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Inhaltsangabe Ungarn Herbst 2004 - Tischri 5765

Editorial - September 2004
    • Editorial [pdf]

Rosch Haschanah 5765
    • Selbstdisziplin – Respekt – Hoffnung [pdf]

Politik
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Interview
    • Antisemitismus in 3-D [pdf]
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Strategie
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Judäa-Samaria-Gaza
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Junge Leader
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Medizinische Forschung
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Shalom Tsedaka
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Medizin und Halachah
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Küchenrezept zu Rosch Haschanah
    • Guten Appetit [pdf]

Ungarn
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    • Ungarische Schuld [pdf]
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    • Die Mazsihisz [pdf]
    • Das Jüdische Museum Von Budapest [pdf]
    • Vorbild sein [pdf]
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    • Das Rabbinerseminar Von Budapest [pdf]

Ethik und Judentum
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Das gute Gedächtnis
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Rabbiner Tamás Verö. Foto: Bethsabée Süssmann

Von Roland S. Süssmann
Bei einer Reise durch die Länder Osteuropas wird man das Gefühl nicht los, sich ständig auf einem riesigen jüdischen Friedhof zu stehen. Jeder Ort und jede Strasse sind Zeugen einer jüdischen Geschichte, die an tragischen Ereignissen reicher war als an glücklichen Momenten. Doch auch wenn das Wissen um die Vergangenheit von grundlegender Bedeutung ist, darf man nicht vergessen, dass die Gegenwart und die Zukunftshoffnungen im Vordergrund stehen. In diesem Sinne haben wir ein Treffen mit Rabbi TAMÁS VERÖ vereinbart, einem jungen neologischen Geistlichen aus Budapest. Vor dem Gespräch über seine heutige Tätigkeit in Budapest drängt sich allerdings ein kurzer Rückblick auf seine Familiengeschichte auf.
Die aus einem kleinem Dorf in der ungarischen Provinz stammenden Grosseltern von Tamás waren zwar traditionalistisch, aber nicht fromm. Sie begingen die jüdischen Feiertage, aber assen nicht koscher und hielten den Schabbat nicht ein. Und doch waren es die Eltern des jungen Rabbiners, welche die allererste authentisch jüdische Hochzeit feierten, die nach dem Zweiten Weltkrieg im Jahr 1946 in Budapest stattfand. Sie haben überdies in der Synagoge geheiratet, in der ihr Sohn heute Rabbiner ist und wo er regelmässig Eheschliessungen vornimmt (rund zwanzig pro Jahr). Dazu muss man wissen, dass die Eltern und die Grossmutter von Tamás die einzigen Überlebenden der beiden Familien sind, aus denen 12 Menschen deportiert wurden. Seine Grossmutter wurde unter denselben Bedingungen versteckt wie auch Anne Frank, doch im Gegensatz zu ihr wurde jene nicht denunziert. Rabbi Ver?, aufgewachsen unter dem Joch des kommunistischen Regimes, erinnert sich an die Schwierigkeiten, mit denen seine Eltern konfrontiert waren. Da war zunächst seine Beschneidung, die unter strengster Geheimhaltung stattfand, mit nur einem Minyan (erforderliche Zahl von zehn Männern bei einer religiösen Zeremonie) von Eingeweihten. In diesem Jahr wurden übrigens in ganz Ungarn nur drei religiöse Beschneidungen durchgeführt. Der Rabbiner erinnert sich auch daran, dass seine Eltern jedes Mal, wenn sie an Rosch Haschanah und an Jom Kippur einen Arbeitstag versäumten, um sich in die Synagoge zu begeben, am nächsten Tag zu den Gründen ihrer Abwesenheit und ihrem Verbleib befragt wurden. Die Fragenden wussten genau, dass sie in der Synagoge gewesen waren und versuchten sie durch wiederholte Scherereien zu bestrafen und zu entmutigen.
Rabbi Ver? begann seine Schulzeit in der ungarischen Hauptstadt, besuchte anschliessend ein jüdisches Gymnasium, um die Matur zu machen, und immatrikulierte sich danach an der jüdischen Universität von Budapest, um sich auf das Rabbinat vorzubereiten. Sein Studium dauerte insgesamt sieben Jahre, wobei er eines davon in Israel und ein weiteres bei praktischer Arbeit in der Gemeinde von Szeged verbrachte. Tamás Ver? hatte schon immer das Judentum studieren wollen, doch er konnte das Nützliche nur mit dem Angenehmen verbinden, indem er Rabbiner wurde. Als junger Mann war er bereits sehr aktiv gewesen, insbesondere als Betreuer in der Jugendbewegung Haschomer Hatzair. Nach Abschluss seines Studiums fungierte Rabbi Ver? als Hilfsrabbiner in der Synagoge Leó Frankel in Buda, wo er zwei Jahre später nach dem Tod des amtierenden Rabbiners den Rabbinerposten bekam.

Wie viele Mitglieder gibt es in Ihrer Gemeinde?

Wir schicken unser Gemeindebulletin an rund tausend Familien. An einem gewöhnlichen Freitagabend können wir mit etwa hundert Gläubigen rechnen. An Rosch Haschanah und Jom Kippur nehmen so viele am G’ttesdienst teil, wie in die Synagoge passen. Ich weiss allerdings keine genaue Zahl, denn wir haben 400 Sitzplätze und zahlreiche Stehplätze. Im Gegensatz zu anderen Orten sind es bei uns nicht nur Menschen, die im Quartier wohnen, denn viele kommen aus anderen, oft recht weit entfernten Teilen der Stadt.

Wie alt sind die Gläubigen im Schnitt?

Ich kann mich glücklich schätzen, denn mein Publikum ist sehr jung. Dies lässt sich dadurch erklären, dass ich als Betreuer an den Jugendlagern teilnahm, die seit 1998 in Sarvaj stattfinden. Dort lernte ich viele junge Männer und Frauen kennen, die zum grössten Teil nun die G’ttesdienste in meiner Synagoge besuchen. Darüber hinaus sind sie, wenn sie heiraten wollen, immer froh, wenn die Feier in meiner Synagoge stattfindet und ich den G’ttesdienst leite. Die Tatsache, dass ich sie so gut kenne, schafft natürlich Vertrauen und erleichtert mir die Aufgabe in Bezug auf die Bereicherung des Gemeindelebens. Neben meinen Funktionen in der Gemeinde bin ich auch als Armeegeistlicher tätig. Ich kann mit Stolz feststellen, dass der ungarischen Armee drei jüdische Soldaten angehören, darunter auch zwei Rabbiner (der Rabbiner der Synagoge an der Dohany-Strasse und Rabbi Ver?).

Gibt es andere junge ungarische Juden, die wie Sie beschlossen haben, sich für das Leben und vor allem das Überleben der Gemeinde einzusetzen?

Als ich 1999 mein Diplom erlangte, war unser Jahrgang mit einer Handvoll Studenten der erste, der nach zehn Jahren diese Prüfung ablegte. Heute gibt es acht Rabbinerstudenten in Budapest. Zurzeit sind insgesamt zwei aus unserem Jahrgang als Rabbiner in Ungarn tätig. Doch neben unserer Tätigkeit verfügen wir über den Vorteil, auf die Arbeit zahlreicher jüdischer Freiwilliger zählen zu können, die bei den Kindern und Jugendlichen pädagogisch aktiv sind.

Können Sie uns kurz Ihre Hauptsorge darlegen?

Ganz einfach: Ich möchte die Zahl der aktiven Mitglieder in meiner Gemeinde erhöhen. Dazu brauche ich mehr Geld. Meine Frau sucht regelmässig die nichtjüdischen Schulen im Quartier auf, um dort bekannt zu machen, dass wir eine Talmud Torah haben. Diese wird gegenwärtig von 16 Schülern besucht und bietet eine Reihe von Aktivitäten an, zu denen wir so viele jüdische Kinder einladen wie möglich. Oft telefonieren die Schulen nach diesen Besuchen mit den Eltern, die anschliessend bei sich zu Hause oder bei uns das Gespräch mit uns suchen. Wir stehen jedoch vor einem grossen Problem, nämlich vor der fast vollständigen Gleichgültigkeit der meisten ungarischen Juden gegenüber dem Judentum. Ausserdem sind sie nicht bereit, einen Beitrag an die Gemeinde zu zahlen, selbst wenn dieser symbolisch ist. Und schliesslich, und dies stimmt mich traurig, interessieren sich die Leute erst dann für die Gemeinde, wenn es um eine Beerdigung geht. Paradoxerweise gibt es dennoch immer mehr religiöse Hochzeiten, Beschneidungen und Bar-Mitzvoth. Es gibt keine plausiblen Erklärungen für diesen Widerspruch. Parallel zu diesem Phänomen erleben wir ebenfalls eine Periode der starken Assimilierung. Vor zwei Jahren schickten wir einen Fragebogen an meine ehemaligen Mitschüler im jüdischen Gymnasium, die in Ungarn geblieben waren – die meisten sind nach Israel oder in die USA ausgewandert. Wir wollten wissen, wie sie mit ihrer jüdischen Identität umgehen. Die meisten waren eine gemischte Ehe eingegangen und hatten alles hinter sich gelassen. Einige erinnerten sich noch daran, dass sie Juden sind und begeben sich einmal im Jahr kurz in die Synagoge. Trotz der grassierenden Assimilierung muss ich sagen, dass wir ein weiteres interessantes Phänomen entdecken. Auf der Ebene der Judaistik leben wir nämlich in einer Zeit, in der die Kinder ihre Eltern unterrichten. Zur Veranschaulichung möchte ich Ihnen ein Beispiel nennen, das man mir mehrmals erzählt hat: Teenager, die ein jüdisches Lager besuchen, entdecken hier die jüdische Tradition und Lebensweise. Wenn sie nach Hause zurückkehren, möchten sie nicht selten gewisse Bräuche beibehalten, im Allgemeinen das Anzünden der Kerzen am Freitagabend, was an sich schon ein viel versprechender Schritt in die richtige Richtung ist. Sie sehen, es ist nicht einfach, die Situation erfordert sehr viel Einsatz und Entschlossenheit, doch es besteht die Möglichkeit, dass wir diesen Kampf im Alltag gewinnen.

Beurteilen Sie es angesichts dieser Situation als positiv, dass die jüdischen Schulen auch nichtjüdische Kinder aufnehmen?

In Ungarn haben wir keine andere Wahl, weil z.B. die jüdische Schule Javne Lauder als staatliche Schule gilt. Meiner Meinung nach finden die Schüler ihren Lebenspartner in der Regel nicht in der Schule. Ich möchte die positive Seite der Dinge sehen und glauben, dass die nichtjüdischen Jugendlichen, die ein jüdische Schule besucht haben und uns kennen, weniger oft – oder gar nicht – zu Antisemiten werden.

Nehmen Sie auch Konfessionswechsel vor?

Ja, aber sie werden vom Grossrabbinat in Israel nicht anerkannt. Unsere Glaubenswechsel gelten aber seit kurzem als erster Schritt hin zu einer akzeptablen Konvertierung, und in Israel wird dadurch die Vorbereitungszeit beträchtlich reduziert. Die neologische Glaubensrichtung wird in Israel nicht als gültig gemäss den Vorschriften des jüdischen Rechts anerkannt. In Budapest finden jährlich etwas hundert Konvertierungen statt. Dafür gibt es viele Gründe und in der Regel gehört eine zukünftige Eheschliessung nicht dazu. Unsere Kandidaten sind manchmal schon reifere Semester. Darüber hinaus werden wir immer wieder von jungen Leuten zwischen 20 und 25 kontaktiert, die sich beschneiden lassen wollen, obwohl ihre Eltern beide authentische Juden sind. Wir nehmen einen chirurgischen Eingriff vor, halten aber auch eine religiöse Zeremonie für die jüdische Namensgebung ab.

Wie gehen Sie mit Todesfällen um?

Bei uns gibt es nur eine Chewrah Kadischah (Bestattungsgesellschaft), die unsere lieben Verstorbenen in ganz Budapest nach den Regeln der Halachah betreut. Sie hat sehr viel Arbeit, denn es fallen im Schnitt zehn Beerdigungen pro Woche an, d.h. fast 600 jüdische Bestattungen im Jahr. Die verstorbenen Menschen wünschen sich allerdings nicht selten, dass sie auf demselben Friedhof beerdigt werden wie ihre Angehörigen, wo es oft Familiengrüfte gibt. Der bedeutendste Friedhof befindet sich im Stadtteil Pest, zwei weitere liegen im Quartier von Buda. Wenn jemand in meinem Viertel stirbt und keine Familie mehr hat, kümmere ich mich um alles, damit diese Person eine würdige Beerdigung erhält. Dieselbe Regel gilt für alle 16 Synagogen von Budapest.

Indem er sein Leben der jüdischen Gemeinschaft weiht, geht Rabbi Ver? mit gutem Beispiel voran. Wir hoffen, dass viele diesem Vorbild folgen werden.


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