Seit dem 1. Juli 2003 präsidiert Italien
die Europäische Union. Einen Monat vor
dem Antritt der Präsidentschaft unternahm
der italienische Ministerpräsident
Silvio Berlusconi eine Reise nach Israel,
die einige Aufmerksamkeit erregte. Er
lehnte es nämlich als erster europäischer
Spitzenpolitiker ab, den Terroristen Arafat
zu treffen. Um den gegenwärtigen
Stand der Beziehungen zwischen Italien
und Israel besser zu verstehen, haben
wir uns nach Rom begeben, wo wir mit
S.E. EHUD GOL zusammentrafen, dem
israelischen Botschafter in Italien und
dem Botschafter ohne Residenz in Albanien,
Malta und San Marino.
Wie schätzen Sie die Beziehungen zwischen den beiden
Ländern gegenwärtig ein?
Der Besuch von Premierminister Silvio Berlusconi,
den ich sofort und in mehrfacher Hinsicht als grossen
Erfolg bezeichnen würde, bewies auf eindrückliche
Art, dass die bilateralen Beziehungen zwischen Italien
und Israel in jeder Hinsicht ausgezeichnet sind, und zwar in allen wichtigen Bereichen. Sie haben sich insbesondere
noch verbessert, seit die beiden gegenwärtigen
Ministerpräsidenten im Amt sind. Der Staatsbesuch
von Berlusconi war eigentlich ein Gegenbesuch,
da Sharon im Juli 2002 nach Rom gereist war.
Wenn ich unsere Beziehungen als in jeder Hinsicht
ausgezeichnet beschreibe, so möchte ich damit zum
Ausdruck bringen, dass es sich wirklich um eine tiefe
Verbindung handelt, die weit über die reine Politik
hinausgeht. So wurde beispielsweise ein umfassendes
Bildungsprogramm eingeführt, um das Verständnis
für uns zu erhöhen. In Europa gilt der 28. Januar als
Gedenktag für die Schoah. In keinem anderen
europäischen Land wird dieser Gedenktag so bewusst
begangen wie in Italien, wo in den Schulen unzählige
Veranstaltungen und Vorträge stattfinden. Im ganzen
Land werden diverse Anlässe durchgeführt, von denen
sehr viele unter der Schirmherrschaft der Regierung
stehen.
Ich möchte betonen, dass die Weigerung des italienischen
Premierministers, mit Arafat zusammen zu treffen,
nicht nur den Beweis seines Mutes und seiner politischen
Entschlossenheit erbringt, sondern auch einem
deutlichen Abweichen von der politischen Linie der
anderen Europäer gleichkommt, die Arafat weiterhin
ihre Aufwartung machen. Es trifft zwar zu, dass Berlusconi
auf Drängen von US-Präsident Bush nach
Ägypten und Jordanien reiste, doch dabei handelt es
sich immerhin um zwei arabische Länder, mit denen
wir Friedensverträge unterzeichnet haben. Man muss
sich klar machen, dass dieses Vorgehen kurz vor dem
Antritt der EU-Präsidentschaft den Beziehungen zwischen
Europa und Israel eine neue Dimension verlieh.
Dies ist umso wichtiger, als Europa ab Januar 2004
zehn weitere Mitglieder zählen wird, bei denen die
Vermutung nahe liegt, dass sie eher bereit sein werden
pro-amerikanische Positionen zu vertreten als die traditionelle
Politik des «alten Europas». Eine Reihe von
Besuchen der Premierminister von früheren UdSSRRepubliken
hat uns überdies bewiesen, dass sie Arafat
nicht unterstützen, da sie alle ein Treffen mit ihm ablehnten.
Sie alle kamen einzig und allein zu einem bilateralen
Besuch nach Israel. Die EU-Präsidentschaft
Italiens beginnt folglich zu einem entscheidenden
Zeitpunkt. Die Länder, welche die Ansichten der Vereinigten
Staaten teilen, die Bedürfnisse Israels verstehen
und im Grossen und Ganzen unseren Standpunkt
in Bezug auf eine wünschenswerte europäische Nahost-
Politik im kommen Jahr teilen, werden immer
wichtiger. Ich kann also mit gutem Grund davon ausgehen,
dass wir während der italienischen Präsidentschaft
Stellungnahmen erleben werden, die sehr deutlich
von der bisher üblichen und obligatorisch israelkritischen
politischen Linie Europas abweichen werden.
Im Hinblick auf die früheren Freundschaftsbekundungen
von Silvio Berlusconi ist es meiner
Ansicht nach wichtig daran zu erinnern, dass wir
damals, als im Dezember 2001 der arabische Terror
Israel besonders brutal heimsuchte, einen Solidaritätsabend
in der grossen Synagoge von Rom organisiert
hatten, an dem 2000 Menschen teilnahmen und an
dem auch Silvio Berlusconi anwesend war, um sein
Mitgefühl und das Mitgefühl Italiens kundzutun. Er
ergriff das Wort und sagte, wie sehr er die täglichen
Schwierigkeiten begreife, mit denen die israelische
Bevölkerung angesichts des blutigen Terrors zu kämpfen habe. Anlässlich seiner jüngsten Reise nach Israel
beschloss er ausserdem ganz spontan, kurz vor seiner
Abreise, die italienische Synagoge von Jerusalem aufzusuchen
und dort eine Rede zu halten.
Darüber hinaus muss man wissen, dass das Jahr 2003
mit mehreren offiziellen Besuchen aus Italien begonnen
hat. Der Präsident des Senats, der Präsident des
Parlaments und verschiedene Minister reisten nach Jerusalem.
Ich bin gar der Überzeugung, es sei nun die
Zeit gekommen, dass Gianfranco Fini, Vizepräsident
des Ministerrats und Präsident der rechtsextremen
Partei «Alleanza Nationale» (deren Ursprünge auf
Mussolini zurückgehen), der in der Regierung Berlusconi
umstritten ist, nach Jerusalem kommt. Er hat
übrigens an den Empfängen von Jom Haatsmauth teilgenommen,
an denen er die Regierung vertrat und in
seinen Reden Israel unterstützte.
Glauben Sie, dass Italien im Verlauf seiner EU-Präsidentschaft
in der Lage sein wird, seine eindeutig proisraelischen
Positionen beizubehalten?
Ich hoffe, dass das Land von den europäischen Kollegen
nicht zu stark unter Druck gesetzt wird und weiterhin
seine gegenwärtigen Standpunkte vertreten kann,
ohne sich der traditionellen Linie Europas zu beugen.
Ich gebe mich aber keinen Illusionen hin und ich weiss,
dass Silvio Berlusconi einen schweren Stand haben
wird. Ich denke nicht, dass Italien einen radikalen politischen
Wandel erleben wird, es wird vielmehr eine
Reihe von kleinen Zugeständnissen machen müssen
und wird einen sehr geringen Einfluss auf die Nahost-
Politik der anderen Mitgliedstaaten der Europäischen
Union ausüben. Wir haben beispielsweise darum
ersucht, dass Hamas und Hizbollah in die Liste der
Terroristenorganisationen aufgenommen werden. Bis
heute sind aber weder Italien noch Europa auf dieses
Gesuch eingegangen; während seiner Präsidentschaft
wird Italien diesen Schritt wohl nicht unternehmen,
aber vielleicht danach.
Wie erklären Sie sich dieses wohlwollende Haltung gegenüber
Israel?
Silvio Berlusconi hat schon immer Freundschaft für
Israel empfunden. Er hatte Israel besucht, als er noch
Oppositionsführer war. Es überrascht, dass er seiner
Linie auch nach der Machtübernahme immer noch
treu bleibt. Ausserdem geht Berlusconi davon aus,
dass eine pro-amerikanische und eine pro-israelische
Einstellung Hand in Hand gehen. Er pflegt auch ausgezeichnete
private Beziehungen zu Ariel Sharon und
schliesslich glaube ich in aller Bescheidenheit behaupten
zu können, dass wir in der Botschaft unsere Arbeit
richtig erledigen. Es gibt in Italien eine sehr aktive
Vereinigung für die italienisch-israelische Freundschaft,
die hauptsächlich aus Nichtjuden besteht und
alles unternimmt, um die Botschaft Israels zu verbreiten
und uns dadurch mehr Unterstützung zu gewinnen.
Ich kann die Ergebnisse dieser Bemühungen
ermessen, wenn ich die kleinen Städte im Norden
Italiens oder in Sizilien aufsuche, wo keine Juden
leben und wo ich immer begeistert empfangen werde.
Uns stehen also viele Freunde zur Seite und ich kann
behaupten, dass wir angesichts dieser Einstellung
unsere engsten europäischen Verbündeten in Italien haben, und zwar nicht nur auf Regierungsebene.
Dennoch heisst dies natürlich nicht, dass alle Italiener,
vor allem die politisch motivierten, nicht bedingungslos
hinter Israel stehen. Gewisse Zeichen trügen aber
nicht, und zur Veranschaulichung meiner Worte
möchte ich ein bezeichnendes Beispiel anführen, das
ich vor kurzem erlebt habe. Ich kam in eine kleine
Stadt im Norden von Italien, um die Medaille der
Gerechten von Yad Vaschem zwei Menschen zu überreichen,
die während der Schoah unter Lebensgefahr
Juden versteckt und gerettet hatten. Die Feier fand in
Anwesenheit des Bürgermeisters und der Honoratioren
der Stadt auf dem Marktplatz statt. Die Veranstaltung
war also öffentlich und es waren an diesem
Abend tausend (!) Menschen gekommen, um ihre
Sympathie für Israel und für die geehrten Personen
zum Ausdruck zu bringen. Hinterher ging ich zusammen
mit Romano Prodi zum Friedhof von Ravenna,
um der 39 Juden zu gedenken, die im Rahmen der
jüdischen Brigade aus Palästina gekommen waren und
ihr Leben für die Befreiung Italiens geopfert hatten.
Auch diese Geste wurde von einer eindrücklichen
Menge von Sympathisanten begleitet.
Glauben Sie, dass eine Art Schuldgefühl dahinter steckt
in Bezug auf das Leid, das die jüdische Gemeinschaft
während der Schoah in Italien erlebt hat?
In einem gewissen Sinne ja. Schon seit einiger Zeit
haben die Italiener begriffen, dass die Rassengesetze
ein schwerer Fehler waren, nicht nur für die Juden, die
seit Generationen hier lebten, sondern auch für das
gesamte Land. Es wird alles unternommen, um die
Fehler der Vergangenheit wieder gutzumachen. Deswegen
wird der Tag der Schoah auf so eindrückliche
Weise gefeiert, wie ich weiter oben erwähnte.
Wie steht es um den wirtschaftlichen Austausch zwischen
den beiden Ländern?
Ich gebe zu, dass der Handel nicht sehr befriedigend
verläuft. Wenn man weiss, dass Italien die weltweit
sechstgrösste Wirtschaftsmacht darstellt und dass der
Handel mit Israel nicht einmal drei Milliarden Dollar
pro Jahr erreicht, bleibt in meinen Augen noch sehr
viel zu tun. Mit diesem Ziel bemühen wir uns ganz
besonders darum, den Austausch zu fördern, und zwar
nicht mehr auf globaler Ebene zwischen beiden Staaten,
sondern direkt zwischen Israel und den einzelnen
Regionen, aus denen sich Italien zusammensetzt.
Welchen Einfluss haben die arabischen Staaten in
Italien?
Die muslimische Bevölkerung ist deutlich kleiner als
in anderen europäischen Ländern. In Rom steht jedoch
die grösste Moschee Europas und an den italienischen
Universitäten studieren Tausende von jungen
Arabern. Sie sind politisch sehr aktiv und ich muss zugeben,
dass unsere Anliegen an den Hochschulen auf
verlorenem Posten kämpfen. Dies ist in erster Linie
darauf zurückzuführen, dass wir nicht über die finanziellen
Mittel verfügen, dieser Masse von arabischen
Studenten etwas gegenüberzustellen: ihr Aufenthalt
und ihr Studium werden vollumfänglich von arabischen Staaten bezahlt. Wir versuchen diese Situation
auszugleichen, indem wir sowohl in der nationalen wie
auch in der lokalen Presse stark präsent sind. In diesem
Bereich verzeichnen wir eine Reihe von Erfolgen,
obwohl wir uns bewusst sind, wie ernst die Lage an den
Universitäten ist und welche Risiken für die Zukunft
damit verbunden sind. Wir können diesen Zustand
nicht ändern, doch wir bemühen uns um Schadensbegrenzung.
Der israelische Botschafter in einem bestimmten Land
ist auch der Botschafter des hebräischen Staates für
die dortige jüdische Gemeinschaft. Wie sehen die
Beziehungen der italienischen Gemeinschaft zu Israel
aus?
Es ist so, dass jede Familie einen mehr oder weniger
nahe stehenden «Vertreter» hat, der bereits in Israel
lebt. Man zählt heute ca. 30’000 Juden in Italien und
ungefähr 15’000 italienische Juden in Israel. Der
Kontakt ist sehr intensiv, und seit dem Beginn der
Terrorakte in Israel sind rund 20’000 italienische Touristen
ins Land gereist, die meisten von ihnen Juden.
Jedes Mal aber, wenn ich an einer Veranstaltung in
einer Gemeinde oder Synagoge teilnehme und alle
Freundschafts-, Liebes- und Unterstützungsbezeugungen
gegenüber Israel sehe, bin ich von Zufriedenheit
erfüllt. Ich möchte darauf hinweisen, dass wir im vergangenen
Jahr in direkter Zusammenarbeit mit der
Gemeinschaft und einer Reihe von nichtjüdischen Organisationen
einen Tag zugunsten von Israel veranstaltet
haben, an dem 15’000 Menschen teilnahmen und
mit israelischen Flaggen durch die Stadt marschierten.
Können Sie uns einige Worte über die Beziehungen zwischen
Malta, Albanien, San Marino und Israel sagen?
Die Rolle von Malta hängt vor allem mit der geografi-
schen und strategischen Position der Insel zusammen,
die Libyen genau gegenüber liegt. Ausserdem wird das
Land demnächst Mitglied der EU. Ich reise so oft wie
möglich dorthin, denn aus den oben erwähnten Gründen
ist es wichtig für uns, gute Beziehungen zu diesem
kleinen Staat mit seiner sehr aktiven, wenn auch zahlenmässig
geringen jüdischen Gemeinde aufrecht zu
erhalten.
Albanien hingegen ist ein muslimisches Land in Europa,
das in Bezug auf die Beziehungen zu den Balkanstaaten
eine nicht zu unterschätzende Rolle spielt.
Ich denke, Albanien wird sich irgendwann auch der
EU anschliessen. Unsere Kontakte sind gegenwärtig
nicht von besonders grosser Bedeutung, doch wir versuchen
sie zu verstärken. Während der Schoah haben
viele Albaner Juden gerettet, ich habe daher bereits
zwei Medaillen der Gerechten von Yad Vaschem albanischen
Dorfbewohnern überreicht, die ihren jüdischen
Nachbarn das Leben retteten. An dieser Stelle
sollte daran erinnert werden, dass Albanien eines der
wenigen europäischen Länder ist, wo nach dem Ende
der Schoah mehr Juden lebten als zu Beginn des
Krieges. Dies heisst, dass zahlreiche Juden hier Unterschlupf
fanden. Heute sind es nur noch einige wenige
Juden, die in Tirana wohnen.
San Marino wiederum, die älteste Demokratie Europas,
ist zwar ein kleines Land, mit dem wir aber ganz
normale diplomatische Beziehungen unterhalten. In
diesem Land leben keine Juden.
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