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Inhaltsangabe Ethik und Judentum Herbst 2000 - Tischri 5761

Editorial - Herbst 2000
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Rosch Haschanah 5761
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Wohltätigkeit und Selbständigkeit

Von Rabbiner Shabtaï A. Rappoport *
K. geht auf die Fünfzig zu und bezog bis vor kurzem ein recht hohes Gehalt, mit dem er seiner Familie ein angenehmes Leben auf Mittelklasseniveau ermöglichen konnte. Er schickte seinen Sohn zur Ausbildung an eine Jeschiwah, doch dieser zeigte keine besondere Begabung für das Studium der Torah. Er versuchte es danach mit einer akademischen Laufbahn, doch war auch damit nicht erfolgreicher. Nach der Hochzeit seines Sohnes unterstützte K. ihn und seine Familie weiterhin, da der junge Mann es in keinem Beruf längere Zeit aushielt. Trotz der mangelnden Initiative seines Sohnes oder vielleicht gerade deswegen, empfand sich K. aufgrund seiner besonderen Pflichten als Vater und seiner allgemeinen Verpflichtung zur Wohltätigkeit als dazu gezwungen, seinem Sohn und dessen Familie einen ähnlichen Lebensstandard zu sichern, wie sie ihn bereits gewohnt waren.
Diese Verantwortung wurde zu einer immer stärkeren Belastung für K., der eigentlich etwas weniger arbeiten und mehr Zeit damit verbringen möchte, sein Wissen zu erweitern. Wenn er aber das aufrechterhalten will, was in seinen Augen einem anständigen Lebensstandard für sich und seine Familie entspricht, muss er entweder weiterhin ganztags oder gar mehr arbeiten oder darauf verzichten, seinen Sohn zu unterstützen. Das Gefühl, dass er durch den Verzicht auf die Unterstützung des Sohnes diesem langfristig einen grösseren Nutzen erweist, macht das Dilemma für K. nicht einfacher. Andererseits ist er davon überzeugt, dass dies unethisch wäre und dem Bild widersprechen würde, das er sich von sich selbst als pflichtbewussten Vater und Grossvater macht.
Mehrere biblische Gebote befassen sich mit der Pflicht, anderen zu helfen und sie zu unterstützen. Es scheint logisch, dass alle, da sie dieselbe grundlegende Idee der Wohltätigkeit teilen, dieselben elementaren Regeln befolgen sollten. Eines dieser Gebote fordert uns auf, jemandem eine helfende Hand darzubieten, dessen Lasttier gefallen ist und nur dann weitergehen kann, wenn es zunächst von seiner Last befreit und diese dann neu verteilt wird. «Wenn du den Esel deines Widersachers unter seiner Last liegen siehst, so lass ihn ja nicht im Stich, sondern hilf mit ihm zusammen dem Tiere auf.» (Exodus 23,5). Im Talmud heisst es (Baba Metzia 32.a): «Es steht geschrieben ‘du sollst ihm helfen’; wenn er aber hingeht, sich niedersetzt und [zum Vorbeigehenden] sagt ‘da die Pflicht dir obliegt, wenn du abladen möchtest, so tu es’, so ist er [der Vorbeigehende] nicht zur Hilfe verpflichtet, denn es heisst ‘mit ihm’. Handelt es sich aber bei jenem [dem Besitzer] um einen alten Mann oder Krüppel, muss er es [allein] tun.»
Daraus lässt sich ableiten, dass man, wenn jemand Hilfe braucht, diesem nur helfen muss, wenn er sich ebenfalls dabei beteiligt und sich selbst hilft, ausser wenn der andere sich in einem (physischen oder geistigen) Zustand befindet, der es ihm unmöglich macht. Wird dieser Grundsatz auf die Wohltätigkeit angewendet, so bedeutet er, dass man nur einen Menschen unterstützen sollte, der entweder sein Bestes tut, um sich und seine Familie durchzubringen, oder aber nicht dazu in der Lage ist.
Der Talmud (Ketuboth 49,b) zitiert einen Beschluss der Rabbinersynode von Uscha (nach den Kriegen von Bar Kochba), als bestimmt wurde, dass ein Mann seine Söhne und Töchter versorgen muss, solange diese jung sind (Raschi kommentiert dazu, dass «jung» die Zeit vor der Pubertät bezeichnet – dreizehn Jahre bei Jungen und zwölf Jahre bei Mädchen. Dabei handelte es sich früher um das Alter, in dem die Mädchen heirateten und die Jungen zu arbeiten begannen. Es könnte angemerkt werden, dass heute dieses Alter um einiges erhöht werden sollte.) Weiter wird untersucht, ob das Gesetz mit dieser Bestimmung übereinstimmt oder nicht. Die Schlussfolgerung lautet, dass es keinerlei gesetzliche Verpflichtung gibt, jüngere Kinder zu unterhalten – es gibt nur eine moralische Verpflichtung dazu, die sich in nichts von einer anderen dringend erforderlichen Wohltätigkeit unterscheidet. Diese Regel wurde jedoch nur für denjenigen festgehalten, der nicht reich ist; handelt es sich aber um einen wohlhabenden Man, kann er sogar gegen seinen Willen dazu gezwungen werden, seine minderjährigen Kinder zu ernähren. Jeder Mensch – ob reich oder arm – ist gesetzlich dazu verpflichtet, seine Kinder zu unterhalten, wenn diese noch sehr klein sind, d.h. bis ins Alter von sechs Jahren (Ketuboth 65,b).
Maimonides (Ehegesetze XIII,6) legt fest, dass ein Mensch den Lebensunterhalt für seine Kinder unter sechs Jahren bestreiten muss, und dass sich diese Pflicht von derjenigen unterscheidet, seine Frau zu unterhalten. Der Lebensunterhalt für die Frau muss dem Niveau entsprechen, an das sie aus ihrer Familie gewöhnt war, oder aber demjenigen in der Familie des Mannes – dem höheren Lebensstandard von beiden. Der obligatorische Lebensunterhalt für ein Kind bezieht sich hingegen auf ein elementares Niveau.
Daraus kann man ableiten, dass die elterliche Verpflichtung zum Unterhalt der Kinder eine klare Weisung enthält: der Sohn muss lernen, für sich selbst aufzukommen. Die Unterhaltszahlungen für die Frau sollten ihr langfristig eine angenehme Situation sichern. Der Unterhalt für die Kinder enthält jedoch die Botschaft, dass es sich nur um vorübergehende Unterstützung handelt und dem Kind nicht langfristig ein angenehmes Leben bieten soll, ohne den Anreiz zur Selbständigkeit. Das Kind soll vielmehr dabei unterstützt werden, behütet aufzuwachsen; aus diesem Grund müssen nur die grundlegenden Bedürfnisse erfüllt werden.
Maimonides legt überdies fest (Gesetze über Geschenke an die Armen X,16): Jemand, der für den Lebensunterhalt seiner älteren Kinder sorgt, zu deren Unterstützung er nicht verpflichtet ist, um seine Söhne die Torah zu lehren und seine Töchter auf den rechten Weg zu bringen und sie vor der Verachtung der Leute zu schützen (weil sie von zu Hause fortgehen müssten, um zu arbeiten, was für Frauen als unschicklich galt...), der wird als jemand angesehen, der Wohltätigkeit übt. Diese Wohltätigkeit ist äusserst wichtig, da die nächststehenden Verwandten in der Wohltätigkeit den Vorrang besitzen vor anderen Bedürftigen. Derjenige, der die Armen und die Waisen an seinem Tisch mit Essen und Trinken versorgt, der betet zu G’tt und er erhält Antwort und wird sich seines Lebens erfreuen...
Diese letztgenannte Regel von Maimonides ist auch für Kinder gültig, welche die Pubertät bereits hinter sich haben, da die Regel keine Altersbegrenzung enthält. Man sollte sich vielmehr fragen, weshalb Maimonides in dieser Regel den Beweggrund des Vaters für die Unterstützung seiner Kinder damit angab, seine Söhne die Torah zu lehren und seine Töchter auf den rechten Weg zu bringen. An keiner anderen Stelle in diesen Gesetzen weist er auf einen solchen Beweggrund hin, auch nicht in denjenigen über die armen Leute und Waisen. Schliesslich bedarf die Wohltätigkeit zugunsten der Armen keiner Erklärung.
Die Antwort scheint darin zu bestehen, dass die Unterstützung eines Sohnes oder einer Tochter in einem Alter, in dem sie sich selbst ernähren könnten, weder eine väterliche Pflicht noch Wohltätigkeit darstellt, da niemand dazu verpflichtet ist, ein Lasttier von seiner Last zu befreien, wenn sein Besitzer dabei nicht mithelfen will. Nur die Unterstützung eines Sohnes, der die Fähigkeit und Begabung besitzt, die Torah zu studieren, stellt einen Akt der Wohltätigkeit dar.
Die bekannte Koryphäe aus dem fünfzehnten Jahrhundert, Rabbi Schmuel Di Modina, bestimmte (Schut Raschdam 166), dass man nicht dazu verpflichtet ist, einen armen Verwandten zu unterstützen, der keine Arbeit annimmt, um seinen eigenen Lebensunterhalt zu verdienen.
So kommt man zum Schluss, dass K. seinen Sohn dazu anhalten sollte, eine Arbeit zu finden und für sich selbst zu sorgen. Es besteht kein Grund dafür, ihn weiterhin zu unterstützen, noch dazu unter hohem persönlichem Opfer, da K. nicht in der Lage ist, seine eigene Arbeitszeit zu reduzieren, um sich selbst mit der Torah auseinanderzusetzen.

* Rabbiner Schabtaï Rappoport leitet die Yeschiwah «Schwut Israel» in Efrat (Gusch Etzion). Er hat vor kurzem die letzten beiden Bände der Responsen herausgegeben, die von Rabbiner Mosche Feinstein, s.A., geschrieben wurden. Er entwickelt gegenwärtig eine Datenbank, die alle aktuellen Themen der Halacha umfasst. Richten Sie Ihre Fragen oder Kommentare an folgende E-Mail-Adresse: shrap@zahav.net.il.

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