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Inhaltsangabe Lettland Herbst 2000 - Tischri 5761

Editorial - Herbst 2000
    • Editorial

Rosch Haschanah 5761
    • Die Demut

Politik
    • Barak – Alles oder Nichts

Interview
    • Mosche Katsav Präsident!
    • Mein Leben für Israel

Reportage
    • Vor den Toren Libanons

Lettland
    • Jerusalem und die Baltischen Republiken
    • «Notke» - «Riga un Latvijas Virsrabins»
    • Juden in Riga
    • Riga – Gestern – Heute – Morgen
    • «Post Tenebras… Lux»
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Wissenschaftliche Forschung
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Juden in Riga

Von Roland S. Süssmann
Im Verlauf unserer Reise durch die jüdische Welt haben wir für die vorliegende Ausgabe von SHALOM in Riga in Lettland Halt gemacht. Die jüdische Gemeinschaft dieses baltischen Staates befindet sich heute fast ausschliesslich in Riga. Im Gemeindezentrum, das sich in den Räumlichkeiten eines ehemaligen jüdischen Theaters befindet, das der Gemeinde zurückerstattet und in ein Mehrzweckgebäude umgewandelt wurde (jüdisches Museum, Büros des Sozialdienstes, Gemeindeverwaltung, Konferenz- und Festsaal usw.), sind wir GREGORY KRUPNIKOV begegnet, dem Präsidenten der jüdischen Gemeinschaft Lettlands.

Können Sie uns ganz knapp und möglichst klar die Situation Ihrer Gemeinde schildern, die sich mitten in einer Umwälzung zu befinden scheint?

Ich glaube behaupten zu können, dass die Probleme unserer Gemeinschaft sich nicht sehr von denjenigen anderer jüdischer Gemeinden im Europa des Jahres 2000 unterscheiden. Wir werden jedoch mit einigen Fragen konfrontiert, die für uns typisch sind. Da wir aus dem sowjetischen Reich erlöst sind, treten in unseren Kreisen sehr viele soziale Fälle auf. Es gibt viele Rentner, Veteranen aus dem Zweiten Weltkrieg, Überlebende aus dem Ghetto und Menschen, die in die Gulags von Stalin verschleppt worden waren. Da diese Deportationen eine Woche vor der Invasion durch die deutschen Nazis stattgefunden haben, schätzen diese Leute, «Glück gehabt» zu haben, denn der Gulag sei letztendlich besser gewesen als Auschwitz… (Dies fasst die Geschichte des Leidens der jüdischen Gemeinschaft Europas im 20. Jhd. lakonisch zusammen).

Seit wann besteht Ihre Gemeinschaft in ihrer modernen Struktur, und wie setzt sie sich zusammen?

Wir sind seit zwölf Jahren in der aktuellen Form organisiert und bilden eine Art Föderation, die auch die Verbände der Veteranen aus dem 2. Weltkrieg, der Ghetto-Überlebenden, der politischen Deportierten und der ehemaligen Häftlinge der stalinistischen Gulags, sowie die Sozialhilfe, die Jugend, den Maccabi, das Kulturzentrum, das Spital, das Museum und das Dokumentationszentrum umfasst. Der Gemeindevorstand setzt sich aus je einem Vertreter dieser eben genannten institutionellen Organisationen zusammen, die einen offiziellen Status besitzen. Alle drei Jahre werden der Präsident und der Vizepräsident von der Generalversammlung ernannt. Darüber hinaus gibt es auch den lettischen Rat der jüdischen Gemeinden, wobei diese Dachorganisation auch die kleinen Ortschaften einschliesst und vertritt.

Wie überall in den osteuropäischen Staaten kann die effektive Zahl der Juden nur sehr schwer geschätzt werden. Wie ermitteln Sie die Zahl Ihrer Mitglieder?

Sie bitten mich, das bestgehütete Geheimnis unseres Landes zu verraten! In Wirklichkeit weiss kein Mensch, wie viele Juden in Lettland leben, denn wir haben noch nicht einmal festgelegt, wie sie erfasst werden sollen. Sollen wir sie gemäss der Halacha (jüdische Gesetzgebung), dem Eintrag im Pass, dem geltenden Rückkehrgesetz für die Einwanderung in Israel oder ganz einfach auf der Grundlage einer Erklärung akzeptieren, in der sie sich zum Judentum bekennen? Die Regeln unserer Gemeinschaft sehen vor, dass die Menschen aufgrund des israelischen Rückkehrgesetzes erfasst werden sollen… wir versuchen jedenfalls, es bei der Aufnahme der Kinder in die jüdische Schule anzuwenden. Was unsere Gemeinderegister angeht, so wurden sie gemäss dem Eintrag im Pass angelegt, da das Judentum in der ehemaligen UdSSR wie auch anderswo im früheren Zarenreich nicht als Religion galt, sondern als Staatsangehörigkeit. Wir wissen, dass in Lettland zehn- bis elftausend Menschen den Vermerk «Jude» in ihrem Pass tragen. Wenn wir jedoch eine Zählung auf der Grundlage des israelischen Rückkehrgesetzes durchführen, würden wir bestimmt bei ca. fünfzigtausend Juden liegen.

Ist das nicht eine einfache Hochrechnung ?

Möglicherweise, doch ich möchte dazu ein Beispiel anführen, das die gegenwärtige Situation sehr gut veranschaulicht und nur eines von hunderten ist. Vor kurzem wurde ich von einem Mann auf der Strasse angehalten, der mir seine Visitenkarte gab und mich um ein Gespräch bat. Er trug einen typisch lettischen Namen und sprach Lettisch, während die meisten Juden Russisch sprechen. Im Verlauf unserer Begegnung sagte er zu mir: «Ich habe unlängst einen Familienbesitz in der Stadt Greiva (aus welcher der erste aschkenasische Grossrabbiner von Eretz Israel, Raw Awraham Itzchak Kook Ha-Cohen, stammte) zurückerlangt. Ich habe erfahren, dass das Grundstück neben dem meinen eigentlich der jüdischen Gemeinschaft gehört, dass sich aber niemand darum kümmert. Ich wollte Sie nur darauf aufmerksam machen.» Ich fragte ihn, warum er diesen Schritt unternommen habe, der ihm doch nichts einbringen würde, und er antwortete: «Mein Grossvater war Jude, und im Jahr 1907 war er Abgeordneter der Provinz Kurland, die sich im Osten Lettlands befindet, in der russischen Duma.» Er zeigte mir ein Buch, in dem die Erinnerungen seines Grossvaters während seiner Zeit als Abgeordneter aufgezeichnet worden waren. Gemäss dem israelischen Rückkehrgesetz ist dieser Mann ein Jude, gemäss den anderen Kriterien ist er es jedoch nicht.

Wie steht es um die gemischten Ehen?

Ihr Anteil erreicht ungefähr 65%, immer in Anbetracht des eben erwähnten Problems in bezug auf die jüdische Identität.

Sie haben die Last der sozialen Ausgaben erwähnt, die Ihre Gemeinde zu tragen hat. Welchen praktischen Probleme müssen in erster Linie gelöst werden?

Auf finanzieller Ebene werden wir von der Claims Conference, dem Joint Distribution Committee, dem Swedish Baltic Forum (ehemals Schwedischer Ausschuss für die Juden der UdSSR) unterstützt. Wir haben ein Ernährungsprogramm ausgearbeitet, das die Bedürfnisse von 2000 Menschen erfüllt, die in verschiedene Kategorien eingeteilt wurden: den einen wird die Nahrung nach Hause geliefert, die anderen kommen in unsere Verteilstellen usw. Unsere Mahlzeiten sind nicht koscher, enthalten aber auch kein Schweinefleisch. Dazu kommen finanzielle Mittel, damit die Leute ihre Zahnarzt- oder Heizrechnung bezahlen können, da die lettischen Winter sehr hart sind.

Wie würden Sie den Antisemitismus heute in Lettland beurteilen?

Er ist nicht schlimmer als im übrigen Europa. Unsere Beziehungen zu den Behörden sind ausgezeichnet, und ich war selbst Mitglied des Stadtrates. Selbstverständlich gibt es keinen staatlichen Antisemitismus. Die in der sowjetischen Epoche gegründete jüdische Schule ist immer noch öffentlich. Es existieren einige rechtsradikale Gruppen und im Parlament ist sogar eine Partei dieser Ausrichtung vertreten, die «Freiheitspartei», die jedoch mehr nationalistisch als antisemitisch ist. Sie behauptet von sich, die lettische Sprache zu fördern, denn es ist eine Tatsache, dass die grosse Mehrheit der Juden Russisch spricht. Als 1999 ein Attentat gegen die Synagoge verübt wurde, bei dem zum Glück niemand verletzt wurde, haben innerhalb von zwanzig Minuten nach der Entdeckung des Terroraktes sowohl der Premierminister, als auch der Präsident, der Aussenminister und Dutzende von führenden Persönlichkeiten der jüdischen Gemeinschaft ihre Freundschaft ausgedrückt. Da das Attentat am Sonntag vor Pessach stattgefunden hatte, schickte die Stadt noch am selben Tag Arbeiter an den Ort des Geschehens, damit die Synagoge am Festtag wieder benutzt werden konnte.

Welches ist Ihre grösste Sorge?

Mein wichtigstes Anliegen ist die Gewinnung von Mitgliedern für die Gemeinschaft. Ich denke dabei insbesondere an diejenigen, die ich die «verlorene Generation» nennen möchte, die Altersgruppe zwischen 25 und 45 Jahren, die keinerlei jüdische Erziehung genossen haben und deren Hauptsorge heute darin besteht, ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Es handelt sich um eine aus Geschäftsleuten und Angestellten bestehende Gruppe, die wir nur mit Mühe für das jüdische Leben und die Angelegenheiten der Gemeinschaft interessieren können. Dies ist viel einfacher bei den älteren Menschen und der Jugend. Wir verfügen aber über mehrere Programme mit Aktivitäten, um das jüdische Leben zu fördern.

Was gibt es zur Jugend zu sagen?

Sie stellt eine meiner grössten Sorgen dar. Nehmen wir beispielsweise die jüdische Schule, die vor ca. zwölf Jahren gegründet wurde. Man muss sich bewusst sein, dass man sich damals für alles begeisterte, was irgendwie jüdisch war. Das Eintreffen eines neuen israelischen Konsuls, ein jüdischer Vortrag oder eine Feierlichkeit, jede Art von Anlass wurde von zahlreichen Menschen besucht. Dies galt auch für die jüdische Schule, wir rechneten mit 150 Schülern bei der Eröffnung, 300 Namen standen auf unseren Listen. Die Leute hungerten nach «Jüdischkeit» (Yiddischkeit). Heute sieht sie Situation anders aus. Die Leute verlangen Qualität und die Tatsache allein, dass die Schule oder eine Aktivität jüdisch sind, reicht nicht mehr aus. Hier schneiden wir ein grundlegendes Problem an, das in den Verantwortungsbereich der jüdischen Gesellschaft Westeuropas fällt. Man muss sich klar machen, dass wir zwanzig Jahre lang, d.h. seit dem Sechstagekrieg bis zum Fall der Berliner Mauer, hier Gesandte empfingen, die uns sagten: «Wir sind Brüder, vereint und füreinander verantwortlich.» Als wir aber 1990 endlich befreit wurden und die jüdische Gesellschaft des Westens uns ihre Solidarität, vor allem auf finanzieller Ebene, hätte beweisen können, hat sie uns fallen lassen, wenn nicht gar verraten. Heute werden unsere jüdischen Lehrpläne von staatlichen Lehrern unterrichtet, die ihr Möglichstes tun, und unsere Sozialdienste wurden auf ein Minimum reduziert. Es gibt zahlreiche ähnliche Beispiele, und die Unzufriedenheit ist gross.

Wie sehen Sie die Zukunft Ihrer Gemeinschaft?

Unsere Zukunft hängt in hohem Ausmass von einer Entwicklung ab, die weder jüdisch noch lettisch ist, sondern russisch! Sollte Russland innenpolitische Unruhen erleben oder die Einführung einer streng zentralistischen Verwaltung, wird dies die lettischen Juden verschrecken und eine Auswanderungswelle ist nicht auszuschliessen. Meiner Ansicht nach können wir unsere Sicherheit nur garantieren, wenn Lettland in Europa und die NATO integriert wird. Ich habe übrigens eine nichtstaatliche Organisation gegründet, welche sich sehr aktiv für diese Idee einsetzt.
Zum Schluss möchte ich sagen, dass ich im Hinblick auf die Zukunft unserer Gemeinschaft weiterhin zuversichtlich bin… auch wenn eine gewisse Vorsicht angesagt ist.


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