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Inhaltsangabe Ungarn Herbst 2004 - Tischri 5765

Editorial - September 2004
    • Editorial [pdf]

Rosch Haschanah 5765
    • Selbstdisziplin – Respekt – Hoffnung [pdf]

Politik
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Interview
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Strategie
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Judäa-Samaria-Gaza
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Shalom Tsedaka
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Medizin und Halachah
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Küchenrezept zu Rosch Haschanah
    • Guten Appetit [pdf]

Ungarn
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    • Ungarische Schuld [pdf]
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    • Verantwortung [pdf]
    • Die Mazsihisz [pdf]
    • Das Jüdische Museum Von Budapest [pdf]
    • Vorbild sein [pdf]
    • Jüdische Erziehung [pdf]
    • Das Rabbinerseminar Von Budapest [pdf]

Ethik und Judentum
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Das gute Gedächtnis
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Das Rabbinerseminar Von Budapest

Rabbiner Alfred Schöner. Foto: Bethsabée Süssmann

Von Roland S. Süssmann  
Bei unserer Erkundungsreise durch die jüdische Welt von Budapest war ein Wort in aller Munde: «Erziehung». Es wird anscheinend alles unternommen, um die jüdische Ausbildung und Erziehung zu fördern, insbesondere bei der Jugend. Wie überall auf der Welt fehlen gute Lehrer, in erster Linie auf höchstem Niveau. Doch es gibt eine Institution, die heuer ihren 125. Geburtstag feiert, nämlich das Rabbinerseminar von Budapest, bekannt unter dem Namen «Országos Rabbiképzö – Zsidó Egyetem», d.h. «Jewish Theological Seminary – University of Jewish Studies». Diese Ausbildungsstätte für Rabbiner wird von Rabbi Alfred SCHÖNER geleitet, der eine Doppelfunktion als Rektor und Dozent innehat und den wir um Erklärungen betreffend Ziele und Funktionsweise «seiner» Hochschule gebeten haben.

Es ist reichlich seltsam, in den Räumlichkeiten einer Rabbinerschule zu stehen, die alle Ereignisse der jüngsten Geschichte Ungarns, insbesondere die Schoah, überlebt hat. Können Sie uns, bevor Sie vom hier erteilten Unterricht erzählen, kurz einen historischen Überblick über diese ehrwürdige Einrichtung geben?

Zunächst möchte ich erwähnen, dass wir ein Seminar sind, in dem Rabbiner der neologischen Ausrichtung ausgebildet werden. Ich will nicht auf Einzelheiten eingehen, sondern nur sagen, dass es sich dabei um eine typisch ungarische Glaubensbewegung handelt, deren Rabbiner, Kantoren und Lehrer fromme Juden sind, die gemäss den Vorschriften der Halachah leben (jüdisches Recht). Wir identifizieren uns überhaupt nicht mit dem reformierten oder konservativen Judentum (nach amerikanischer Auslegung des Begriffs) und wir sind auch nicht orthodox. Wir sehen uns als Juden, die als gute Bürger in den normalen Alltag Ungarns integriert und dabei sehr eng mit Israel verbunden sind. Jeden Morgen beten wir in unseren Synagogen für den Staat Israel und für das Wohlergehen der israelischen Armee. Im Hinblick auf unsere Hochschule möchte ich zunächst daran erinnern, dass die berühmtesten Rabbiner und Talmudgelehrten Ungarns des 20. Jahrhunderts hier studiert und gelehrt haben, wobei ich ganz besonders an David Kaufmann, Ludwig Blau, Alexander Scheiber denke. Eine unserer Hauptaufgaben besteht darin, die Fortführung und Überlieferung der Lehre unserer Meister zu gewährleisten. Wir haben, wie Ihnen bekannt ist, zwei grosse Traumata erlebt, erst die Schoah und dann die kommunistische Diktatur. Man muss sich vor Augen führen, dass das jüdische Leben in Ungarn vor der Schoah eigentlich demjenigen sehr ähnlich war, wie es heute in den USA geführt wird. Folgendes Beispiel lässt meine Worte konkreter werden: ein Tourist, der Ungarn besucht, kann keinen einzigen Ort aufsuchen, an dem nicht Juden gestorben sind. In den Städten und Dörfern, ja sogar in den Wäldern trifft man auf unzählige Erinnerungstafeln und Gedenkstätten für eine heute untergegangene Gemeinschaft, Synagoge oder Jeschiwah. Der grösste Teil der ungarischen Juden ist nicht gestorben, sondern wurde ermordet, und mit ihnen das blühende jüdische Leben, das vor dem Zweiten Weltkrieg existierte. Das Gebäude, in dem wir uns befinden, wurde übrigens von den Nazis als städtisches Durchgangslager für Auschwitz verwendet. Von diesem Ort aus wurden auch 89 unserer Rabbiner und Studenten in die Vernichtungslager deportiert.
Wir stehen nun vor der Aufgabe, eine jüdische geistliche Führung aufzubauen, die den religiösen Bedürfnissen der jüdischen Gemeinschaft Ungarns in der Zukunft entspricht.

Das Wort «Zukunft» impliziert, dass sie eine solche für die Juden in Ungarn sehen. Wie wird sich Ihrer Ansicht nach diese Gemeinschaft entwickeln?

Ich bin kein Prophet, doch ich stütze mich auf unsere Erfahrungen in den vergangenen Jahren und kann behaupten, dass wir durchaus hoffen dürfen. Vor zwanzig Jahren noch hätten wir uns nie träumen lassen, dass wir eines Tages wieder die Glaubensfreiheit besitzen würden. Jede unserer Bewegungen wurde von der Regierung streng kontrolliert, und in gewissen Fällen konnte die «Frömmigkeit» einen Hauptanklagepunkt darstellen, ganz zu schweigen vom «Zionismus», der schon fast ein Verbrechen darstellte. Es stimmt, wir haben die Hoffnung nie aufgegeben, die wir in unseren Gebeten ausdrückten. Obwohl die Zukunft nicht sehr rosig aussah, haben wir alles in unserer Kraft stehende unternommen, um ein jüdisches Leben und die jüdischen Institutionen fortzuführen, die zwar wohl schwach und unterwürfig geworden waren, aber funktionstüchtig blieben. Wir wissen alle, dass die Zukunft unvorhersehbar ist, doch in der historischen Tradition des jüdischen Volkes hat die Logik meiner Meinung nach keinen Platz. Zur Veranschaulichung werde ich kurz einen Aspekt meiner persönlichen Geschichte erwähnen. Während der Schoah wurden alle meine Angehörigen ermordet, sowohl die Familie meines Vaters als auch die meiner Mutter, insgesamt 39 Menschen! Als meine Eltern aus Auschwitz zurückkehrten, war meine Mutter 45 Jahre alt, mein Vater 47: und sie haben mich gezeugt. Ich wurde also geboren, als meine Mutter 46 war und mein Vater 48. Mein Vater sagte immer zu mir: «Glaub meiner Erfahrung: bete, lerne und sorge dich nicht, der Herr wird uns helfen». Wenn ich zurückblicke und mich daran erinnere, wie viele Schüler unsere Schule besuchten (die damals auch als Gymnasium diente), und heute sehe, dass es in Budapest mehrere jüdische Schulen gibt, dann kann ich nur optimistisch und dankbar sein.
Wir erleben heute eine Renaissance, die eine wunderbare Zukunft erahnen lässt. Ich bin überzeugt, dass die jüdische Kultur zwar ein bedeutendes Element darstellt, dass wir aber ohne G’ttesfurcht, ohne jüdische Ausbildung und Erziehung, ohne Synagoge und ohne Gebet ganz bestimmt keine Zukunft besitzen, weil wir uns nämlich in der Assimilierung verlieren würden. Wir erfüllen unsere Aufgabe mit Entschlossenheit, aber ohne Illusionen, mit Realitätssinn, Hellsichtigkeit und Vorsicht.

Worin besteht Ihre «Aufgabe», wie Sie sie nennen, konkret?

Unsere Institution hat, wie ich bereits erwähnte, die beiden grossen Traumata überlebt, welche die jüdische Gemeinschaft Ungarns heimgesucht haben. Nach dem Zweiten Weltkrieg war die Zahl der Studenten, die eine jüdische Berufsausbildung anstrebten, natürlich verschwinden klein. Doch mit der Zeit haben wir einige Rabbiner ausgebildet, und heute stammen sämtliche amtierenden neologischen Rabbiner in Ungarn aus unserer Schule. Die Diplomanden unserer Institution leiten Gemeinden in Israel, in den USA, in Russland und in einigen Ländern Westeuropas. Unsere Universität befasst sich in erster Linie mit der Ausbildung von Rabbinern, doch wir bereiten auch Kantoren vor (Chasanim), die in den grossen jüdischen Gemeinden Ungarns ausserhalb von Budapest tätig sind. Wir bieten kein Ausbildungsprogramm für Mohalim und Schochatim an, aber wir bilden unsere Studenten zu rabbinischen Richtern aus. Neben der unerlässlichen Ausbildung von Rabbinern und Kantoren decken die Studienpläne auch Programme für Gemeinde- und Sozialarbeit ab, es gibt Kurse in jüdischer Kultur, jüdisch-ungarischer Kultur und Geschichte. Unser Unterricht für jüdische Liturgie sind übrigens nicht direkt mit dem Studium der «Chasanuth» verbunden. Die Klassen für Kantoren stehen nur den Studenten offen, die vier Jahre lang die Liturgie studiert haben. Vor drei Jahren erhielten wir eine besondere Anerkennung seitens des ungarischen Bildungsministeriums, dank der wir nun einen staatlichen Doktortitel in Judaistik - und nicht in Theologie - verleihen dürfen. Dieses Diplom soll in der gesamten EU anerkannt werden. Zu unseren Studenten zählen nicht nur Ungarn, sondern auch eine Reihe von etablierten Rabbinern, die sich bei uns auf dieses Diplom vorbereiten.

Wen nehmen Sie als Student in Ihrer Hochschule auf?

Gegenwärtig haben wir 250 Schüler und können noch 10% mehr aufnehmen, in der Mehrheit sind es Juden. Die nichtjüdischen Schüler sind in den Fakultäten für Gemeinde- und Sozialarbeit, Liturgie, Geschichte, jüdische Liturgie (sie können allerdings nicht die Kantorenschule besuchen) und jüdische Kultur immatrikuliert. In dieser Abteilung zählen wir zwei Pastoren, von denen einer Evangelist und der andere Lutheraner ist und die beide das Judentum und die jüdische Philosophie kennen lernen wollen. Ich denke, dass ihnen das, was sie hier lernen, nützlich sein wird, um uns in der ungarischen Gesellschaft besser bekannt zu machen, und dies sich zweifellos auch auf den Kampf gegen den Antisemitismus auswirken wird. Bei denjenigen Schülern, die in den Abteilungen für Rabbiner und Kultus eingeschrieben sind, handelt es sich um junge Juden, die ihr Leben der Gemeinschaft und der geistlichen Zukunft unserer Gemeinde weihen möchten.


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