News Neueste Ausgabe Befragung: Resultate Suchen Archiv Français English Русский עברית Español


Inhaltsangabe Antisemitismus Herbst 2000 - Tischri 5761

Editorial - Herbst 2000
    • Editorial

Rosch Haschanah 5761
    • Die Demut

Politik
    • Barak – Alles oder Nichts

Interview
    • Mosche Katsav Präsident!
    • Mein Leben für Israel

Reportage
    • Vor den Toren Libanons

Lettland
    • Jerusalem und die Baltischen Republiken
    • «Notke» - «Riga un Latvijas Virsrabins»
    • Juden in Riga
    • Riga – Gestern – Heute – Morgen
    • «Post Tenebras… Lux»
    • Das Zentrum für jüdische Studien
    • Versuch einer Selbstbiographie
    • Das Jüdische Museum in Riga

Schweden
    • Jerusalem und Stockholm
    • «Judiska Museet i Stockholm»

Antisemitismus
    • Hass im Internet
    • Sachsenhausen

Erziehung
    • Yemin Orde

Forschung und Wissenschaft
    • Maulwurfsratten – Weizen - Pilze

Wissenschaftliche Forschung
    • Pilze fürs Leben

Kunst und Kultur
    • Das Zentrum Für Jüdische Geschichte in Manhattan

Ethik und Judentum
    • Wohltätigkeit und Selbständigkeit

Artikel per E-mail senden...
Sachsenhausen

Von Roland S. Süssmann
Für die meisten von uns bedeutet der Begriff «Baracke 38» nichts. Viele andere jedoch beginnen schon nur bei der Erwähnung dieser Worte zu zittern. Wo befindet sich denn dieser unheilvolle Ort? Im Konzentrationslager Sachsenhausen, ungefähr 30 km von Berlin entfernt, in der Nähe der kleinen Stadt Oranienburg, die sich nach der Machtergreifung der Nazis stolz «SS-Stadt» nannte. Hier wurde von den SS in einer stillgelegten ehemaligen Brauerei das allererste Konzentrationslager geschaffen, das jedoch noch nicht als solches bezeichnet wurde; hier wurden politische Gegner gefoltert und umgebracht.
Die Baracken 37, 38 und 39 waren unter dem Namen «jüdische Baracken» von Sachsenhausen bekannt. Das Lager entstand 1936, nachdem Reichsführer Heinrich Himmler zum obersten Polizeichef ernannt worden war. Tausende von Juden wurden hier zusammengepfercht, bis zu 400 in den Schlafräumen, die eigentlich für 140 Menschen gedacht waren, bevor man sie tötete oder nach Auschwitz brachte. Heute wurde die «Baracke 38» in ein Museum verwandelt, doch die Verantwortlichen dieser Gedenkstätte lehnen es ab, dass hier ein Gebetshaus oder ein ausdrücklich jüdischer Ort der Besinnung errichtet wird. Sie ignorieren völlig die Tatsache, dass Tausende von Juden hier als Märtyrer gelitten haben und unter unbeschreiblichen und unmenschlichen Umständen gestorben, ja verreckt sind, die Worte «Schema Israel» auf den Lippen. In einem Gespräch erklärte uns Dr. Günter Morsch, Kurator und Direktor sämtlicher «Brandenburgischen Gedenkstätten», zu denen auch das Lager Sachsenhausen, das entsetzliche Frauenlager Ravensbrück und das Museum des Todesmarsches gehört, dass das Lager heute in erster Linie ein grosser Friedhof und ein Zentrum des Lernens über die Vergangenheit ist, und dass folglich ein jüdischer Ort der Einkehr weder angebracht noch berechtigt wäre… Nach seiner Aussage wurde das Thema auch innerhalb der Stiftung heftig diskutiert und man kam zum Schluss, dass «es falsch wäre, Erinnerung, Information und religiöses Empfinden miteinander zu vermischen»….
Es mag daher nicht erstaunen, dass eine mit dieser Einstellung verwaltete Gedenkstätte zur Zielscheibe von Neonazis wird. l992 wurde nämlich die «Baracke 38» von einem Nazi-Anhänger, in der offiziellen Version «in angetrunkenem Zustand», angezündet; man baute sie danach wieder auf, wobei die Spuren des Brandes an den Wänden und Türen bewusst nicht entfernt wurden. Heute werden also an diesem Ausstellungs- und Informationsort über den Alltag der Juden im Lager und die Verbrechen der Deutschen, deren Enkel die Schoah zum Teil immer noch leugnen, zwei Elemente miteinander verbunden: die Schuld der damaligen Deutschen und die von ihren Enkeln heute verkohlten Mauern. Dem kann man den klaren Hinweis entnehmen, dass letztere bereit sind, die Taten ihrer Grosseltern zu wiederholen. Ausserdem kommt es nicht selten vor, auch wenn die deutsche Presse dies verschweigt, dass die Menschen, die Sachsenhausen besuchen möchten, am Eingang des Lagers von Neonazis verbal belästigt werden. Es kommt nicht von ungefähr, dass dieser Ort sorgfältig beobachtet wird und dass eine diskrete Überwachung (überall wurden Kameras installiert) eingerichtet wurde.
Das Lager wurde im Sommer 1936 von Gefangenen nach Plänen gebaut, die von SS-Architekten entworfen wurden. Es sollte als Vorlage für den Bau aller anderen Lager dienen. Sachsenhausen war nicht nur ein vorbildliches Lager, in diesem Lager wurden auch die besten Elemente ausgebildet und selektioniert, die deutschen Folterer und Verbrecher, die in allen Konzentrations- und Vernichtungslagern im gesamten Dritten Reich eingesetzt werden würden.
Als ich auf dem Kommandoturm am Eingang des Lagers stand, erklärte mir mein Führer, ein junger, blonder Preusse, dass man von hier aus «praktisch alle Bewegungen des Lagers mit einem einzigen Maschinengewehr kontrollieren konnte!».
Zwischen 1936 und 1945 waren über 200’000 Menschen in Sachsenhausen interniert. Zehntausende von ihnen starben aus Hunger, infolge von Krankheiten und schlechter Behandlung oder sie fielen systematischen Vernichtungsoperationen der Deutschen zu Opfer. Diese wurde auf unterschiedliche Weise durchgeführt. Die Häftlinge wurden zur Station «Z» geführt: dieser Buchstabe bezeichnete den Ort, den man zuletzt aufsuchte, während der Lagereingang mit dem Buchstaben «A» versehen war. Die Station «Z» umfasste die «Genickschussanlage», eine Gaskammer und einen Verbrennungsofen. In der «Genickschussanlage» wurde der Gefangene gegen eine Wand gestellt, um – so die offizielle Version – gemessen zu werden. Sobald er richtig stand, wurde ihm von einer unsichtbaren Hand durch eine kleine Öffnung in der Mauer eine Kugel in den Nacken geschossen. Die Leiche des Ermordeten wurde daraufhin sofort in den Verbrennungsofen geschafft, der nur wenige Meter entfernt lag. Die Gaskammer, die sich an derselben Stelle befand, diente als Experimentierlabor für den Tod durch Gas. Hier wurde Zyklon A, das Flüssiggas, ausprobiert und bald darauf verworfen, da die Opfer zu langsam starben…
Heute ist von der berüchtigten Station «Z» nichts mehr zu sehen. Die Kommunisten haben die «Genickschussanlage», den Verbrennungsofen und die Gaskammer abbrechen lassen. Es blieben nur einige Reste übrig, überdeckt von einem Baldachin aus Beton… dieser Ort der Besinnung ist von Stacheldraht umgeben, an dem sich die Blumen häufen, wie ein Strom von Tränen.
Als das Lager Ende April 1945 evakuiert wurde, starben Tausende von Gefangenen im Verlauf der Todesmärsche. Schliesslich wurde das Lager von der Roten Armee befreit, die dort 3’000 todkranke Menschen sowie einige Ärzte und Krankenpfleger vorfand.
Ein Besuch in Sachsenhausen ist besonders eindrücklich, weil man die wissenschaftliche, geometrische, kalkulierte und bewusste Dimension des von den Deutschen ersonnenen Grauens erahnen kann. Der nationalsozialistische Terror hat diese Erde mit dem Blut von vielen zehntausend Männern, Frauen und Kindern getränkt. Nach dem Krieg verwendeten die Sowjetrussen die bestehende Infrastruktur, um ein Speziallager einzurichten, in dem zwischen 1945 und 1946 12’000 Personen infolge von Hunger und Krankheiten starben. Das Massengrab mit diesen Leichen wurde erst nach der Wiedervereinigung Deutschlands entdeckt.
Bei einer Besichtigung von Sachsenhausen wird einem auch die wirtschaftliche Dimension des Verbrechens bewusst, der eigentliche Raubmord, der Bestandteil der Schoah war. Neben allen antisemitischen und rassistischen Überlegungen stellte die Ermordung von sechs Millionen Juden in Europa ein Verbrechen dar, dessen Ziel auch darin bestand, den Opfern ihre armselige Habe zu entreissen, die Elemente der Gesellschaft auszumerzen, die als unproduktiv oder störend galten, und gleichzeitig das Wohlergehen und den Wohlstand der Mitglieder der höheren Rasse und ihrer Nachkommen zu sichern, die in zahlreichen Fällen noch heute davon profitieren. Die Motivation ist natürlich für die Opfer der begangenen Greuel, für die übrigbleibenden Familien, für die verstümmelten und für den Rest ihres Lebens gezeichneten Männer und Frauen ohne Bedeutung.
Der Eingang des Lagers wird durch ein Gitter geschlossen, auf dem die Worte «Arbeit macht frei» stehen. Zwischen 1936 und 1939 zählten vor allem politische Gegner zu den Insassen. Erst nach der Kristallnacht, dem Pogrom vom 9. November 1938, kamen auch die Juden, Zigeuner, Homosexuellen und all jene ins KZ, die in den Augen der Deutschen von biologisch minderwertiger Konstitution waren. Sie stammten aus ganz Europa und sollten die Realität von Sachsenhausen entdecken. Je mehr Länder die Nazis besetzten, desto mehr Gefangene trafen hier ein; Tausende wurden hier zu Zwangsarbeit ausgenutzt und fanden den Tod. Jede Einzelheit des Lagers beweist, wie kalt und berechnend alles auf den Profit ausgerichtet wurde. Es gab beispielsweise Zonen, deren Böden aus unterschiedlichem Material bestand: Schlamm, Kies, Steine usw. Die Gefangenen mussten den ganzen Tag auf dieser Unterlage rennen, um Sohlen für die Armee zu testen. Man kann sich diese Tortur leicht vorstellen.
In der «Baracke 38», die heute in ein Museum verwandelt wurde, liegen in einer Vitrine zerrissene Lederstücke. Die Deutschen wussten, dass die Häftlinge kleine Wertgegenstände in den Sohlen ihrer Schuhe, im Futter ihrer Kleider oder im Gürtel versteckten. Eine ganze Gruppe von Gefangenen wurde damit beauftragt, die Lumpen der anderen Häftlinge auseinanderzureissen, um eventuell versteckte Schätze zu finden, dann wurde eine Wiederverwertungsfabrik geschaffen, damit jeder gestohlene Gegenstand wieder verwendet werden konnte.
Im Lager gab es auch eine angeschlossenen Abteilung, in der diejenigen lebten, die zu einem Arbeitskommando namens «Klinkerwerk» gehörten. Diese Abteilung für Disziplinarfälle war für die «gefährlichen, rassisch oder biologisch minderwertigen Elemente» bestimmt, d.h. vor allem Juden, Sinti, Roma, Homosexuelle und Zeugen Jehovas, die ihre Gefangenschaft nicht überleben sollten. Durch harte und gefährliche Arbeit bei jeder Witterung, unzureichende Ernährung, mangelhafte Kleidung und Hygiene, speziell grausame Strafen sowie ständige Quälereien und Schikanen wurden die Gefangenen schnell aufgerieben. Der Bericht eines Überlebenden, Arnold Weiss-Rüthel, beschreibt deutlich, wie es im Klinkerwerk zuging: «… alles erfolgte im Laufschritt, alle mussten ständig rennen, ob sie beladen waren oder nicht. Die Gruppenleiter brüllten uns an und schlugen mit grossen Holzknüppeln auf die Gefangenen, die nicht schnell genug rannten. Die Männer brachen unter dem Gewicht der Eisenstangen zusammen und erhoben sich stöhnend unter ihrer Last.» Neben den Werkstätten besass das Klinkerwerk auch einen anderen Arbeitsbereich, die Trockenlegung eines Sumpfes, wo die Männer aus Erschöpfung starben oder ertranken, wenn sie nicht von ihren Wärtern ermordet wurden. Es gab keinen einzigen Überlebenden.
Obwohl wir uns als Juden zunächst für die jüdischen Baracken interessiert haben, informiert uns der weitere Verlauf des Besuchs über die Ausmasse des Lagers und die Schrecken, die sich hier täglich abspielten und ganz systematisch eingeteilt, berechnet und organisiert wurden.
Nach der Besichtigung der «Baracke 38» gelangt man in den Kerker. Diese Reihe von Zellen, das «Lagergefängnis», verkörpert das Grauen im Grauen. Eine säuberlich zusammengestellte Ausstellung zeigt hier in jeder einzelnen Zelle Dokumente, Zeichnungen, Erklärungen zu allem, was sich damals hier abspielte, und zum Schicksal einiger Häftlinge. In diesen Zellen wurden die Gefangenen systematisch gefoltert. In einigen Fällen durften die jüdischen Gefangenen Abschiedsbriefe an ihre Familien schreiben, bevor sie nach Osten gebracht wurden, d.h. nach Auschwitz. Sobald sie abgereist waren, wurden die Briefe vernichtet.
Bei jedem Schritt ahnt man, welche Qualen die Insassen wohl erlitten haben, doch nichts lässt einen derart erschauern wie die ärztliche Baracke, deren vielsagende Beschriftung «Pathologie» lautet und in der auch die Krankenstation des Kerkers untergebracht war, wo die verletzten Gefangenen von der Gestapo verhört und erst danach gepflegt wurden.
Gleich beim Eingang befindet sich ein kleines Büro, in dem der Chefarzt seine «Patienten» empfing. Der darauffolgende Raum, der «Seziersaal», enthält zwei Autopsie-Tische, an denen die Nazi-Ärzte ihre pseudomedizinischen Experimente durchführten. Auffallend ist die Tatsache, dass alle sogenannten medizinischen Instrumente zum Zweck der Ausstellung in Glasvitrinen ausgelegt sind… als ob alles sofort wieder funktionsbereit sein könnte. Man schliesst die Besichtigung dieser Baracke ab, indem man in die Leichenhalle, einen eiskalten Keller, hinabsteigt, wo die Toten aufgehäuft wurden; heute zieren ihn riesige Fotografien von verstümmelten Leichen!
Für einen normalen Besucher endet hier der Rundgang, nicht jedoch für einen Journalisten. Ich wurde an den Sitz der Verwaltung der Stiftung «Brandenburgische Gedenkstätten» eingeladen, der sich in einem riesigen Gebäude befindet, dem Ort, der die sogenannte Lagerinspektion beherbergte. Von hier aus wurden sämtliche Vernichtungslager verwaltet. Die gesamte Logistik, die Verwendung des Gases, die Zugbewegungen usw., alles wurde in diesen Räumen, die heute sauber und modern wirken, zentralisiert und von hier aus dirigiert… In diesem Gebäude, so spürt man, nimmt der industrielle Massstab der Ermordung von sechs Millionen jüdischen Männern, Frauen und Kindern konkrete Formen an. Eine kleine ständige Ausstellung soll an diese Ereignisse erinnern.
Wie alle Konzentrationslager muss Sachsenhausen unbedingt besucht werden, denn wenn wir, die Juden, es nicht tun, wer dann?


Contacts
Redaction: edition@shalom-magazine.com   |  Advertising: advert@shalom-magazine.com
Webmaster: webmaster@shalom-magazine.com

© S.A. 2004