Die jüngere Geschichte einer Gemeinschaft, vor allem wenn sie so dramatisch und bewegt ist wie diejenige des ungarischen Judentums, besitzt immer auch einen rein theoretischen Aspekt, wenn sie von einem Historiker erzählt wird. Wir wollten die Realität des jüdischen Lebens in Ungarn während den vergangenen Jahrzehnten besser verstehen und haben deshalb mit dem heute 82-jährigen Grossrabbiner JOZSEF SCHWEITZER gesprochen, der früher als Grossrabbiner Ungarns fungierte und unter schwierigsten Bedingungen sein gesamtes Leben dem Fortbestand der jüdischen Präsenz und des Gemeindelebens widmete.
Wir möchten Sie um eine kurze Analyse der gegenwärtigen Situation des ungarischen Judentums bitten. Können Sie uns zuvor aber noch die wichtigsten Etappen Ihres Lebens zusammenfassen?
Als erstes möchte ich anmerken, dass die jüdische Gemeinschaft Ungarns während meiner Jugend und vor dem Zweiten Weltkrieg nichts mit der heutigen gemein hatte. Auch ohne auf die zahlreichen Juden, die hier lebten, auf die Qualität oder die Intensität des Gemeindelebens hinzuweisen, muss ich den hohen Grad der Frömmigkeit unterstreichen, der damals vorherrschte und übrigens konkret in der hohen Zahl von Wohltätigkeitseinrichtungen und -organisationen zum Ausdruck kam, zu denen auch ein Internat für taubstumme Juden, ein anderes für Blinde usw. gehörten. Ausserdem gab es unzählige Menschen, die frühmorgens aufstanden und die G’ttesdienste besuchten, während dies heute kaum mehr gemacht wird. Wir nehmen da natürlich die Folgen der Schoah und der kommunistischen Diktatur wahr. Ich musste leider mit ansehen, wie eine blühende Gemeinschaft vollständig vernichtet und die jüdische Bevölkerung ermordet wurde. Geboren wurde ich 1922 in Veszprém. Leider starb meine Mutter, als ich erst ein Jahr alt war, und so wurde ich von meinen Grosseltern und meinem Vater gemeinsam grossgezogen. Mein Grossvater war Rabbiner, zunächst in unserer kleinen Stadt, später in Budapest. Während der Schoah lebte ich in Budapest und wurde vor meiner Flucht zur Zwangsarbeit in der Armee verpflichtet; danach engagierte ich mich in der jüdischen Widerstandsbewegung und wurde gerettet. Mein Vater und viele meiner Familienangehörigen kamen ums Leben. Meine Schulzeit verlief demnach ganz normal im jüdischen Gymnasium, später trat ich ins Rabbinerseminar ein, wo ich zum Rabbiner geweiht wurde. Im ersten Jahr nach meinem Studium lehrte ich auch die Torah in dem Gymnasium, das ich acht Jahre lang besucht hatte. Ich fühlte mich sehr geschmeichelt, nun an der Seite meiner ehemaligen Lehrer zu stehen. Nach einem Jahr wurde ich in die Universitätsstadt Pécs im Süden Ungarns berufen, wo bis zur Schoah rund 4’000 Juden lebten. Bei meiner Ankunft im Jahr 1947 waren nur noch ungefähr 700 von ihnen übrig geblieben, die Vorstädte eingeschlossen. Es war alles andere als einfach, mit 25 Jahren eine Gemeinde mit siebenhundert Seelen zu leiten, doch wir hatten keine andere Wahl: die Rabbiner der Provinzstädte waren zusammen mit ihren Gemeindemitgliedern ermordet worden. Uns jungen, fast gänzlich unerfahrenen Rabbinern oblag es nun also, auf den Trümmern und auf Asche einer einstmals blühenden Gemeinschaft neues jüdisches Leben aufzubauen. Wir begannen damit, wieder täglich und am Schabbat stattfindende G’ttesdienste einzuführen, kurz, ein normales jüdisches Leben auf religiösem, geistlichem und gemeinschaftlichem Niveau aufzubauen. Neben den überlebenden Einwohnern gab es in Ungarn sehr viele Waisen und Halbwaisen, um die sich das «American Joint Distribution Committee» kümmerte. Diese Organisation hatte in der ungarischen Provinz mehrere Unterbringungszentren geschaffen, da es dort mehr Platz gab als in Budapest. In Pécs wurde ein Teil der aus Budapest stammenden jüdischen Waisen im Gebäude der ehemaligen jüdischen Schule untergebracht, aus der sämtliche Kinder deportiert und ermordet worden waren. Sie erhielten hier Kost und Logis sowie Schulunterricht. Ich organisierte also eine jüdische Schule sowie die Verteilung koscherer Lebensmittel und Mahlzeiten. In diesem Zusammenhang gibt es eine Geschichte voller trauriger historischer Ironie zu erzählen. Parallel zu den nun elternlosen Kindern gab es in Budapest auch zahlreiche ältere Menschen, die nicht deportiert worden waren, deren Kinder und Enkel aber dieses Schicksal erlitten hatten. Auch sie standen nun allein da, waren oft krank und schwach und vor allem nicht in der Lage, selbstständig und auf eigene Faust zu überleben. In Pécs befand sich ein leer stehendes Altersheim, da die ältere Generation deportiert worden war. Die Gestapo hatte das Gebäude als regionale Kommandantur verwendet. Und wieder sorgte das «American Joint Distribution Committee» dafür, dass die meisten dieser alten Menschen aus Budapest zu uns umgesiedelt wurden, so dass die Küche des Heims zur Zubereitung koscherer Mahlzeiten für das Altersheim, unsere Schule und diejenigen Gemeindemitglieder dienen konnte, für die wir eine Volksküche eingerichtet hatten.
Konnten Sie diese Aktivitäten alle durchführen, obwohl die kommunistische Diktatur begann?
Es war nicht leicht, zunächst wegen der Enttäuschung, die der Kommunismus für zahlreiche Juden darstellte. Als das kommunistische Regime eingeführt wurde, glaubten nämlich viele Überlebende der Schoah: «Wir haben dermassen gelitten, weil wir Juden sind. Die Kommunisten werden uns die Meinungs- und Glaubensfreiheit gewähren.» Sie wurden bald eines besseren belehrt, die Wirklichkeit holte sie sehr schnell ein. Uns ist es aber dank ein wenig diplomatischem Geschick und ohne Zugeständnisse in den wesentlichen Punkten gelungen, uns mit dem amtierenden Regime und den Kirchenfürsten zu arrangieren und unsere Tätigkeit mit bestem Gewissen weiterzuführen. Es war sehr wichtig, Auseinandersetzungen mit den Behörden zu vermeiden, denn die Folgen wären schrecklich und unvorhersehbar gewesen. Die ersten drei Jahre waren die einfachsten, da der Religionsunterricht gestattet wurde, was in der Folge nicht mehr der Fall war. So war ich 35 Jahre lang in Pécs tätig, unterrichtete aber gleichzeitig im Rabbinerseminar (das einzige, das im Ostblock nie geschlossen wurde), dessen Leitung ich später übernahm. 1983 wurde ich in Budapest an die Spitze der Gemeinde gewählt, in der schon mein Grossvater s.A. lange Jahre Rabbi gewesen war; ich habe somit sein Amt «geerbt». Dann wurde ich zum Grossrabbiner von Ungarn ernannt, der eigentlich eher einem politischen und «diplomatischen» Posten gegenüber den Behörden entspricht, als eine ausschliesslich geistliche Tätigkeit zum Wohle der Gemeinde zu sein. Interessanterweise ist diese Funktion nie wirklich definiert und mit einem Pflichtenheft versehen worden. Bei meiner Ernennung hatte man mir einzig gesagt, es handle sich um eine Arbeit mit zahlreichen Pflichten und Aufgaben, aus denen sich keinerlei Rechte oder Vorteile ableiten liessen. Parallel zu meiner Tätigkeit hielt ich an der staatlichen Universität eine Vorlesung über jüdisches Denken. Im Rahmen des Rabbinerseminars, das ich während Jahren leitete und aus dem ich mich heute zurückgezogen habe, gebe ich immer noch eine Vorlesung für die diplomierten Studenten, die eine Dissertation vorbereiten.
Wie beurteilen Sie die aktuelle Situation des jüdischen Lebens in Ungarn?
Ich habe Ihnen von unserer Vergangenheit berichtet. Ich bin heute nicht davon überzeugt, dass die jüdische Gemeinschaft wieder die Frömmigkeit und den Glauben erlangt hat, die für das Überleben einer dieses Namens würdigen jüdischen Gemeinde unerlässlich ist. Wir leiden unter einem Mangel an Lehrern und Rabbinern, es fehlt eine sowohl zahlenmässig starke als auch in ihren Überzeugungen unerschütterliche geistliche jüdische Führung. Die jüdische Identität ist nicht tief genug verankert und ich glaube, dass der jüdische Unterricht und die entsprechende Erziehung, die gegenwärtig in den jüdischen Schulen erteilt werden – mit Ausnahme vielleicht der orthodoxen Schule – mit einer intensiveren Unterweisung in Frömmigkeit einhergehen sollten. Was die Zukunft des hiesigen jüdischen Lebens betrifft, wird sie davon abhängen, wie wir die ausserordentliche Chance nutzen können, die sich uns im Moment bietet. Wir geniessen nämlich völlige Glaubensfreiheit. Die Gemeindeverantwortlichen, die Rabbiner und die geistlichen Führer besitzen folglich eine riesige Verantwortung, denn die gesamte heutige Generation muss gerettet werden. Die Eltern der heutigen Jugend haben keine jüdische Ausbildung erhalten und fürchteten sich oft, zu ihrer jüdischen Identität zu stehen. Wir, die damaligen Rabbiner, mussten unter einem eisernen Joch arbeiten und haben alles – letztendlich erfolgreich - versucht, um ein Mindestmass an jüdischem Leben und jüdischer Identität aufrecht zu erhalten und vor allem um die Grundlagen und die Strukturen für den Tag vorzubereiten, an dem in Ungarn wieder Glaubensfreiheit herrschen würde. Wir wussten nicht, ob dies je der Fall sein würde, doch wir haben alles in unserer Macht stehende unternommen, um im richtigen Moment bereit zu sein.
Heute erweist sich die Situation rein technisch gesehen als eindeutig leichter, auch wenn sich weiterhin die grosse Frage stellt, ob die Leute, die an der Spitze stehen und das Privileg besitzen, das Judentum in Ungarn fördern, lehren und stärken zu können, dieser enormen, ihnen übertragenen Verantwortung dank Entschlossenheit und Effizienz gewachsen sind. Dabei denke ich ebenso an die Gemeindeverantwortlichen wie an die geistlichen und religiösen Führer. Um erfolgreich zu sein, müssen sie auf die Fragen und Zweifel der Jugend und der erwachsenen Gemeindemitglieder befriedigende Antworten geben können. Erst die Zukunft wird uns sagen, ob sie die ihnen heute übertragene Aufgabe mit Bravour erfüllen konnten.
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