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Inhaltsangabe Kunst und Kultur Herbst 2000 - Tischri 5761

Editorial - Herbst 2000
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Rosch Haschanah 5761
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Politik
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Das Zentrum Für Jüdische Geschichte in Manhattan

Von Jennifer Breger *
In diesem Jahr ist an der 16. und 17. Strasse zwischen der Fifth Avenue und der Sixth Avenue in Manhattan das Zentrum für jüdische Geschichte eröffnet worden. Für die jüdische Kulturszene von New York war dies zweifellos ein überaus wichtiges Ereignis. Der Name allein der Institution ist äusserst begrüssenswert. Der Begriff Geschichte erfreut sich in der letzten Zeit nämlich keiner grossen Beliebtheit und die heutige Generation befasst sich fast ausschliesslich mit zeitgenössischen und brandaktuellen Themen. In einer Zeit, in der die Schüler Unterricht in Sozialkunde und nicht in Geschichte erhalten, in der die Schlüsselbegriffe im Diskurs der jüdischen Gemeinschaft die eher schwammigen und unklaren Worte «jüdische Kontinuität» und «jüdisches Erbe» sind, kommt es fast einer Neuerung gleich, den Begriff «jüdische Geschichte» im Namen einer so bedeutenden Institution einzuführen.
Das Zentrum fasst in Wirklichkeit mehrere Institutionen unter einem Dach zusammen, die seit langem getrennt funktionierten: das Museum der Yeshiva University, das YIVO Institute für jüdische Forschung, die Gesellschaft für jüdisch-amerikanische Geschichte und das Institut Leo Baeck. Der Verband der amerikanischen Sepharden hat ebenfalls eine Räumlichkeiten in diesem Gebäude bezogen und wird seine Tätigkeit im Bereich der Archivierung und Dokumentation ausdehnen. Das Ziel des Zentrums als Ganzes besteht darin, als eine Art «Library of Congress» und «Smithsonian Institute» des jüdischen Volkes zu fungieren. Durch ihren Zusammenschluss verfügen die verschiedenen Institutionen nun über die umfangreichsten jüdischen Archive ausserhalb Israels, mit über 100 Millionen Büchern, Manuskripten, Kunstwerken, Gegenständen und Dokumenten. Das Zentrum stellt den Partnern einen Hörsaal, Unterrichtszimmer, Lese-Ecken, Ausstellungsräume und technologische Hilfsmittel zur Verfügung, obwohl jede Institution weiterhin ihrer ganz spezifischen Aufgabe nachgeht.
Dem 1973 gegründeten Museum der Yeshiva University ist es immer gelungen, bemerkenswerte Ausstellungen zu organisieren, von denen mehrere in SHALOM vorgestellt wurden. Seine Möglichkeiten wurden jedoch durch seinen Standort auf dem Campus der Yeshiva in Washington Heights ziemlich eingeschränkt. Nach dem Einzug in die neuen Räumlichkeiten gibt die Direktorin des Museums, Sylvia Hershkowitz, ihrer Zufriedenheit Ausdruck: sie hat die feste Absicht, zusammen mit ihrem Team die Schätze des Museums noch mehr Menschen zugänglich und sie mit den 6’500 Gegenständen der Sammlung und ihrem kreativen Programm vertraut zu machen.
Die Gesellschaft für jüdisch-amerikanische Geschichte, 1892 gegründet, besitzt über 40 Millionen Dokumente und 30’000 Werke, die bis in die Epoche der mexikanischen Inquisition im 16. Jahrhundert zurückreichen. Die Institution war ursprünglich in New York angesiedelt und zog zu Beginn der 50er Jahre nach Massachussetts auf den Campus der Universität Brandeis. Sie war von deutschen Juden gegründet worden und sollte den Beitrag der amerikanischen Juden zugunsten ihres Vaterlandes und für den Kampf gegen die Vorurteile hervorheben, die durch das massive Eintreffen von Einwanderern aus Osteuropa aufkamen. Die Gesellschaft ist die Empfängerin zahlreicher Schenkungen von Nachkommen der ersten jüdischen Familien in Amerika und besitzt auch eine wunderbare Sammlung von Porträts jüdischer Kolonialherren, die bereits Gegenstand eines Artikels von SHALOM waren.
Das Institut YIVO, Yiddischer Vissenschaftlicher Institut,für jüdische Forschung befasst sich mit der Untersuchung des Judentums in Osteuropa vor der Schoah, richtet ihr Augenmerk aber vornehmlich auf die weltliche jüdische Kultur dieser Zeit. Es wurde 1925 in Vilnius (Vilna) gegründet und galt als «die jiddische Universität des jüdischen Volkes». Es besass Dokumente und Archive, in denen Hunderte von jüdischen Gemeinden in ganz Europa registriert waren. Das Institut von Vilna wurde während der Schoah zerstört, doch ein grosser Teil des Materials konnte gerettet werden; 1940 wurde es in New York City neu errichtet, wo bereits seit 1926 eine amerikanische Zweigstelle bestanden hatte. Während langer Jahre wurden die 22 Millionen Dokumente und 350’000 Bände an der prestigereichen Adresse an der Fifth Avenue in der Nähe des Central Park aufbewahrt, doch das Privathaus, in dem sie sich befanden, wurde mit der Zeit zu klein. Zahlreiche Dokumente aus Vilna, die man verloren geglaubt hatte, wurden erst 1989 entdeckt und nach New York gebracht. Das YIVO besitzt eine einmalige Sammlung von Fotografien, auf denen die jüdischen Gemeinschaften Osteuropas dargestellt sind, bewegende Bilder, die vom Alltag der Juden berichten.
Das Institut Leo Baeck, das 1955 in Jerusalem entstand, trägt den Namen des berühmten reformierten Rabbiners, der in Berlin geboren und 1943 nach Theresienstadt deportiert wurde, wo er seinen Leidensgenossen Trost und Beistand brachte. Diese Organisation sieht es als ihre Aufgabe, Berichte und Zeugnisse aus dem Leben der Juden in den deutschsprachigen Regionen seit dem 17. Jhd. bis zu seiner Zerstörung durch die Nazis zusammenzutragen. Die Tochtergesellschaft des Instituts Leo Baeck in New York besitzt über 60’000 Werke, bedeutende Zeitschriftensammlungen, zahlreiche Dokumente, eine Sammlung von Gemälden deutscher jüdischer Künstler wie Max Lieberman und Lesser Ury, sowie 30’000 Fotos. Mit der Zeit wurden auch die Räume dieses Instituts in einem eleganten Haus in der East Side zu eng.
Zum Zentrum gehört ferner der Verband der amerikanischen Sepharden: er existiert seit 1984 und dient als Koordinator und Dokumentationszentrum für die gesamte Gemeinschaft der Sepharden in Amerika. Obwohl sich der Verband nicht ausschliesslich mit der Erforschung der Vergangenheit befasst, möchte er eine grosse Bibliothek einrichten, die das schillernde Mosaik des sephardischen Kulturguts seit dem Goldenen Zeitalter in Spanien bis in die Gegenwart zusammenträgt und in der alle Länder mit einer sephardischen oder orientalischen Präsenz vertreten sein sollen.
Die fünf Organisationen weisen ganz unterschiedliche Ausrichtungen und Zielsetzungen auf, doch durch ihren Zusammenschluss werden sie für Forscher und breite Öffentlichkeit zu einer Dokumentationsquelle von unschätzbarem Wert. Die architektonische Struktur des Zentrums widerspiegelt die Einzigartigkeit und Verbundenheit der einzelnen Bausteine. Der Standort des Zentrums ist einmalig, es setzt sich aus vier alten und zwei neuen Gebäuden zusammen. Den Architekten ist es gelungen, die Häuser in unterschiedlichem Alter und unterschiedlicher Höhe zu einem harmonischen Ganzen zusammenzufügen. Die offizielle Eröffnung ist für Oktober 2000 vorgesehen, doch das Zentrum ist bereits in Betrieb und hat seine Tore für Besucher geöffnet.
Das Museum der Yeshiva University hat in der neuen Galerie schon eine erste Reihe von Ausstellungen veranstaltet. Die Hauptausstellung, die bis April 2001 dauern wird, trägt den Titel «Wichtige Schnittpunkte». Es handelt sich um eine Zusammenstellung der schönsten Stücke der Partnerinstitute des Zentrums, die thematisch und nicht chronologisch oder nach Institution präsentiert werden, was die kreative Symbiose der gemeinsamen Organisation vorwegnimmt. Zusammen mit einem Ausschuss von jüdischen Historikern hat der Kurator Gabriel Goldstein eine Ausstellung in drei Abteilungen entwickelt: «Exodus und Übergang», «Verwurzelung und Kontinuität» und «Überlieferung und Erneuerung». Sie stellt somit eine umfassende Einführung in die jüdische Geschichte und das kollektive jüdische Erleben dar.
Die Ausstellung beginnt mit einem herrlichen Manuskript aus der Sammlung der Yeshiva University: der Prager Bibel in drei Bänden aus dem Jahr 1489. Es handelt sich um die älteste hebräische Handschrift, die in Prag geschrieben und illuminiert wurde. Im Verlauf ihrer bewegten Geschichte gelangte sie in die Hände von Moses Mendelsohn, von Daniel Itzig, dem Hofjuden, und von Abraham Geiger, der reformierten Führerpersönlichkeit; danach gehörte sie zum Bestand der Bibliothek der «Hochschule für die Wissenschaften des Judentums» in Berlin. Unter den amerikanischen Objekten befinden sich einige bemerkenswerte Stücke, darunter der Brief, der 1818 von Thomas Jefferson an Mordechai Noah adressiert wurde. Diese herausragende jüdische Persönlichkeit Amerikas zu Beginn des 19. Jhds. hatte anlässlich der Einweihung des neuen Gebäudes für die Gemeinde Schearith Israël in New York eine Rede gehalten und hatte zahlreichen berühmten Amerikanern, u.a. auch Jefferson, eine Kopie davon zugeschickt. Dieser schrieb ihm daraufhin einen Brief, in dem er sich gegen den Antisemitismus wandte, der Kultusfreiheit als Grundlage der amerikanischen Demokratie seine Unterstützung zusicherte und die Erziehung als Waffe im Kampf gegen die religiösen Vorurteile pries. Die Ausstellung zeigt ebenfalls das Originalmanuskript des Gedichts aus der Feder von Emma Lazarus, «Der neue Koloss», das auf der Freiheitsstatue zu lesen ist.
Unter zahlreichen wunderschönen Stücken findet man einen Wimpel (Torah-Mantel), der aus einem Babyhemdchen entstanden ist. Dieser aus dem Jahr 1946 stammende Gegenstand wurde im Quartier Washington Heights in New York von den deutschen Juden hergestellt, die auf diese Weise eine alte Tradition aus dem 16. Jahrhundert fortsetzten. Der Wimpel ist mit modernen Motiven verziert – einem Kanapee aus dem Möbelgeschäft der Familie und einer Grapefruit mit einer Maraschinokirsche obendrauf. Mehrere Ausstellungsstücke erinnern an die Judenverfolgungen in verschiedenen Epochen, eines der Dokumente berichtet vom Prozess eines Juden 1478 – 79 in Trient, ein anderes von einem Inquisitionsprozess in Mexico-City. Eine Zusammenstellung von Wünschen zu Rosch Haschana ist besonders rührend: sie entstand 1941 im Ghetto von Lodz und enthält Kinderzeichnungen und die Unterschrift von 14’587 Schülern und 715 Lehrerinnen und Lehrern der Stadt. Im folgenden Jahr wurden die meisten dieser Kinder von den Nazis ins Vernichtungslager von Chelmno deportiert.
Dank den vom Zentrum zur Verfügung gestellten Räumlichkeiten kann das Museum der Yeshiva University verschiedene Ausstellungen gleichzeitig zeigen. Alle Eröffnungsausstellungen stehen im Zusammenhang mit der Bibel. In einer Ausstellung mit dem Titel «König David» werden die Gemälde des zeitgenössischen israelischen Malers Ivan Schwebel vorgestellt; die Figuren der biblischen Geschichte erscheinen auf dem Hintergrund der Wolkenkratzer der modernen Citys von Tel Aviv, Jerusalem und New York, wobei diese Zusammenstellung eine eindrückliche Wirkung erzeugt. Im Skulpturengarten kann der Besucher 15 Metallfiguren zum Thema der Tiere aus der Arche Noah bewundern; die Serie heisst «Noah ruft die Tiere zusammen» und ist das Werk von Manuel Bennett, einem amerikanischen, seit 1951 in Mexiko lebenden Künstler. Es gibt ebenfalls eine interaktive Ausstellung für Kinder über das Leben zur Zeit der Bibel, sie heisst «Vom Zelt zum Tempel: das Leben im Nahen Osten in alter Zeit». Anhand von Fragespielen und Puzzles entdecken die Kinder, wie die Menschen in biblischen Zeiten im Nahen Osten lebten, und sie lernen, archäologische Funde zu interpretieren.
Das Zentrum für jüdische Geschichte birgt ein enormes Potential. Man muss hoffen, dass jeder einzelne seiner Bestandteile Erfolg haben wird, ohne dabei seine Schätze aufzugeben und in seinem Engagement in der Forschung nachzulassen. Es besteht überdies kein Zweifel daran, dass die Partnerschaft und die Zusammenarbeit, vor allem im Zeitalter der Spitzentechnologie nicht nur allen Institutionen zugute kommen wird, sondern auch und vor allem der breiten Öffentlichkeit, die in diesem neuen Komplex ein aussergewöhnliches Dokumentations- und Informationszentrum erhält. Bei den Juden wird die Gegenwart und die Zukunft von der Vergangenheit bestimmt. Dank diesem Zentrum können sie über ein diffuses Gefühl der Nostalgie gegenüber der Welt unserer Mütter und Väter hinausgehen und handfeste Kenntnisse erwerben, die ihnen den ganzen Reichtum und die Vielfalt des jüdischen Kulturguts eröffnen werden, wie es in zahlreichen Gemeinschaften in der Vergangenheit erlebt wurde und heute noch gelebt wird.

*Jennifer Breger ist von Oxford und der Hebräischen Universität in Jerusalem diplomiert. Sie ist Spezialistin für jüdische Bücher und Manuskripte. Sie lebt heute in Washington.


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