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Inhaltsangabe Ungarn Herbst 2004 - Tischri 5765

Editorial - September 2004
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Rosch Haschanah 5765
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Ungarn
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Ungarische Schuld


Von Dr. Efraim Zuroff *
In den vergangenen 15 Jahren, seit dem Sturz des Kommunismus und dem Zerfall der Sowjetunion, richtete man sein Augenmerk erneut auf einen von vielen wichtigen Aspekten in der Geschichte des Holocaust, nämlich auf die Kollaboration der Einheimischen mit den Nazis. Dabei handelt es sich um ein extrem schwer wiegendes Thema in Osteuropa, wo die Zusammenarbeit besonders intensiv war und wo die Beteiligung zahlreicher einheimischer Kollaborateure an der Ermordung der Juden zu einer deutlich höheren Zahl der Opfer beitrug. Ausschlaggebend war die Tatsache, dass die Nazis in fast allen Ländern – mit der bemerkenswerten Ausnahme von Polen –ihre lokalen Helfershelfer in den Prozess der Massenvernichtung einbanden und sie zur aktiven Teilnahme an der Verwirklichung der Endlösung ermunterten.
In einigen Ländern, wie z.B. im Baltikum, spielten lokale Polizeieinheiten dabei eine Schlüsselrolle, wie beispielsweise mehrere litauische Hilfspolizeibataillons und spezielle Vernichtungseinheiten wie das Ypatinga-Sonderkommando in Litauen und das Arajs-Kommando in Lettland, während in anderen Ländern bereits vor dem Zweiten Weltkrieg existierende faschistische Bewegungen eine wichtige Rolle bei der Judenverfolgung und -ermordung spielten, wie z.B. die Ustascha in Kroatien, das Pfeilkreuz in Ungarn, die Hlinka-Garde in der Slowakei und in einem geringeren Ausmass die Eisengarde in Rumänien. In Ungarn kam es zu einer Kombination beider Faktoren, was das Schicksal der ungarischen Juden während der Schoah eindeutig beeinflusste. Obwohl natürlich die systematische Massenvernichtung der Juden in erster Linie in Auschwitz erfolgte und nicht in Ungarn selbst, kann die aktive Teilnahme der ungarischen Polizei bei den Deportationen nicht von der Hand gewiesen werden. Gleichzeitig sollte die lokale Faschistenbewegung Ungarns, das Pfeilkreuz, eine führende Rolle übernehmen, als in den späteren Phasen des Zweiten Weltkriegs die Verfolgung der ungarischen Juden und der gegen sie eingesetzte Terror vorherrschend wurden. Bei der Erfassung der ungarischen Zusammenarbeit mit den Nazis und der Funktion, die von den Ungarn bei der Durchführung der Endlösung übernommen wurde, muss festgehalten werden, dass bereits in der Zeit unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg und während der kurzen Amtszeit der kommunistischen Regierung unter der Leitung von Bela Kun mehrere tausend Juden in einer von konservativen und nationalistischen Elementen ausgelösten Welle antikommunistischen Terrors ermordet wurden. Kurz darauf führte Ungarn im Jahr 1920 als erstes europäisches Land ein judenfeindliches Numerus-clausus-Gesetz ein, das gegen das Abkommen des Völkerbunds zum Minderheitenschutz verstiess und die Zahl der jüdischen Studenten an Hochschulen auf 6% beschränkte. Leider stellten diese Vorkommnisse nur das Vorspiel zur Tragödie dar, die sich während des Holocaust für die ungarischen Juden abspielte.
Vor dem Bericht über diese Einzelheiten erscheint es mir aber wichtig, kurz auf die geografischen Veränderungen hinzuweisen, die ab 1938 stattfanden und das Schicksal von Hunderttausenden von Juden nachhaltig prägten. Nach der Niederlage des Kaiserreichs Österreich-Ungarn im Ersten Weltkrieg hatte Ungarn zwei Drittel seines früheren Gebiets verloren, dazu einen Drittel der madjarischen Bevölkerung und drei Fünftel der Gesamtbevölkerung. So erreichte die Zahl der in Ungarn lebenden Juden 1910 den Höchstwert von 910’227 Menschen und sank danach im Jahr 1930 auf nur rund 445’000 Juden. Dies sollte sich aber recht schnell wieder ändern, als Ungarn sich Ende der 30er Jahre und zu Beginn der 40er Jahre politisch auf die Seite von Nazideutschland stellte und dafür durch die Annexion wichtiger Gebiete belohnt wurde, die alle eine hohe jüdische Bevölkerung aufwiesen. Somit wiedererlangte Ungarn: Felvidek von der Tschechoslowakei im November 1938 mit ca. 68’000 Juden; Karpatenukraine (Subkarpatien) von der Tschechoslowakei im März 1939 mit ca. 78’000 Juden; Nordtranssilvanien von Rumänien im August 1940 mit ca. 164’000 Juden; Delvidek von Jugoslawien im April 1941 mit ca. 14’000 Juden. Durch diese Änderungen wurden die ungarischen Juden nach Polen und der Sowjetunion zur drittgrössten Gemeinschaft Europas.
Bei der Analyse der Rolle, welche die Ungarn bei der Massenvernichtung des ungarischen Judentums übernommen haben, werden wir uns auf fünf Themen konzentrieren: die antisemitische Gesetzgebung, welche die ungarische Regierung in den Jahren 1938-1941 verabschiedete; die Zwangsarbeit, die von den jüdischen Männern im dienstfähigen Alter verlangt wurde; die Ermordung der Juden in der Ukraine und in Serbien 1941-1942; die Massendeportation nach Auschwitz im Frühjahr 1944; und das Vorherrschen von judenfeindlichem Terror, der im Oktober 1944 ausgelöst wurde, als die Pfeilkreuz-Partei an die Macht kam. Die Massendeportationen sind zwar vielleicht die bekanntesten unter den zahlreichen Verbrechen, die gegen ungarische Juden verübt wurden, doch es muss auch betont werden, dass die Ungarn in ihrem Land Zehntausende von Juden ermordeten sowie Massnahmen ergriffen, deren direkte Folge die Vernichtung von Hunderttausenden von Juden ausserhalb Ungarns war. Die Ungarn wurden auf diese Weise zu vollwertigen und bedeutenden Komplizen bei der Vernichtung der jüdischen Gemeinschaft.
Judenfeindliche Gesetze (1938-1941). Am 29. Mai 1938 wurde das erste dieser Gesetze verabschiedet, das die Beteiligung der Juden an verschiedenen Berufsständen und an Unternehmen im finanziellen, kommerziellen und industriellen Bereich auf 20% beschränkte. Darauf folgte ein Jahr später ein Gesetz, das die jüdische Beteiligung noch weiter reduzierte, nämlich auf höchstens 6%, und das eine Rassendefinition für Juden einführte. Im August 1941 trat ein drittes Gesetz in Kraft, das die Rassengesetze von Nürnberg nachahmte und Ehe und sexuelle Beziehungen zwischen Juden und Nichtjuden verbot. Arbeitsdienst für jüdische Männer im dienstfähigen Alter (Munkaszolgalat). Eine spezielle Polizei schickte jüdische Männer im Rahmen von Arbeitsprojekten nach Ungarn und in Teile der Ukraine und Jugoslawiens unter ungarischer oder deutscher Besatzung, was direkt zum Tod von rund 42’000 ungarischen Juden noch vor dem Einmarsch der Nazis am 19. März 1944 führte. Diese Ereignisse werden in einem anderen Artikel in dieser Ausgabe des Magazins ausführlich beschrieben.
Ermordung von Juden in der Ukraine und in Serbien (1941-1942). Im Sommer 1941 begannen die ungarischen Behörden jüdische, in Ungarn lebende Flüchtlinge, die keine ungarischen Staatsbürger waren, zusammenzutreiben. Bis Ende August waren 18’000 dieser Menschen nach Kamenetz-Podolsk in der Ukraine deportiert worden, wo vom 27.-28. August 16’000 von ihnen zusammen mit zahlreichen dort ansässigen Juden von SS-Einheiten, ukrainischen Nazi-Kollaborateuren und angeblich auch von einem aus Schwaben bestehenden ungarischen Pionierzug umgebracht wurden. Im Januar 1942 führten ungarische Truppen in der Region von Bacska in grossem Rahmen organisierte Exekutionen von Juden (und Serben) durch, insbesondere in der Stadt Novi Sad. Es wurden über 1’000 Juden ermordet.
Massendeportationen nach Auschwitz (Frühjahr 1944). Nach der Besetzung Ungarns durch die Nazis am 19, März 1944 traf die ungarische Regierung Massnahmen, um die Juden vom Rest der Bevölkerung zu trennen und ihren Besitz zu konfiszieren. Am 5. April 1944 wurden alle Juden aufgefordert, einen gelben Stern als Erkennungszeichen zu tragen. Am 28. April 1944 ordnete die Regierung die Ghettoisierung des ungarischen Judentums an, wobei dieser Prozess Mitte April bereits in Subkarpatien begonnen hatte. In jüdischen Quartieren, lokalen Ziegelfabriken oder ähnlichen Gebäuden wurden insgesamt 55 Ghettos und Konzentrationslager errichtet. Die Ghettos wurden von speziell dafür eingezogenen einheimischen Polizisten und Gendarmen bewacht und völlig von der Umwelt abgeschnitten. Neben den schrecklichen hygienischen Bedingungen hielt die ungarische Polizei bei den als reich geltenden Juden oft unmenschliche Durchsuchungen nach Wertgegenständen ab. Am 15. Mai 1944 begannen die Deportationen in Subkarpatien und Nordostungarn, wobei das Vorgehen vom Fortschreiten des Kriegs und dem Vorrücken der sowjetischen Truppen aus dem Osten abhängig war. Innerhalb von 56 Tagen (15. Mai - 9. Juli) schafften 147 Güterzüge insgesamt 437’402 ungarische Juden nach Auschwitz, wo die meisten von ihnen sofort nach ihrer Ankunft sofort vergast wurden.
Regime des Pfeilkreuzes (11. Oktober 1944 – 18. Januar 1945). Bis zu dem Zeitpunkt, da die Pfeilkreuz-Regierung unter der Leitung von Ferenc Szalasi unter dem Druck der Nazis eingesetzt worden war, lebten die einzigen in Ungarn übrigen Juden in Budapest. Das neue Regime ordnete eine Welle von Terror und Mordanschlägen gegen die Juden an. Tausende von ihnen, die meisten von ihnen Frauen, mussten Gewaltmärsche absolvieren, um Befestigungen zur Verteidigung von Wien zu erbauen, und Banden von Pfeilkreuzanhängern zogen stehlend durch die Strassen von Budapest und töteten Tausende von Juden, deren Leichen sie in die Donau warfen. Anfangs Dezember 1944 mussten die Juden in Budapest in ein Ghetto im jüdischen Viertel ziehen, wo sie zu Tausenden aufgrund der entsetzlich schlechten Lebensbedingungen starben.
Insgesamt wurden 564’500 ungarische Juden während des Holocaust ermordet, d.h. etwas mehr als die Hälfte der in Ungarn lebenden Juden nach dem Trianonabkommen vom 4. Juni 1920 (267’800 Menschen, von denen 85’000 aus Budapest und 182’300 aus den Provinzen stammten) und die übrigen (233’700) aus den annektierten Gebieten. Während des gesamten Verfahrens beteiligten sich die Ungarn in jedem Stadium voll und aktiv an der Vernichtung ihrer jüdischen Landsleute. Nach dem Krieg wurden rund 27’000 Ungarn wegen Verbrechen verurteilt, die sie während des Zweiten Weltkriegs verübt hatten; 477 von ihnen erhielten die Todesstrafe, 188 wurden exekutiert. Seit Ungarn eine Demokratie geworden ist, hat es keinen einzigen Fall eines ungarischen Nazi-Kollaborateurs untersucht, geschweige denn vor Gericht gebracht.

*Dr. Efraim Zuroff, Nazi-Jäger, Historiker, Schoah-Spezialist und Direktor des Jerusalemer Büros des Simon Wiesenthal Centers von Los Angeles.

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