«Avec le temps… avec le temps, va, tout s’en va, on oublie le visage et l’on oublie la voix» (Mit der Zeit vergeht alles, man vergisst das Gesicht und man vergisst die Stimme), sang Léo Ferré in einem der berühmtesten Lieder des französischen Repertoires. Weil wir in einer Zeit leben, in der die letzten überlebenden Augenzeugen der Schoah uns nach und nach verlassen, und vor allem damit «nichts vergeht und nichts vergessen wird», wurde vor kurzem die Holocaust-Gedenkstätte in Budapest eröffnet, sechzig Jahre nach der Deportation der ungarischen Juden.
Im Sommer 1944 wurde das ungarische Judentum, das letzte Opfer des von den Deutschen durchgeführten Genozids, unter Mithilfe der einheimischen Polizei dezimiert. In der Rekordzeit von 56 Tagen wurden zwischen dem 15. Mai und dem 7. Juli 1944 von den ungarischen Behörden 437'402 Menschen deportiert, was fast der gesamten, in den ländlichen Gegenden wohnhaften jüdischen Bevölkerung entsprach. Die meisten von ihnen wurden nach ihrer Ankunft in Auschwitz vergast. Unter den Opfern befanden sich 190'000 Kinder! Die Juden aus Budapest ihrerseits wurden in ein Ghetto gepfercht, ca. 5'000 von ihnen wurden später an den Ufern der Donau von Mitgliedern der faschistischen Organisation der Pfeilkreuze ermordet und 70'000 wurden zu Fuss deportiert. Von über 800'000 ungarischen Juden wurden sozusagen 570'000 während der Schoah umgebracht. Man geht davon aus, dass zusätzlich auch rund 100'000 Zigeuner ums Leben kamen.
Es ist allerdings heute zu beobachten, dass die Mehrheit der europäischen Länder, die an der Ermordung von sechs Millionen Juden, darunter anderthalb Millionen Kinder, beteiligt waren, heute auf die eine oder andere Weise begonnen haben, sich mit den Verbrechen ihrer Eltern auseinanderzusetzen. Auch wenn noch nicht alle ein Mea culpa ausgesprochen haben, sind sie sich der Realität bewusst geworden und beginnen die historischen Fakten zu korrigieren, sogar in Österreich, das sich trotz seiner freiwilligen Kollaboration mit Hitler bis vor kurzem als Opfer der Nazizeit sah. Ungarn hingegen hatte bisher noch keinen einzigen Schritt zum Eingeständnis seiner Verantwortung bei der Ermordung seiner jüdischen Bevölkerung unternommen. Dazu muss man hinzufügen, dass dieses Thema trotz der Kenntnis um die geschichtliche Realität unter dem kommunistischen Regime völlig tabu war. Die Gräueltaten der Ungarn, insbesondere der ungarischen Polizei, wurden den Deutschen und «einigen ungarischen Extremisten» in die Schuhe geschoben. Während den 15 Jahren nach der Befreiung wurde der Mantel des Schweigens und des guten Gewissens über dieses Kapitel der jüngsten Geschichte Ungarns gebreitet. Es gab keinerlei offizielle oder öffentliche Debatte über die Verantwortung der ungarischen Gesellschaft während der Schoah, über das fast vollständige Fehlen eines Widerstandskampfes und über den gross angelegten Verkauf von Gegenständen, die man den Deportierten durch Gewalt, Machtmissbrauch und Betrug gestohlen hatte.
Seit kurzem, wahrscheinlich aus dem Wunsch heraus, sich mit einem Mindestmass an Anstand in der Europäischen Union präsentieren zu können, hat Ungarn damit begonnen, die Nachforschungen, die Dokumentation, die Information und die Pflicht der Erinnerung als nationale Aufgabe anzusehen. 2002 (!) wurde eine von der Regierung abhängige Institution ins Leben gerufen, das «Holocaust Documentation Center and Memorial Collection Public Foundation», unter dessen Schirmherrschaft und Aufsicht die neue Schoah-Gedenkstätte von Budapest errichtet und verwaltet wird.
Bei der Eröffnung einer Gedenkstätte möchte man in erster Linie wissen, welche Einstellung dahinter steht. Dr. Andras Darany, Historiker und Leiter der Gedenkstätte von Budapest, aus dessen Familie 20-25 Menschen deportiert wurden, fasste diesen Gedanken wunderbar zusammen: «Unser Ziel ist es, die Schoah in unserem Land als eine nationale ungarische Tragödie und als einen Bestandteil unserer Geschichte zu zeigen. Im Jahr 1920 verabschiedete man in Ungarn die ersten antijüdischen Gesetze, die den Numerus clausus in den Universitäten einführten. 24 Jahre später war unser Land von einem simplen Trennungsgesetz zur freiwilligen und aktiven Kollaboration bei der Ermordung von über einer halben Million unserer Mitbürger übergegangen. Wenn wir die Verantwortung der Ungarn und vor allem diejenige der ungarischen Behörden leugnen, können wir nie offen über den Holocaust diskutieren.»
Die Eröffnung des Zentrums am 16. April 2004 sollte demnach einen Wendepunkt in der Wahrnehmungs- und Darstellungsweise der Schoah in Ungarn darstellen. Die Institution kümmert sich um vier Hauptaktivitäten: Rückblick auf die Schoah mit Hilfe von ständigen und wechselnden Ausstellungen, Sammlung und Auswertung von Dokumenten über die Schoah in Ungarn, Integration der Information über die ungarische Schoah in den offiziellen Lehrplan und Betreuung einer Gedenkstätte zur ehrenden und würdigen Erinnerung an die Opfer.
Dieses Unterfangen ist bestimmt mit besten Vorsätzen gepflastert, doch die angestrebten Ziele scheinen in weiter Ferne zu liegen, auch wenn die ersten Schritte viel versprechend und gleichzeitig durch die Art des Vorgehens beeindruckend wirken. Die ständige Ausstellung wird ihre Tore erst 2005 am 60. Jahrestag der Beendigung des Zweiten Weltkriegs öffnen. Das Zentrum wurde jedoch mit einer bemerkenswerten kleinen Fotoausstellung der Öffentlichkeit vorgestellt und erinnerte nachdrücklich an die Art und Weise, wie die Juden aus den subkarpatischen Gemeinschaften Ungarns in die Gaskammern transportiert wurden. Diese Fotosammlung unter dem Titel «Das Album von Auschwitz» ist einzigartig. Die Bilder entstammen einer Serie von 235 Fotos, die von den zwei Nazisoldaten Bernhard Walter und seinem Assistenten Ernst Hoffmann geschossen wurden. Trotz des offiziellen Verbots, in den Konzentrationslagern Fotos zu machen, hatten die beiden Nazis eine Sondergenehmigung erhalten und durften ihre Opfer ablichten. Sie hatten sich auf den Dächern der Züge versteckt, um die Gefangenen auf dem Gang in die Gaskammern zu fotografieren, oder diejenigen, die als «arbeitstauglich» galten, die Plünderung der jämmerlichen Besitztümer der vergasten Juden durch die Deutschen und deren Opfer festzuhalten, die sorglos und unbeschwert vor den Türen der Gaskammern auf ihr Schicksal warteten. «Das Album von Auschwitz» wurde nach dem Krieg zufällig von Lilli Jakob gefunden, einer an Typhus erkrankten Überlebenden, die nur noch 40 kg wog und auf der Suche nach warmen Kleidern in eine verlassene SS-Baracke eingetreten war. Auf den ersten Bildern hatte sie Naftali Zvi Weiss erkannt, den Grossrabbiner ihres Geburtsortes Bilke (der heute zu Kroatien gehört). Auf anderen Fotos entdeckte sie Familienangehörige, von deren Verbleib sie nichts wusste. 1980 überliess Frau Jakob die Originalfotos Yad Vaschem. Kein Geschichtsbuch zeigt die Schrecken der Schoah so unmittelbar wie diese Bilder. Den Besucher schockiert die Tatsache, dass die Opfer offensichtlich nicht ahnten, was sie erwartete; nur die Kinder schienen sich vor etwas zu fürchten.
Im Rahmen der Bemühungen des Zentrums im Bereich der Forschung und Dokumentation veranstaltet die Leitung der Gedenkstätte Vorträge und veröffentlicht eine Reihe von akademischen und pädagogischen Schriften. Ausserdem ist in der nahen Zukunft ein Dokumentationszentrum für Historiker, Studenten und Forscher geplant.
Eine weitere Aufgabe des Zentrums betrifft die Information. Es wurde ein umfangreiches Programm entwickelt, um das Studium der Schoah nicht nur in den obligatorischen Lehrplan der Schule zu integrieren, sondern es auch durch einen Lehrstuhl zum Thema Holocaust in den ungarischen Universitäten zu fördern. Mit demselben Ziel werden regelmässig spezielle Seminare für Lehrer durchgeführt.
Zuletzt noch ein Hinweis zur Architektur, da sämtliche Aktivitäten in der Gedenkstätte selbst stattfinden. Der moderne Komplex mit gebrochenen Aussenlinien und schiefen Mauern wurde vor einer aus dem Jahr 1923 stammenden Synagoge gebaut, die vollständig renoviert und in die Gedenkstätte integriert wurde, und enthält sehr viele symbolische Elemente. Eine Wand, auf der Zehntausende von Namen der Verstorbenen eingetragen werden können und vor der ständig eine Kerze brennt, verleiht dem Gebäude eine besonders dramatische Dimension. Darüber hinaus besteht das Zentrum der Gedenkstätte aus sechs Marmorsäulen, welche die Schornsteine der Verbrennungsöfen darstellen, aus denen sechs Millionen Männer, Frauen und Kinder nach ihrer Ermordung als Rauch gen Himmel stiegen.
Bei der Eröffnungszeremonie, an der auch der israelische Staatspräsident Mosche Katsav teilnahm, erklärte der ungarische Premierminister: «Ich schäme mich, dass Ungarn aktiv an diesen grauenhaften Ermordungen teilnahm. Es gibt keine Erklärung für diese von ungarischen Bürgern an Mitbürgern begangenen scheusslichen und unverzeihlichen Verbrechen.»
Schon vor seiner Einweihung war das Holocaust Memorial Center Zielscheibe zahlreicher Kritiken. Es ist bestimmt nicht perfekt, doch es ist ja auch noch nicht fertig. In den Köpfen der Planer soll es nur einen Ausgangspunkt für ein konkretes Element darstellen, dank dem die landesweite Diskussion über die Verantwortung Ungarns zu Ende geführt werden soll. Es kann gar nicht oft genug betont werden, dass man diese nationale Debatte mit allen Mitteln zu verhindern suchte. Sogar die Tatsache, dass Imre Kertesz 2002 den Literaturnobelpreis für sein Werk über die Schoah, insbesondere sein Buch Auschwitz, erhalten hatte, reichte als Auslöser für diese äusserst notwendige Auseinandersetzung nicht aus.
Mao Tse Tung sagte: «Auch der längste Marsch beginnt mit einem kleinen Schritt». Und dieser wurde in Budapest endlich getan.
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