Die Israelis sind nicht die Einzigen auf dieser Welt, die sich allzu oft als Aussenstehende fühlen. Im vergangenen Jahr gesellten sich die Amerikaner zu ihnen, jedenfalls was die Empfindung einer beunruhigenden Isolation betrifft. Es war nicht ein Gefühl von friedlicher Abgeschiedenheit fern des Chaos. Im Gegenteil, sie fühlten sich als Angeklagte, die in den Augen aller anderen schuld sind am Chaos.
Das Amerika von George W. Bush sät angeblich aufgrund seiner panischen Angst vor islamischem Terror und wegen seines hemdsärmeligen Hegemonie-Anspruchs Gewalt in einem ansonsten friedliebenden Universum; Israel hingegen ist durch seine Unnachgiebigkeit – „die Unnachgiebigkeit der israelischen Regierung“ ist seit Jahrzehnten zu einer fest stehenden Formel in den europäischen Medien und Regierungsmitteilungen geworden - die Ursache für die Unruhe und das Leid in einem Nahen Osten, der sich andernfalls damit begnügt hätte, sein schwarzes Gold an den Meistbietenden zu verkaufen.
Diese offensichtliche Parallelität des Schicksals schafft zweifellos ein echtes Gefühl der Solidarität. Es trifft zu, dass die Verbundenheit noch nie zuvor in der Geschichte der beiden Länder so gross war, das Vertrauen so stark, die Hilfestellung so effizient. Die Unterstützung, die Washington Jerusalem angedeihen lässt, wird von den amerikanischen Juden als praktisch bedingungslos wahrgenommen, sowohl seitens der Demokraten als auch seitens der Republikaner, was weitgehend die Tatsache erklärt, weshalb die jüdischen Wähler ihrer traditionellen Partei treu geblieben sind und dem demokratischen Lager nicht reihenweise den Rücken kehrten.
Auf den «grossen Satan» und den «kleinen Satan», die von Allahs Integristen denunziert wurden, zeigt man heute also mit dem Finger, man stellt sie an den Pranger der «internationalen Legitimität».
Doch hier hört die Ähnlichkeit bereits auf. Und nicht nur, weil der eine ein Riese ist und der andere ein winziges Land ohne Bodenschätze.
Denn die «internationale Gemeinschaft» - d.h. im Klartext die arabischen und muslimischen Staaten, die nicht Alliierten Staaten, die sie automatisch unterstützen, und die Europäer, die in der trügerischen Hoffnung, ihren alten Kontinent zu einem Sanktuarium zu machen, pausenlos auf ihre Nichteinmischung pochten – bittet zwar die USA, ins andere Lager zu wechseln, doch sie verlangt von Israel die Niederlegung der Waffen und den Verzicht auf den Kampf. Den einen bittet man umzudenken, seine Politik zu ändern; den anderen drängt man zur Metamorphose, zum Verzicht auf seine Existenzberechtigung.
Wie kann man sich sonst erklären, weshalb der Oberste Gerichtshof von Den Haag sich in seinem Urteil, das den zur Rettung von Menschenleben errichteten Sicherheitszaun als illegal bezeichnet, offenkundig weigert, den einzigen Grund für den Bau dieser Absperrung zu berücksichtigen, nämlich den Wunsch, die Israelis zu schützen? Wie kann man sich in Europa die bedingungslose (aus Prinzip erfolgte) Verurteilung antisemitischer Gewaltakte erklären, die verbunden ist mit herzhaften (tatsächlich erfolgten) Ermunterungen bezüglich der Delegitimierung der Bewegung für die Befreiung des jüdischen Volkes, des Zionismus?
Das Amerika von Bush oder von Kerry besitzt das Prestige, den Handlungsspielraum, die Zeit und die Macht, seine voluntaristische Einstellung etwas zu vertuschen. Es kann sich morgen zu seiner Schuld bekennen, eingestehen, dass es im Irak zu forsch vorgegangen ist, sich etwas zurückziehen, und zwar kraft einer in der Geschichte dieser Nation fest verwurzelten Tradition. Die USA können ohne erhebliches Risiko, ohne Zugeständnisse in wesentlichen Punkten – Schutz ihres Territoriums und ihrer Interessen weltweit – versuchen, wieder geliebt zu werden.
Die Situation des Staates Israel ist vollkommen anders. Vier Jahre nach dem bewusst herbeigeführten Ausbruch des palästinensischen Kriegs – mit über 1’000 Toten auf israelischer Seite, hauptsächlich in der Zivilbevölkerung, d.h. mehr als während des Konflikts von 1967 gegen die Armeen von drei arabischen Staaten – ergiesst sich weiterhin eine Flut von falschen Aussagen, offen zur Schau getragenem Hass, wütend ausgestossenen Boykott-Drohungen über eine Nation, der man ihre Weigerung vorwirft, sich vernichten zu lassen.
Unsere Mörder anklagen? Ein widerliches Verbrechen. Die Terroristen daran hindern, unsere Strassen zu benützen? Ein schwerer Verstoss gegen die Menschenrechte. Sich hinter Beton und Stacheldraht verschanzen? Eine Neuauflage der Berliner Mauer, ein Bauwerk gegen die Freiheit. Millionen von Feinden das Recht auf Rückkehr verweigern? Eine rassistische Politik, würdig der Apartheid.
Es ist fast ein Ding der Unmöglichkeit, eine sachliche Diskussion über Ursachen und Hintergründe zu führen, so systematisch intolerant ist die Einstellung gegenüber den Handlungen Israels geworden. Es ist nicht einmal mehr eine Meinung, es ist eine Glaubensfrage. Das palästinensische Volk ist gekreuzigt, so lautet heute die Wahrheit des neuen Evangeliums.
Verstehen Sie mich nicht falsch. Die Politik Israels der vergangenen vier Jahre unter den Regierungen Barak und Sharon wird sicher nicht als Inbegriff von Intelligenz und Humanismus in die Annalen eingehen. Sie wurde und wird immer wieder kritisiert, manchmal auch zu Recht, von der Linken oder von der Rechten oder vom Zentrum oder von jenen, die nicht mehr wissen, wer sie sind und wo sie sind. Fast jeder Israeli ist im Innersten davon überzeugt, dass er, «wenn er die Regierung wäre», die Krise angemessener handhaben würde. Es gibt die Verfechter der Dampfwalze und die Verfechter der Friedenstaube. Manchmal ist es ein und dieselbe Person. Sobald die Attentate ein paar Wochen lang fehlschlagen, ist für die Gemässigten die Zeit gekommen, Zugeständnisse vorzuschlagen. Wenn die Anschläge aber gelingen, dann predigen die Hartgesottenen wieder ein energisches Durchgreifen. Beide Seiten wissen eigentlich ganz genau, dass sich beim gegenwärtigen Stand der Dinge keinerlei Lösung abzeichnet. Es ist leicht, viel zu leicht, den aussen stehenden Kritikern zu sagen: Würdet ihr an unserer Stelle nicht ebenso handeln? Es gibt zahlreiche Fälle in der modernen Geschichte, in derjenigen Amerikas ebenso wie in derjenigen Europas, in denen sich die grossen zivilisierten Nationen als weitaus brutaler erwiesen haben als Israel, wenn schon nur ihre Interessen – nicht einmal ihre Existenz – auf dem Spiel standen. Viel zu einfach, nicht weil wir besser sein müssen – obwohl dies einige von uns erwarten –, sondern weil derartige Vergleiche sinnlos sind.
Angesichts dieses Gefühls der Isolation, angesichts der heuchlerischen Vorwürfe der Aussenstehenden wie auch angesichts der ungeduldigen Kritik der Einheimischen wird die israelische Regierung uneins, zersplittert, löst sich auf. Auch wenn die meisten Israelis sich für einen einseitigen Rückzug aus dem Gazastreifen aussprechen, wie Umfragen ergeben haben, ist im Likud und in den rechts stehenden Parteien, die bei den letzten Wahlen an die Macht kamen, keine befürwortende Mehrheit vorhanden. Welcher Mehrheit soll man folgen? Derjenigen der Umfragen? Derjenigen im Parlament, in dem auch antizionistische arabische Abgeordnete sitzen? Oder derjenigen der gewählten Exekutive? Sharons Plan steht auf wackligen Beinen. Seinen schönen Worten zum Trotz versteht man nicht, wie er diesen einseitigen Rückzug ohne Gegenleistungen zum geplanten Termin, d.h. Ende nächsten Jahres, wird verwirklichen können. Er hat jedoch nichts Besseres gefunden, um vielleicht einen Ausweg zu finden, um die Gefahr einer aufgezwungenen Lösung nach den amerikanischen Wahlen zu bannen.
Denn genau darum geht es, darum müssten wir uns Gedanken machen. Das Ende der amerikanischen Isolation kann recht leicht, zumindest zum Teil, mit israelischer Währung erkauft werden. Wir müssen uns Folgendes vor Augen führen: Wenn die USA 2005 beschliessen sollten, die Herzen in der Dritten Welt und sogar in Europa zurückzuerobern, indem sie Israel eine Politik diktieren, die unseren Interessen schadet, kurzfristig jedoch denjenigen Washingtons dienlich ist… wer könnte sie daran hindern? Die gefürchtete israelische Lobby? Die amerikanischen Neokonservativen? Die christlichen Fundamentalisten der USA? Dass ich nicht lache. Staaten sind kaltherzige Monster. Eine derartige Politik wäre überdies kurzfristig lohnenswert für sie.
Die Isolation Israels ist hingegen wieder zu einem grundlegenden Element unserer Existenz geworden. Es gibt mit Ausnahme des jüdischen Volkes in der Diaspora – wenn überhaupt – langfristig keinen bedingungslosen Alliierten, keine brüderliche Unterstützung, keine gemeinsame Sache.
Kurz vor Anbruch des neuen Jahres müssen wir natürlich vernünftig bleiben, etwas nachgeben vielleicht, um nicht zu brechen, vor allem aber mit einer Gewissheit leben: Der Unabhängigkeitskrieg Israels ist nicht zu Ende. Unsere Präsenz auf diesem Boden ist rechtmässig und berechtigt und niemand wird diese wunderbare Wirklichkeit je wieder in Frage stellen können.
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