News Neueste Ausgabe Befragung: Resultate Suchen Archiv Français English Русский עברית Español


Inhaltsangabe Lettland Herbst 2000 - Tischri 5761

Editorial - Herbst 2000
    • Editorial

Rosch Haschanah 5761
    • Die Demut

Politik
    • Barak – Alles oder Nichts

Interview
    • Mosche Katsav Präsident!
    • Mein Leben für Israel

Reportage
    • Vor den Toren Libanons

Lettland
    • Jerusalem und die Baltischen Republiken
    • «Notke» - «Riga un Latvijas Virsrabins»
    • Juden in Riga
    • Riga – Gestern – Heute – Morgen
    • «Post Tenebras… Lux»
    • Das Zentrum für jüdische Studien
    • Versuch einer Selbstbiographie
    • Das Jüdische Museum in Riga

Schweden
    • Jerusalem und Stockholm
    • «Judiska Museet i Stockholm»

Antisemitismus
    • Hass im Internet
    • Sachsenhausen

Erziehung
    • Yemin Orde

Forschung und Wissenschaft
    • Maulwurfsratten – Weizen - Pilze

Wissenschaftliche Forschung
    • Pilze fürs Leben

Kunst und Kultur
    • Das Zentrum Für Jüdische Geschichte in Manhattan

Ethik und Judentum
    • Wohltätigkeit und Selbständigkeit

Artikel per E-mail senden...
Jerusalem und die Baltischen Republiken

Von Roland S. Süssmann
Seit die baltischen Staaten vor ungefähr zehn Jahren unabhängig wurden, haben sich die Beziehungen zwischen Jerusalem und Riga, Vilnius und Tallin auf ganz besondere Weise entwickelt. Um diese recht ungewöhnliche Situation kennenzulernen und zu verstehen, haben wir I. E. RONIT BEN DOR getroffen, Geschäftsträgerin des Staates Israel in Lettland, Litauen und Estland und Zweiter Sekretär der Botschaft in Riga. In Wirklichkeit nimmt Frau Ben Dor seit fast dreizehn Monaten die Funktion und die Aufgaben eines richtigen Botschafters wahr, da Jerusalem niemand für diesen Posten ernannt hat. Obwohl die Büros der Botschaft sich in Lettland befinden, stellt der hebräische Staat alle drei baltischen Länder auf dieselbe Stufe. Frau Ben Dor begibt sich mindestens einmal pro Monat in die beiden anderen Hauptstädte.

Können Sie uns kurz darlegen, welcher Art die Beziehungen zwischen Jerusalem und den drei baltischen Hauptstädten sind?

Ein grosser Teil unserer Arbeit besteht aus dem Versuch, «normale» Beziehungen aufzubauen, und dies ist direkt mit der Art und Weise verbunden, mit der diese Länder heute ihr Verhalten gegenüber der jüdischen Bevölkerung während des Zweiten Weltkriegs hinterfragen. Wir erwarten von ihnen, dass sie die Ereignisse wahrheitsgetreu betrachten und bereit sind, sich mehrere Tatsachen einzugestehen. Solange dies nicht der Fall ist, können wir die Geschichte nicht ruhen lassen und uns der Zukunft zuwenden, da die Vergangenheit die weitere Entwicklung der Kontakte schwer belastet. Bis zum Sommer 1999 waren unsere Beziehungen sehr kompliziert, wir hatten den Eindruck, dass unsere Bemühungen ergebnislos blieben. Erinnern wir daran, dass die Geschichte der baltischen Staaten nicht einfach ist, da sie praktisch nie die Unabhängigkeit besassen, und in der kurzen Zeit, da sie tatsächlich unabhängig waren, wurde dieser Zustand vom Verlauf des Zweiten Weltkriegs und folglich von zwei Grossmächten bedroht, der UdSSR und von Deutschland. Die erste russische Besatzung von 1940 bis 1941 wurde von der Mehrzahl der verschiedenen Bevölkerungsgruppen als das schlimmste Übel empfunden, so dass viele von ihnen mit den Deutschen kollaborierten, da sie in ihnen die «Befreier» sahen, die ihnen die entrissene Unabhängigkeit zurückgegeben hatten. Damals wussten die Leute natürlich nichts von dem geheimen Abkommen zwischen Ribbentrop und Molotow, das eine Trennung der beiden Mächte vorsah, sie ahnten auch nicht, dass Russland sowieso die Kontrolle über die baltischen Staaten erhalten würde. Dies entschuldigt natürlich keinesfalls die aktive Unterstützung der Nazi-Greuel. Während unseren Gesprächen mit den Behörden dieser Länder kam es übrigens nicht selten vor, dass die nationalsozialistischen und die russischen Schreckenstaten auf derselben Ebene betrachtet wurden: «Ihr (die Juden) habt mit dem NKVD/KGB zusammengearbeitet, folglich war es «normal», dass wir uns durch die Kollaboration mit den Nazis an euch rächten.» Diese Argumente werden zwar immer seltener vorgebracht, doch man bekommt sie doch ab und an zu hören. Dennoch kann man behaupten, dass die Einstellung sich heute zu verändern beginnt und man die Geschichte anders wahrnimmt. Die Kollaboration betraf jedoch nur einen Teil der Leute und die Institutionen, es wäre also ungerecht zu behaupten, die gesamte Bevölkerung habe ausnahmslos mitgemacht. Es ist ebenfalls falsch, die baltischen Staaten in einen Topf zu werfen, es sind drei sehr unterschiedliche Nationen, Völker und Mentalitäten, die Letten, Litauer und Esten. Jedes dieser Länder weist in bezug auf die Juden seine eigene Geschichte auf. Es ist daher sehr wichtig, diese Nuancen und Unterschiede genau zu kennen, was uns auch in die Lage versetzt, uns zur Vergangenheit präziser auszusprechen, die Einstellung unserer Gesprächspartner zu beeinflussen, kurz, akzeptiert zu werden. Es handelt sich um einen langwierigen und komplexen Vorgang, der sich jedoch auf einem guten Weg zu befinden scheint.

Wie hat diese bedeutungsschwere Vergangenheit die Beziehungen zwischen Israel und jedem der drei baltischen Staaten beeinflusst?

Die Tatsache, offen von dieser Zeit zu sprechen und diese Fragen aufzuwerfen, stellt ein Problem der internationalen und politischen Beziehungen dar. Jedes Arbeitstreffen, auch wenn es einfach um Wirtschaft, technische Unterstützung oder pädagogische Zusammenarbeit geht, wird sofort von den Problemen der Vergangenheit und von der Art überschattet, in der diese historischen Ereignisse heute betrachtet werden. Begibt sich beispielsweise ein israelischer Diplomat in einem westeuropäischen Land in eine der Regierungsbehörden, bespricht er mit seinem Gesprächspartner aktuelle politische oder wirtschaftliche Fragen, die beide Länder betreffen. Niemand erwähnt die Art und Weise, in der dieser Staat seine Vergangenheit in bezug auf die Schoah verarbeitet und was er unternimmt, um dieses Thema gründlich auszuleuchten. Hier befassen sich 60% einer Begegnung mit diesem Problem, wobei es heute unsere Gesprächspartner sind, die das Thema anschneiden, nachdem lange Zeit wir die Initiative ergriffen haben und ihnen zu verstehen gaben, dass es sich letztendlich um ihr Problem und nicht um unseres handelt. Sie haben begriffen, dass Israel mit ihren Ländern keine normalen Beziehungen der Zusammenarbeit aufnehmen würde, solange ihre jeweilige Regierung nicht ein gewisses Mass an gutem Willen an den Tag gelegt und konkrete Schritte unternommen hätte, um ihre Kollaboration mit den Nazis im Zusammenhang mit den Massakern und Greueltaten gegenüber ihren jüdischen Einwohner deutlich darzulegen, zuzugeben und zu untersuchen.

Könnte man sagen, dass heute der politische Wille seitens dieser Regierungen vorhanden ist, die von Israel geforderten Schritte zu unternehmen ? Wenn ja, um welche Massnahmen handelt es sich?

Dieser Wille ist in Lettland konkret vorhanden, und wir beginnen auch in Litauen die ersten Zeichen guten Willens wahrzunehmen. Was Estland betrifft, weisen gewisse Dinge darauf hin, dass sie unsere Position zu verstehen beginnen, d.h. dass die Schoah ein ganz besonderes Phänomen war und daher auch gesondert betrachtet werden muss. Auf praktischer Ebene bemüht sich Lettland z.B infolge der vom Präsidenten gegründeten internationalen historischen Kommission, die in gewisser Weise im Zentrum der Tätigkeiten steht. So ist beschlossen worden, das jüdische Museum von Lettland nach und nach zu verstaatlichen, so dass es einen offiziellen Status erlangt. Lettland setzt sich dafür ein, dass lettische Bürger, die während des Krieges Juden gerettet oder versteckt haben, geehrt werden. Es ist auch die Schaffung einer pädagogischen Stiftung geplant, damit die Schoah in den Schulen gelehrt werden kann. Dies alles stellt erst einen Anfang dar, denn trotz allem sieht kein Gesetzesparagraph vor, dass Nazi-Verbrecher in Lettland verfolgt werden dürfen.

Welches sind, neben der Anerkennung der Vergangenheit, die Bereiche, in denen die Zusammenarbeit zwischen Israel und den baltischen Staaten effektiv wird?

Auf beiden Seiten herrscht ein grosser Mangel an Informationen. Darüber hinaus wenden sich die israelischen Geschäftsleute lieber wichtigeren Märkten zu, denn in allen drei Staaten zusammen leben nur 8,5 Millionen Menschen, davon zweieinhalb Millionen in Lettland. Es ist interessant, hier zu arbeiten, sei es nur wegen des hohen Wissensstandes und der extrem geringen Kosten für Arbeitskräfte. Daher existieren trotz allem einige Handelsbeziehungen, die baltischen Staaten sind alle grosse Holz- und Metallexporteure, und Israel führt seinerseits die traditionellen Erzeugnisse ihrer Wirtschaft aus. Es existiert ebenfalls eine gute akademische Zusammenarbeit, und wir nehmen zahlreiche junge Letten auf, die sich in Israel in technischen Kursen weiterbilden, insbesondere im medizinischen und kommerziellen Bereich.

Sie haben jetzt von Lettland gesprochen, doch man darf auch nicht vergessen, wie bedeutend die jüdische Gemeinschaft von Litauen im Verlauf der Jahrhunderte gewesen ist. Denken wir daran, dass der berühmte Rabbi, der Gaon von Vilnius, die jüdische Geschichte ganz besonders geprägt hat und dass eine der wichtigsten Talmudversionen, die in dieser Stadt entstanden ist, noch heute unter dem Namen «Talmud von Vilnius» herausgegeben wird. Welche Haltung nimmt Litauen heute angesichts seiner aktiven Zusammenarbeit mit den deutschen Verbrechern an?

Es stimmt, die Katastrophe besass in Litauen viel grössere Ausmasse als in den anderen baltischen Staaten, was natürlich die Verantwortung von Lettland und Estland keinesfalls schmälert. Erinnern wir daran, dass ca. 95% der jüdischen Bevölkerung Litauens auf litauischem Boden vernichtet wurden. Im Sommer 1941, d.h. unter sowjetischer Besatzung, zählte Litauen zweihundert vor Leben sprühende, blühende Gemeinden mit ihrer gesamten Infrastruktur, ihrem kulturellen Leben, ihren Synagogen, Schulen, Jeschiwoth, Spitälern usw. Zwischen Juni und September 1941 sind jedoch fast alle Gemeinschaften bis auf vier (die in Ghettos verwandelt wurden) völlig verschwunden. Diese 196 Gemeinden konnten sich doch nicht innerhalb von vier Monaten in Luft aufgelöst haben! Natürlich waren einige deutsche Truppen in Litauen stationiert, doch sie waren nicht zahlreich genug, um so viele Menschen in so kurzer Zeit zu vernichten. Wer hat ihnen dabei geholfen? Alle diese Fragen sind anlässlich der Eröffnungszeremonie der internationalen Historikerkommission in Litauen gestellt worden, die im Juni 1999 erstmals Teilnehmer aus Israel empfing, und genau sie warfen diese Fragen auf. Interessanterweise war der litauische Präsident bei der Eröffnung anwesend; für Litauen sei die Suche nach der Wahrheit eine Gewissensfrage, sagte er. Man muss sich im klaren sein, dass dies einen gewaltigen, noch nie dagewesenen Fortschritt darstellt. Hierin besteht gewiss eine positive Konsequenz des Gipfels von Stockholm. Auf praktischer Ebene ernannte der Präsident einen «Botschafter für jüdische Angelegenheiten»: dieser Historiker handelt kraft eines Erlasses des Präsidenten, der besagt, dass eine nationale Arbeitsgruppe gebildet wird, um ein Programm zum Studium der Schoah in Litauen zu entwickeln. Die Plattform dieses Ausschusses umfasst ca. hundert Projekte, die sich mit allen Aspekten des sozialen und kulturellen Lebens des Landes befassen: eigentliche historische Nachforschungen, Erstellung eines Dokumentarfilms, Besuch von 25 Professoren in Yad Vaschem, wo sie an einem Spezialkurs zur Vermittlung der Schoah im Unterricht teilnehmen usw. Ein ähnliches Projekt existiert auch in Lettland.

Welches ist die Einstellung von Estland im Hinblick auf die Ermittlung der historischen Wahrheit der Schoah?

Die Präsidentschaft dieses Landes hat wie in den anderen baltischen Staaten eine internationale Historikerkommission zusammengestellt. In Lettland und Litauen haben diese Kommissionen Untergruppen ernannt, die im besonderen mit der Schoah beauftragt wurden und sie folglich wie eine gesonderte, einzigartige Erscheinung behandeln, was in Estland nicht der Fall ist. Hier betrachtet die Delegation die Zeitspanne der deutschen Besatzung von 1941-44 wie ein historisches Ereignis, ohne die Frage der Schoah speziell hervorzuheben. Da die allgemeine Untersuchung dieser geschichtlichen Epoche mehrere andere Phänomene umfasst, ist es als absolut inakzeptabel anzusehen, dass die Schoah auf dieselbe Stufe gestellt wird. In Lettland und Litauen wurden Experten aus Yad Vaschem eingeladen, an den Arbeiten teilzunehmen, darunter insbesondere Dr. Dov Levin und Dr. Itzchak Arad, was auf Estland nicht zutrifft, da hier die Schoah kein unabhängiges Thema darstellt.

Wie steht es um die Handelsbeziehungen?

Im Gegensatz zu den beiden anderen Ländern, die hauptsächlich Holz ausführen, ist Estland aus geografischen Gründen mehr auf Finnland ausgerichtet und beschäftigt sich daher aktiv mit Hochtechnologie und Telefonie.

Wie sehen Ihre Beziehungen zu den jüdischen Gemeinschaften in den verschiedenen baltischen Staaten aus?

Wir pflegen sehr enge Beziehungen mit allen Instanzen der Gemeinden. Was die Emigration nach Israel betrifft, besteht ein Potential von mehreren zehntausend Menschen, doch gegenwärtig muss die Situation als stagnierend bezeichnet werden, auch wenn uns die Jewish Agency seit Beginn des Frühjahrs einen Anstieg der Ausreisen aus Estland mitgeteilt hat; dies erstaunt uns, da diese Erscheinung durch keinerlei neue Gegebenheiten erklärt oder gerechtfertigt werden kann.

Zum Schluss noch eine persönliche Frage, wenn Sie gestatten. Sie müssen während ihren Reisen in diesen Ländern, in denen so viele jüdische Gemeinden gelebt haben und getötet wurden, auf emotionaler Ebene tief erschüttert sein. Wie verarbeiten Sie diese Situation?

Es ist wirklich nicht einfach, doch es ist mir gelungen, eine Art psychologische Schranke zu errichten. Man muss sich bewusst machen, dass ich auf einer Autofahrt von Riga nach Vilnius an zahlreichen Orten vorbeikomme, wie z.B. Ponevisch und Kovno, um nur die bekanntesten zu nennen, in denen jüdische Gemeinden existierten oder Massaker stattgefunden haben. Als Jüdin und Israelin wurde ich aber im Wissen um die Schoah erzogen, die seit meiner jüngsten Kindheit Teil meiner Umgebung und meines Alltags ist. Ich trage sie in mir und sie beeinflusst in jeder Minute meines Lebens mein Denken und Handeln in bezug auf meine Umwelt und auf mich. Es besteht kein Zweifel, dass jemand, der diesen psychologischen Schutzwall, von dem ich sprach, nicht errichten kann, auch nicht in der Lage ist, die Funktion eines israelischen Diplomaten in dieser Region auszuüben.

Contacts
Redaction: edition@shalom-magazine.com   |  Advertising: advert@shalom-magazine.com
Webmaster: webmaster@shalom-magazine.com

© S.A. 2004