Unter den Ländern Zentraleuropas hebt sich Ungarn durch mancherlei von seinen unmittelbaren Nachbarn ab, wobei an oberster Stelle die Sprache steht, die mit denjenigen der Nachbarstaaten nichts gemein hat. Sie gehört zur Gruppe der finnisch-ugrischen Sprachen, zu der auch Finnisch, Lappländisch, Estnisch und einige baltische Dialekte gezählt werden und die Gemeinsamkeiten mit dem Mongolischen und Türkischen aufweist. Und die Juden in alledem? In der Vergangenheit und auch heute noch zeichnen sie sich durch eine enorme Identifikation und grossen nationalen Stolz gegenüber Ungarn aus. Sie waren in erster Linie Bürger jüdischen Glaubens, wie in Deutschland..., und diese so stark integrierte und assimilierte Gemeinschaft wurde fast vollzählig ermordet, wie in Deutschland. Um mehr über dieses Land, aber vor allem über die Ereignisse während des Zweiten Weltkriegs zu erfahren, haben wir EMERIC DEUTSCH getroffen, der in Ungarn geboren wurde und die Schoah überlebte. Er hat sich einverstanden erklärt, uns seine persönliche Geschichte vor dem entsprechenden historischen Hintergrund zu erzählen.
Können Sie uns, bevor Sie uns Ihre Lebensgeschichte erzählen, in wenigen Worten die besonderen Merkmale der Schoah in Ungarn beschreiben?
Der erste typische Aspekt der ungarischen Schoah besteht aus der Tatsache, dass diese schrecklichen Ereignisse erst gegen Ende des Krieges stattfanden. Natürlich war dies alles von langer Hand vorbereitet worden, denn in Ungarn existiert der Antisemitismus seit jeher und ist auch sehr charakteristisch. Von allen Ländern Ost- und Zentraleuropas wurden die Juden in Ungarn am besten behandelt und besassen die meisten Rechte. Erinnern wir uns daran, dass die ungarischen Juden mit der Emanzipation von 1867 fast dieselben Rechte erhalten hatten wie ihre Mitbürger: Abschaffung der Einschränkungen bei den Niederlassungsrechten, Aufhebung des Verbots von Grundeigentum und der Ausübung verschiedener Berufe; freier Zugang zu den obligatorisch gewordenen Sekundarschulen und zum Studium. Ungarn war nämlich ein teilweise autonomes Königreich innerhalb der österreichisch-ungarischen Monarchie. In dieser Hinsicht ist es interessant zu sehen, dass die Juden in Galizien, diesem grossen, zum Königreich gehörenden Gebiet Polens, keinesfalls dieselben Rechte besassen, ähnlich wie auch in Böhmen, wo ebenfalls regelmässig Verfolgungen stattfanden. Aus diesem Grund war Ungarn das Ziel einer jüdischen Immigration aus Deutschland, Böhmen und Galizien. Die aus den Gebieten westlich der Donau einwandernden Juden (Pressburg) stammten ursprünglich aus Morawien und sprachen Deutsch und Ungarisch. Diejenigen aus Polen, insbesondere aus Galizien, sprachen Jiddisch. Die Juden bildeten die Mittelschicht Ungarns und nutzten somit ihre neu erworbenen Freiheiten, um die gesamte Industrie sowie das künstlerische und kulturelle Leben zu entwickeln. Man muss sich im Klaren sein, dass sie sehr viel mehr Bedeutung hatten als in Deutschland, wo sie auch eine wichtige Rolle spielten (siehe SHALOM Nr. 41). Ungarn war nämlich ein feudalistisches Land, wo die Herrscher und Grossgrundbesitzer sozusagen kaum mit dem Volk zu tun hatten. Diese Leute arbeiteten nicht selbst, sondern stellten Verwalter ein (oft Juden), damit diese sich um den Gang ihrer Geschäfte kümmerten. Diese Verwalter waren die eigentlichen Vorgesetzten der Arbeiter und Bauern. Es gab fast keinen Handel. In den ländlichen Gebieten wurde der Dorfladen von Juden geführt; sie waren gezwungen, den Bauern ihre Ware auf Kredit zu verkaufen, die sie wiederum dafür hassten, dass sie ihnen Geld schuldeten. Parallel dazu wurden in Budapest kurz vor dem Zweiten Weltkrieg sämtliche Theater, ausser dem Nationaltheater, von Juden geleitet. Alle bedeutenden Verleger, Regisseure usw. waren Juden. Nach dem Erlass der antijüdischen Gesetze verliessen zahlreiche berühmte Regisseure Ungarn und reisten nach Amerika, wo sie oft eine phantastische Karriere machten, wie beispielsweise George Cukor, um nur einen der berühmtesten zu nennen. Es ist wichtig zu verstehen, wie sehr die ungarische Wirtschaft und Kultur von den Juden beeinflusst und entwickelt worden waren, es war ganz einfach phänomenal.
Sie haben die ersten antijüdischen Gesetze erwähnt. Wann traten sie in Kraft und was besagten sie?
Vor dem Ersten Weltkrieg betrafen die einzigen Einschränkungen, die für die Juden existierten, die Berufsarmee und die hohen Staatsfunktionen. 1918 brach die österreichisch-ungarische Monarchie zusammen, es folgte die kommunistische Revolution. Dem damals herrschenden Regime unter der Leitung von Bela Kun gehörten auf oberster Stufe zahlreiche Juden an. Ein grosser Teil der für den Staatsterror zuständigen Kommissare waren Juden und sie wurden dafür gehasst. Im Laufe des Jahres 1919 stürzte eine Gegenrevolution das kommunistische Regime. Die Aufstellung und Stabilisierung der neuen Regierung zog dann eine gewisse, gegen die Juden gerichtete Gewalt nach sich: in dieser unter dem Namen «weisser Terror» bekannten Zeit gab es ca. 3000 Todesopfer. Miklos Horthy von Nagybanya (1868-1957), Chef der kaiserlichen Leibgarde und Admiral, der die Gegenrevolution geleitet hatte, kam 1920 an die Macht und führte den staatlichen Antisemitismus ein. Die erste Massnahme bestand am 22. September 1920 aus der Einführung des Numerus clausus an den Universitäten, durch den die Zahl der Juden auf 6% beschränkt wurde. 1928 wurde diese Bestimmung zwar etwas gemildert, jedoch weiterhin beibehalten. Es gab aber zwei Ausnahmen für die Söhne von Anwälten und Ärzten, welche die entsprechenden Fakultäten besuchen durften. 60% der Anwälte und Ärzte in Budapest waren nämlich Juden. Graf Pal Teleki, Premierminister in den Jahren 1920-1921 und 1939-1941, arbeitete eigenhändig die antijüdischen Gesetze von 1920, 1939 und 1941 aus, die jeweils immer strenger und einschränkender wurden und deren Ziel der progressive Ausschluss der Juden aus dem öffentlichen Leben war: zunächst in den Universitäten, dann in bestimmten Berufen und schliesslich im kulturellen Leben, wie z.B. in der Oper oder im Journalismus. Seine Schriften beweisen, dass er gegenüber den Juden einen hartnäckigen Hass hegte. Er beging am 3. April 1941 Selbstmord. Doch trotz aller Restriktionen gab es jüdische Abgeordnete und Senatoren, ja sogar einen jüdischen Minister. Als die jüdische Religion anerkannt wurde, wurden orthodoxe und neologische Grossrabbiner als Vertreter der Juden im Senat ernannt. An dieser Stelle muss daran erinnert werden, dass die meisten antijüdischen Gesetze auf den Einfluss der Kirche zurückzuführen waren. Der Antisemitismus ist demnach nicht nur in den Gewohnheiten verankert, sondern gehört als fester Bestandteil zur ungarischen Kultur. Man muss sich vor Augen führen, dass wir hier den Finger auf einen der grundlegenden Aspekte der Schoah legen. Dies beweist nämlich, wie es gelingt, einen Teil der Bevölkerung zu stigmatisieren, indem man einfach sagt: «Sie sind anders als wir» - folglich minderwertig, d.h. eine Art «leichte Beute». Und schliesslich kann man interessanterweise feststellen, dass die jüdische Gemeinschaft trotz des staatlichen Antisemitismus und trotz der geltenden Gesetze nicht nur in der Gesellschaft integriert war, sondern auch eine tragende Rolle bei der wirtschaftlichen und auch kulturellen Entwicklung des Landes spielte. Es gab zahlreiche Synagogen und jüdische Schulen, darunter je ein Gymnasium für Jungen und Mädchen, die beide bis zur Matura führten, und vieles mehr.
Sie haben «neologische» Rabbiner erwähnt. Um welche Art jüdische Gemeinde handelt es sich dabei genau?
Hier drängt sich ein kurzer historischer Rückblick auf. 1887 forderte die Regierung in Wien von den Juden, sie sollten die Regeln für ihre Vertretung und ihre interne Organisation aufstellen. Es wurde ein grosser Kongress veranstaltet, an dem alle Vertreter der jüdischen Gemeinden des Landes teilnahmen. Auf der Tagesordnung standen einige grundlegende Fragen: wer darf Mitglied einer Gemeinde sein, welcher Rabbinertitel ist gültig (Ausbildung in einer Jeschiwah oder im Rabbinerseminar von Budapest), Vorhandensein einer Orgel in der Synagoge usw. Es stellte sich ziemlich bald heraus, dass keinerlei Einigung möglich war, und es kam zu einem historischen Bruch zwischen den neologischen und den orthodoxen Gemeinden, wobei beide vom Staat anerkannt wurden. Um das Ganze noch komplizierter zu machen, gab es eine dritte Gemeinschaft, die keiner der beiden anderen angehörte und die unter der Bezeichnung «Status quo» lief. Es existierten demnach Gemeinden mit drei Synagogen. Die Neologen waren keine liberalen oder konservativen Juden (im amerikanischen Sinne des Wortes), denn sie hatten die meisten Traditionen aufrechterhalten, jedoch eine Orgel in der Synagoge installiert, die von einem Nichtjuden gespielt wurde. Interessanterweise lebten die Gemeinschaften zwar recht unabhängig voneinander, doch die rituelle Schächtung erfolgte unter der Leitung der orthodoxen Gemeinde. Trotz dieses Schismas erlebte Ungarn eine Blüte des jüdischen Lebens mit allen möglichen Institutionen, die sehr aktiv waren, mit Jeschiwoth usw. Dazu muss gesagt werden, dass 25% der Budapester Bevölkerung, d.h. 250'000 Menschen, jüdisch waren. Die Hauptstadt stellte da keine Ausnahme dar, denn in zahlreichen anderen Städten machte die jüdische Bevölkerung 25%- 30% der Einwohner aus. Ebenfalls allen Gemeinschaften gemeinsam war die Tatsache, dass der Zionismus seltsamerweise in Ungarn kaum Fuss gefasst hatte. Zu diesem Thema gibt es einen berühmten Briefwechsel zwischen Theodor Herzl, der in Budapest geboren wurde, und den Verantwortlichen der Gemeinden. Letztere erklärten ihm, dass das jüdische Leben trotz ein wenig Antisemitismus im Allgemeinen angenehm und gut strukturiert verlaufe. Er antwortete ihnen in quasi prophetischen Worten: «Es ist möglich, dass die Exzesse des Antisemitismus Sie erst sehr viel später erreichen als die anderen, doch für Sie wird es umso härter sein».
Es gab also diese leicht paradoxe Situation, dass einerseits ein staatlicher Antisemitismus existierte, der antijüdische Gesetze erlassen und in der Bevölkerung zu einer tatsächlich vorhandenen Judenfeindlichkeit geführt hatte, und dass andererseits die Juden eine gewisse Protektion genossen und für Ungarn eine sehr tiefe patriotische Verbundenheit empfanden. Wie konnten diese beiden Realitäten nebeneinander bestehen?
Die Juden wurden irgendwie von Horthy protegiert, der selbst viele jüdische Freunde hatte. Seine Theorie und diejenige seiner antisemitischen Berater lässt sich folgendermassen zusammenfassen: «Der Einfluss der Juden muss eingeschränkt werden – sie müssen nach und nach in der Industrie und in der Kultur ersetzt, doch sie dürfen nicht umgebracht werden». So kam es, dass 1941, als die Deutschen Horthy zur Deportation der Juden aufforderten, dieser nur die staatenlosen Juden deportieren liess. Weil die Deutschen nicht wussten, was sie mit ihnen anfangen sollten, da Auschwitz noch nicht bestand, wurden 30'000 Juden vor Ort von den Ungarn und den Deutschen in Ungarn selbst, in Kamenets-Podolski, ermordet. 1938 wurde aufgrund des steigenden Einflusses der rechtsextremen Kreise und ihrer Sympathie für Nazideutschland dem Parlament das «Erste Antijüdische Gesetz» vorgelegt. Es sollte die Zahl der Juden in selbstständigen Berufen, in Verwaltung, Handel und Industrie auf 20% reduzieren. 1939 wurde das «Zweite Antijüdische Gesetz» verabschiedet, es strebte eine Reduktion der Juden in wirtschaftlichen Tätigkeiten auf 6% an und beschränkte ihre politischen Rechte ebenfalls auf 5%. In der Folge traten in den Gemeinden zahlreiche Sozialfälle auf. Und schliesslich erliess man 1941 das «Dritte Antijüdische Gesetz», in dem definiert wurde, wer aufgrund der Nürnberger Gesetze als Jude galt, und das gemischte Ehen verbot. So war gegen Mitte des Jahres 1941 die jüdische Bevölkerung aus Politik, Wirtschaft, Kultur und Gesellschaft praktisch ausgeschlossen. 1941 trat Ungarn an der Seite der Achsenmächte (Italien und Deutschland) in den Krieg ein und holte sich eine Reihe von Gebieten in Rumänien und in der Tschechoslowakei zurück. Die ersten Massnahmen bestanden darin, sich mit den Juden zu befassen und das erste Gesetz einzuführen, kraft dessen sie aus der Armee ausgeschlossen wurden. Damit diese Bestimmung aber nicht einem Privileg gleichkam, führte Ungarn die «Arbeitsbrigaden» ein, in die alle Männer im dienstfähigen Alter abkommandiert wurden, unter ihnen auch mein damals 55-jähriger Vater. Was diesen Schritt so schlimm machte, war die Tatsache, dass ein Teil dieser Brigaden in die Ukraine geschickt wurde, wo 35'000 bis 40'000 Juden umgebracht wurden (man geht davon aus, dass knapp 50'000 Juden an der Ostfront standen). In der Tat, als die ungarische Armee 1942 am Fluss Don durch die Rote Armee in die Flucht geschlagen wurde, rächten sich die ungarischen Soldaten an den Juden, die somit von den Ungarn ermordet wurden. Im selben Jahr kam es zu weiteren grossen Verlusten, als im Januar ungarische Gendarmen 1’000 Juden in Novi-Sad und in Bacska massakrierten. Trotz allem muss man sagen, dass Ungarn zwar zu den Alliierter Deutschlands gehörte, dass die ungarische Regierung aber die Deportation der Juden mit ungarischer Staatsbürgerschaft ablehnte, und zwar bis zur tatsächlichen Besetzung des Landes durch die Deutschen im Jahr 1944.
Was geschah 1944?
Am 18.März 1944 marschierten die Deutschen in Ungarn ein und ab dem 15. April waren die Juden aus der Provinz bereits in Ghettos gepfercht worden. Dazu muss ich hinzufügen, dass die in die Arbeitsbrigaden abkommandierten Juden in der ungarischen Armee integriert blieben und nicht deportiert wurden. Auf diese Weise wurden mein Bruder und ich gerettet. Die Juden wurden unglaublich schnell ihrer grundlegenden Rechte (Reiseverbot, Verbot Nichtjuden einzustellen, über Telefon oder Radio zu verfügen usw.) und ihres Besitzes beraubt. Ab Mai setzten die Deportationen ein. Das Vorgehen muss hier erläutert werden: Zunächst fand die Ghettoisierung statt, d.h. das Zusammenpferchen von Tausenden von Menschen in einem Quartier in der Nähe der Synagoge. Dann brachte man den grössten Teil der jüdischen Bevölkerung in Ziegelfabriken unter, deren Besonderheit daraus bestand, dass sie zwar ein Dach besassen, aber keine Wände, damit die Ziegel trocknen konnten. Es ist unnötig zu betonen, dass diese Menschen unter unmenschlichen Bedingungen in den Fabriken hausten und daher erleichtert waren, als sie die Züge heranrollen sahen. Ich habe persönlich einer Deportation beigewohnt. Am 12. Juni 1944, als wir nach einem Arbeitstag nach Hause kehrten, wurden wir von ungarischen Soldaten und zwei SS-Leuten umringt, die uns zum Bahnhof führten, wo die Juden in einen Zug gepfercht wurden. Wir mussten unsere Taschen leeren, unsere Militärarmbinden ablegen und in den Zug klettern. Zufällig befand sich in meiner Tasche die Kopie eines Immunitätszertifikats, das mir mein Vater, der dem jüdischen Rat der Stadt angehörte und dort die orthodoxe Gemeinde vertrat, gegeben hatte. Es war unterzeichnet von einem sehr hohen SS-Obersturmbannführer. Ich ging zum SS-Kommandanten, der die Deportation überwachte, und zeigte ihm mein Zertifikat. Beim Anblick der darauf stehenden Unterschrift nahm er Habachtstellung ein und sagte: «Tut mir leid, ich kann Sie nicht deportieren». Neben ihm stand ein Kommandant der ungarischen Gendarmerie, der kein Deutsch verstand. Er fragte mich, was los sei, und ich begann zwischen beiden Männern zu dolmetschen. In der Zwischenzeit war einer meiner Kameraden geflüchtet und hatte das ungarische Kommando darüber informiert, dass man «Arbeiter der Armee» deportiere. Der ungarische Oberstleutnant sprang in sein Auto und erschien am Ort des Geschehens. Ich erlebte eine Diskussion mit folgendem Schluss mit: Diejenigen, die sich bereits im Zug befanden, sollten fahren, die anderen mussten bleiben. Dieser ungarische Oberstleutnant hat immerhin 250 Juden das Leben gerettet. Ich sah aber Kinder und Greise abfahren, von denen ich wusste, dass viele von ihnen die Reise nicht überleben würden.
Diese Episode zeigt die Effizienz, mit der die Deportationen durchgeführt wurden. Innerhalb von 54 Tagen wurden 450'000 Menschen deportiert, während die Russen 200 km von den Karpaten entfernt waren. Die Deutschen und die Ungarn hatten nur eine Sorge: Die Deportation der Juden! Hier muss betont werden, dass die Deutschen, die ahnten, dass Veränderungen bevorstanden, ein wenig zögerten, dass aber die ungarische Gendarmerie und die ungarischen Eisenbahner nicht einfach nur kollaborierten, sondern die von den Deutschen geplante düstere Arbeit ausführten. Bei ihrer Ankunft in Auschwitz wurden die ungarischen Juden sofort in die Gaskammern geschickt, denn im Lager gab es keinen Platz, keine Arbeit, keine Nahrungsmittel mehr. Man geht im Allgemeinen davon aus, dass ein Drittel der in Auschwitz getöteten Menschen ungarische Juden waren. Darüber hinaus mussten die meisten nach Juli 1944 in Auschwitz eingetroffenen ungarischen Juden an den Todesmärschen nach Buchenwald, Mauthausen und Dachau teilnehmen und starben dabei an Erschöpfung oder Krankheit.
In Budapest selbst gab es kein Ghetto und Horthy versuchte dem Krieg zu entkommen. Am 15. Oktober 1944 fand aber ein Staatsputsch statt, der Chef der antisemitischen Partei der gekreuzten Pfeile, Ferenc Szalasi, kam an die Macht. Damit begann der Terror, ein Ghetto entstand und zwischen dem 15. Oktober 1944 und dem 18. Januar 1945 wurden 50'000 bis 60'000 Juden deportiert. Die gesamte Deportation erfolgte zu Fuss, da es keine Züge mehr gab, und so erfroren zahlreiche Menschen oder sie starben aus Erschöpfung. Dieses Massaker an den Juden erfolgte sehr systematisch, in den jüdischen Spitälern, am Ufer der Donau usw. wo 20'000 Juden ermordet wurden. Man geht davon aus, dass fast 100'000 Menschen in den letzten Monaten der Schoah in Budapest ihr Leben verloren haben, was praktisch 50% der jüdischen Bevölkerung ausmacht.
1944 war die Schoah schon weit fortgeschritten. Wussten Sie, was vor sich ging?
Wir hatten keine Ahnung von den Gaskammern, doch uns war bekannt, dass es Lager gab, in denen man Menschen umbrachte. Ich persönlich gehörte der Organisation Haztalah an. Wir wussten, dass wir Juden zum Preis von US$.50,-- pro Person zurückkaufen konnten!
Das Ausmass der Situation wurde mir erst richtig bewusst, als ich eine Deportation miterlebte. Wir wussten nicht, was in den ländlichen Gegenden des Landes geschah. Von da an hatte ich ein einziges Ziel vor Augen: nicht deportiert zu werden. Irgendwann bin ich aus dem Arbeitslager geflohen und ging nach Budapest, wo ich bei der Herstellung falscher Schweizer «Schutzpässe» mithalf. Ich wurde erwischt, geschlagen und gefoltert, bevor ich mich durch Untertauchen in der Donau retten konnte, wo ich erschossen werden sollte. Schliesslich flüchtete ich ins Schweizer Haus, wo ich zusammen mit fast 4'000 anderen ungarischen Juden wie durch ein Wunder überlebt habe.
Abschliessend möchte ich den jüdischen Widerstand erwähnen, der von jungen, äusserst mutigen und intelligenten Zionisten gebildet wurde. Sie wollten keine Deutschen oder Ungarn töten, sondern möglichst viele Juden retten.
Und zum Schluss eine Frage zur Aktualität. Sie haben diese schreckliche Phase unserer Geschichte miterlebt. Heute stehen wir vor der paradoxen Situation, in der man sich einerseits darum bemüht, die Erinnerung aufrechtzuerhalten, während wir andererseits mit ansehen müssen, wie eine neue Flut von aktivem Antisemitismus überall auf der Welt auftritt. Wie soll man Ihrer Ansicht nach über die Schoah informieren und gleichzeitig den Antisemitismus tatkräftig bekämpfen?
Damit die Information über die Schoah sich als sinnvoll erweist, muss man mit den Anfängen beginnen und die Entwicklung erklären. Man muss wiederholen, dass die geringste judenfeindliche Beleidigung wie z.B. «Judenschwein» einen ersten Schritt in Richtung Auschwitz darstellt.
Die zweite Phase ist wesentlich schwieriger, denn da kommt unsere Identität ins Spiel. Die Schoah ist etwas Besonderes, weil wir ein besonderes Volk sind. Hierin liegt die Schwierigkeit, die meisten von uns lehnen eben diese Besonderheit nämlich ab und wünschen sich, «wie alle» zu sein, sich gar zu assimilieren. Im Bereich der Erziehung muss daher eine spezielle Anstrengung unternommen werden, um die Juden vom besonderen Charakter ihrer Einzigartigkeit zu überzeugen. Eine der Quellen des Antisemitismus wurzelt ja in der Auserwähltheit des jüdischen Volkes. Ausserdem löst der ausserordentliche Erfolg des Staates Israel, wie z.B. auf wissenschaftlicher und technologischer Ebene, heftige Eifersucht aus, ein weiteres Element des mit Anti-Israelismus verknüpften Antisemitismus.
Was den Kampf gegen den Antisemitismus angeht, muss man sich klar machen, dass dieses Übel nicht so einfach aus der Welt geschafft werden kann. Es ist eine Art Krankheit, die unheilbar ist, aber deren Symptome erfolgreich bekämpft werden können. Dies beginnt damit, dass man jede Form der Beleidigung ablehnt. Auch wenn man weiss, dass man den Prozess nicht gewinnen kann, muss man auch die kleinste Aggression der Polizei mitteilen. Es geht darum, den Schaden zu begrenzen. Darüber hinaus müssen die Schuldigen beim Namen genannt werden, und wenn es ein Muslim ist, der sich judenfeindlich verhält, so muss dies laut und deutlich ausgesprochen werden.
Der Kampf gegen die Judenfeindlichkeit besteht aus drei Phasen, die ineinander greifen: Information über die Geschichte – Verstärkung unserer Identität – entschlossene, nachdrückliche Reaktion auf den geringsten Vorfall.
Der Bericht und das Leben von Emeric Deutsch sind reich an Episoden und verblüffenden Entwicklungen und könnten ein dickes Buch füllen. Heute lebt er nach einer phantastischen Karriere in Frankreich mit seiner Frau in Jerusalem.
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