte den rettenden Waldrand. Nach verschiedenen Abenteuern fand ich eine lettische «Waldbrüder»-Gruppe, der ich mich anschließen konnte. Kurland verwandelte sich bald in den «Kurlandkessel», in dem zwei deutsche Armeen - die 16. und die 18. - abgeschnitten wurden. Bei den systematischen «Durchkämmungen» der Wälder wurde unsere Gruppe bald aufgerieben. Im Herbst 1944 waren in der Gruppe 27 Mann; den 9. Mai 1945, den Tag der Befreiung, erlebten nur drei. Ich war einer dieser drei...
Ich möchte der Beschreibung meiner Haftzeit einiges kaum Bekanntes über die Widerstandsbewegung im Ghetto hinzufügen:
Im Vorfrühling 1942 wurde ich wegen «Fluchtverdacht» aus dem Arbeitskommando «Bahnhofskommandantur» in das «TWL der Waffen SS» strafversetzt. Dort traf ich einen sehr energischen draufgängerischen Jungen meines Alters, «a Yingl fun Moskever Forstadt», Isja Dvorkin. Er kannte den Grund meiner «Strafversetzung» und lud mich deshalb ohne irgendwelche Umschweife zu einer Versammlung in einem leerstehenden Kartoffelkeller auf der Lielä Kalnu ein. Wìr versammelten uns im Keller immer im Dunkeln, Licht wurde niemals angemacht. Man sprach so ziemlich allgemein über Fluchtmöglichkeiten, tauschte Lagererfahrungen aus. Es war dann bestimmt schon Spätsommer 1942, als Isja sagte, man hätte über einen sowjetischen Fallschirmspringer Kontakte mit einer Partisanengruppe in Latgale aufgenommen. Er liess dabei durchblicken, dass kleine Gruppen aus dem Ghetto zu den Partisanen stoßen könnten und dass zu gegebener Zeit auch wir drankommen würden. Es kam dann aber nicht dazu, weil der ganze Widerstand verraten wurde. In den Versammlungen wurde hauptsächlich gesungen: Ein Marschlied, das mit den Worten begann «Ghetto, Ghetto, steh uf fun dein tragischen Cholem...», und ein anderes marschartiges Lied:
«Dermon sech dem Monat Dezember,
Dem Jorzeit fun dein Weib un Kind.
Men soll dir nischt darfen dermonen
Dem Ziel fun dein Leben geschwind.»

Ich erinnere mich nur an diesen Anfang des Liedes, das Isja höchstwahrscheinlich selbst gedichtet und eine passende Melodie dazu gefunden hatte. Unsere Versammlungen fanden ein jähes Ende, als am 31. Oktober 1942 die Widerstandsleute aus dem Ghettoordnungsdienst und die Geiseln erschossen wurden. lch habe später keinen einzigen aus unserer Jugendgruppe mehr getroffen; es ist anzunehmen, dass keiner ausser mir mit dem Leben davongekommen ist. Aber die Zeilen des Widerstandsliedes haben mich durch das Leben begleitet, mich in mancher schwerer Stunde gestärkt, und ich möchte es als Andenken und Vermächtnis den Nachkommen hinterlassen: «...Men soll dir nischt darfen dermonen dem Ziel fun dein Leben !»
Wie alle unsere Überlebenden aus Lettland, habe auch ich das Examen des Nachkriegslebens bestanden: unter schweren Umständen studiert, es im Museums- und Archivdienst trotz ewiger Zurückstellungen und Diskriminierung bis zum Abteilungsleiter und in der pädagogischen Tätigkeit bis zum Oberlehrer und später Studienrat gebracht. Ich habe mehrere Bücher zur neuzeitlichen Geschichte geschrieben und bin erfolgreicher freischaffender Journalist gewesen. 1990 habe ich ein jüdisches Nationalarchiv und das erste jüdische Museum in der Geschichte Lettlands aufgebaut. In deutschen und jetzt auch in lettischen akademischen Sammelbänden sind meine Forschungen über die Holocausttragödie in Lettland erschienen, an der Universität Lettlands leite ich das Seminar «Geschichte des Holocausts».
Wir haben unseren Tod um mehr als fünfzig Jahre überlebt. Es ist letzten Endes ein langes Leben geworden, wenn auch ein schweres, das einige Erfolge aufweisen kann. Das unbarmherzige Schicksal, das unsere Lieben eines schrecklichen Todes sterben ließ, war uns günstig; wir haben Kinder und Enkel erlebt.
Aber kann uns das mit der Welt aussöhnen, die an dem millionenfachen jüdischen Massenmord gleichgültig vorbeischauen konnte ?



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