P. ist ein 16-jähriger Teenager und besucht das Gymnasium. Er hat seinen Eltern vor kurzem mitgeteilt, dass er Marihuana raucht. Er gibt es also nicht nur offen zu, sondern scheint sich auch keineswegs dafür zu schämen und räumt ein, dass er diese Erfahrung ausserordentlich angenehm und entspannend findet; er ist sogar davon überzeugt, dass das Haschrauchen seine Schulleistungen verbessert und seinem sozialen Leben förderlich ist.
P. hat ausserdem einige Nachforschungen betreffend die Haltung der jüdischen Religion gegenüber dem Alkohol angestellt und entdeckte zu seiner grossen Überraschung, dass einige Quellen den – sogar täglichen! - Alkoholkonsum empfehlen. Es ist bekannt, dass die Halachah vorschlägt, am Schabbat und an Feiertagen ein Glas Wein zu trinken, in der Sedernacht von Pessach und am Tag von Purim dürfen es gar mehrere sein. Als seine erschütterten Eltern Einspruch erheben und auf die Nebenwirkungen von Marihuana verweisen, betont P., dass vertiefte Untersuchungen über drei Jahrzehnte nachgewiesen haben, dass die Nebenwirkungen des Alkoholmissbrauchs im Allgemeinen diejenigen des Haschischrauchens übersteigen. Und trotzdem, gibt er zu bedenken, sei der Konsum von alkoholhaltigen Getränken in der Halachah und im jüdischen Glauben nicht verboten, solange er mässig erfolge: ob es daher nicht einleuchte, dass Marihuana ebenso erlaubt sei?
Raw Mosche Feinstein, ein herausragender Halachah-Gelehrter des 20. Jahrhunderts, hält fest (Iggerot Mosche Bd. 6, Yoreh De'ah Abschnitt III, 35), dass es verboten sei, Marihuana zu rauchen, und gibt sechs Punkte als Begründung für diese Regel an:
1. Diese Angewohnheit kann die Gesundheit gefährden und bedeutende psychologische Schäden verursachen;
2. Sie beeinträchtigt die kognitiven Fähigkeiten des Konsumenten und macht es ihm unmöglich, seine Verpflichtungen gegenüber G’tt und seiner Familie wahrzunehmen;
3. Es ist verboten, sich einer Tätigkeit zu widmen, die zu einer physiologischen oder psychologischen Abhängigkeit führt; sie unterwirft den Menschen einem heftigen und unkontrollierbaren Verlangen, das im Gegensatz zum Appetit auf Nahrung für ein normales Leben nicht unerlässlich ist; darüber hinaus droht der Mensch zur Finanzierung seines immer dringenderen Verlangens in die Kriminalität abzugleiten;
4. Der Marihuana rauchende Mensch löst bei seinen Eltern, die zu Recht gegen diese Gewohnheit sind, Verzweiflung aus;
5. Wir sollen die Erfüllung weltlicher Freuden möglichst einschränken, wie schon Rabbi Mosche ben Nachman (Nachmanides) in seinem Kommentar zur Torah (Leviticus 19,2) sagt, und ganz bestimmt nicht neue Wünsche schaffen;
6. Diese Gewohnheit wird in den meisten Fällen zu einer Aufweichung der moralischen Grundsätze des Konsumenten führen, seine Hemmungen aufheben und ihn somit dazu bringen, die Gesetze der Torah zu verletzen.
Alle diese Begründungen erscheinen sehr überzeugend, doch in diesem Fall sollte auch der Konsum von Wein und Spirituosen verboten werden. Werden die Argumente gegen den Drogenkonsum nicht durch die Tatsache abgeschwächt, dass Wein nicht nur gestattet ist, sondern in gewissen Fällen von der Halachah sogar empfohlen wird?
Wenn man aber zum Weinkonsum die Haltung der Weisen untersucht, sieht man, dass sie ähnliche Vorbehalte anbringen. Im Talmud (Abhandlung Berachot 40a) bekräftigt Rabbi Meir, dass der verbotene Baum, dessen Frucht Adam ass, in Wirklichkeit eine Rebe war, denn er schreibt: «Was beim Menschen am meisten Klagen bewirkt, ist der Wein», wie schon geschrieben steht (Genesis 9, 20-21): «Noah aber, der Ackermann, pflanzte als erster einen Weinberg. Und da er von dem Wein trank, ward er trunken und lag im Zelt aufgedeckt.»
Gemäss dieser Ansicht, die in abgewandelter Form an verschiedenen Stellen im Talmud und im Midrasch aufgenommen wird, gelten der Wein – oder Alkohol – und seine verblödende Wirkung auf den Geist als die wichtigste Ursache für alle Leiden und alles Elend der menschlichen Gesellschaft. Ihm kann der Sturz Adams zugeschrieben werden, des Begründers der Menschheit, und auch derjenige Noahs, ihres zweiten Begründers, und zwar in dem Moment, als G’tt der Welt nach der Sintflut eine zweite Chance gewährt.
Aus dem Kommentar von Rabbi Meir geht hervor, dass alles, was am Denken oder an den Handlungen eines Menschen schlecht ist, einzig und allein einer Art Delirium zuzuschreiben ist, die entweder von einer chemischen Substanz herrührt oder aber der Phantasie des Menschen selbst entspringt. Solange er über intakte Fähigkeiten verfügt und seine Wahrnehmung der Umwelt nicht verfälscht ist, wird seine rationale Urteilskraft, sein Denken und seine Taten gemäss dem göttlichen Willen lenken. Folglich sind alle physiologischen oder psychologischen Phänomene, die eine Veränderung des Geistes bewirken, für alles Leid und alle «Klagen» dieser Welt verantwortlich. Diese Überlegungen erinnern stark an die oben angeführten Hauptargumente gegen den Marihuana-Konsum.
Mit derselben Logik erwähnt das Gesetz die Trunksucht in Bezug auf den abtrünnigen Sohn und zukünftigen Kriminellen (Deuteronomium 21, 18-21). Die Mischnah (Sanhedrin 70b) besagt, dass ein Junge «nicht zu einem frivolen und aufmüpfigen Sohn wird, ausser wenn er Fleisch isst und Wein trinkt». Es heisst im selben Sinne weiter (id. 71b), dass «der frivole und aufmüpfige Sohn im Hinblick auf sein endgültiges Schicksal beurteilt wird: es ist besser, er stirbt unschuldig, als dass man ihn schuldig (d.h. zum Delinquenten und Verbrecher) werden lässt ». Weil der Weinkonsum seine moralische Urteilskraft so stark beeinträchtigt, dass er bei der Befriedigung seiner Sucht keine Grenzen mehr kennt.
Wie kommt es also, wenn sich die Halachah bei diesen Fragen der Abhängigkeit und der Alkoholsucht so vorsichtig zeigt, dass das jüdische Recht uns das Weintrinken am Schabbat und an Feiertagen anrät? Wie soll man den folgenden Ausschnitt aus dem Talmud (Abhandlung Pessachim 109a) begründen: «R. Yehuda ben Batira lehrt: Als der Tempel existierte, waren keine Vergnügungen ohne Fleisch möglich, wie geschrieben steht ‘Und Dankopfer darbringen und dort essen und fröhlich sein vor dem Herrn, deinem G’tt’ (Deuteronomium 27, 7). Und auch heute, da der Tempel nicht mehr existiert, ist keine Vergnügung möglich ohne Wein, wie geschrieben steht, ‘dass der Wein erfreue des Menschen Herz’ (Psalmen 104, 15).» Es stimmt, dass der Wein ein Gefühl des Wohlbefindens verursacht und gute Laune verschafft, doch er führt auch zu einer geringeren Aufmerksamkeit und zu einem schlechteren Erinnerungsvermögen, selbst wenn wir ihn in geringen Mengen geniessen.
Versuchen wir diesem scheinbaren Widerspruch auf den Grund zu gehen, indem wir eine ähnliche Antonymie in einem anderen Bereich untersuchen. Gemäss Maimonides darf der Mensch sein Leben nicht gefährden (Gesetze über den Mord und den Schutz des Lebens, Kap. 9, 5), und wenn er gegen diese Regel verstösst, wird er mit Geisselung bestraft. Es ist ihm aber gestattet, eine Tätigkeit auszuüben, bei der er ein gewisses Risiko für sein Leben eingeht, wenn es sich damit seinen Lebensunterhalt verdient (Baba Metsia 112a, Iggerot Mosche ‘Choschen Mischpat Abschnitt I, 104). Rechtfertigt das Bedürfnis nach Sicherung der materiellen Existenz die Verachtung des Menschenlebens?
Diese Frage kann folgendermassen beantwortet werden: Von dem Moment an, da eine Tätigkeit von der Gesellschaft als akzeptabler Broterwerb anerkannt wird, gilt sie nicht mehr als Geste der Verachtung gegenüber dem Leben. Es werden Sicherheitsmassnahmen getroffen, Vorgehensweisen entwickelt, um die Gefahren möglichst gering zu halten usw. Seit Adam aus dem Garten Eden verjagt wurde, ist das Leben in der realen Welt unsicher geworden, das Überleben ist mit Schwierigkeiten verbunden. In gewissen Berufen gibt es einen akzeptablen und zulässigen Risikofaktor, doch es ist weiterhin streng verboten, sein Leben unnötigerweise aufs Spiel zu setzen, nur um einer Grenzerfahrung willen oder aus purer Unvorsichtigkeit. Es ist ebenfalls untersagt, selbst um seinen Lebensunterhalt zu bestreiten, an einem Ort zu arbeiten, an dem die Sicherheitsnormen am Arbeitsplatz nicht ausreichend respektiert werden.
Wir können den scheinbaren Widerspruch beim Weinkonsum ähnlich verstehen. Der Mensch ist nicht immer in Bestform, er urteilt nicht immer klar und ist nicht pausenlos gut gelaunt. Die Hektik des modernen Daseins oder bestimmte Umstände verwirren ihn manchmal oder bedrücken ihn gar. Der Wein kann diese Spannungen lösen und erlaubt es dem Menschen, sich wieder aufzuraffen, so wie auch ein vernünftiger Kaffeegenuss seine Konzentration fördern kann. Wenn er sich aber dem Alkohol hingibt, bis er völlig betrunken ist, macht er sich der Vernachlässigung seines Geistes schuldig. Eine derartige Neigung kann zu einem Rauschzustand führen, in dem er seinen Begierden und dem Bösen freien Lauf lässt. Die säkulare jüdische Tradition und ihre bewährten gesellschaftlichen Gepflogenheiten bilden den Rahmen, der den Weinkonsum auf ein vernünftiges und gesellschaftlich akzeptables Mass einschränkt. Dieser Rahmen bietet Sicherheitsmassnahmen in Übereinstimmung mit den sozialen Werten der Mässigung und mit den Idealen der Torah, welche die moralische Urteilskraft und die Art und Weise regeln, sich mit G’tt zu freuen.
Der regelmässige Weinkonsum eines «frivolen und aufmüpfigen» Jugendlichen, der sich den von seinen Eltern vermittelten Traditionen nicht unterwirft, wird verboten, weil er diesen Rahmen sprengt; analog dazu wird das Trinken von Alkohol allein oder in Gesellschaft ausserhalb der jüdischen Glaubensrituale zum Alkoholmissbrauch, der «das Elend der Welt» herbeiführt. Aus all diesen Gründen und aus Analogie ist das Rauchen von Marihuana streng verboten.
* Rabbiner Schabtai Rappoport leitet die Yeschiwah "Schwut Israel" in Efrat (Gusch Etzion). Er hat vor kurzem die letzten beiden Bände der Responsen herausgegeben, die von Rabbiner Mosche Feinstein, s.A., geschrieben wurden. Er entwickelt gegenwärtig eine Datenbank, die alle aktuellen Themen der Halachah umfasst. Richten Sie Ihre Fragen oder Kommentare an folgende E-Mail-Adresse: shrap@bezeqint.net
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