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Inhaltsangabe Reportage Herbst 2003 - Tischri 5764

Editorial - September 2003
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Rosch haschanah 5764
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Politik
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Inerview
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Strategie
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Reportage
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Die Bettlerin von Jerusalem

Von Roland S. Süssmann
Natürlich sind sie unangenehm und nerven, die Bettler, die uns in den kurzen Augenblicken der Einkehr an der Kotel Hamaaravi («Klagemauer») stören. Wenn wir auf unser wichtigstes Heiligtum zugehen, bereiten wir uns alle mit Geist, Herz und Seele darauf vor, in der Hoffnung, still Einkehr halten und einen Moment der innigen Zwiesprache mit unserem Innersten erleben zu können, mit uns selbst allein zu sein. Und genau dann passiert es ! Jemand spricht uns an, wir hören eine unangenehme Stimme, man fasst uns an die Schulter oder streckt uns auch die hohle Hand hin - und schon ist alles futsch. In dieser Situation lösen sich alle unsere guten Vorsätze in Luft auf und machen der Wut Platz.

Haben denn diese Bettler an der Kotel gar keinen Respekt? Wissen sie sich nicht zu benehmen? Können sie sich nicht kurz gedulden? Ich persönlich habe immer eine gewisse Sympathie für sie empfunden, trotz all ihrer Fehler und ihrer scheinbaren Aggressivität, und ich habe beim Gespräch mit ihnen gemerkt, dass die meisten viel Sanftmut ausstrahlen, auch wenn sie in ihrem bescheidenen Bereich ungemein geschäftstüchtig sind und das ihnen Zustehende bei jeder Gelegenheit mit Händen und Füssen verteidigen.
Wir wollten diesen Teil der Gesellschaft Jerusalems besser kennen lernen und haben zu diesem Zweck ein langes Gespräch mit LEWANAH COHEN geführt, die seit über 22 Jahren den Beruf der Bettlerin im jüdischen Viertel von Jerusalem, in Rowah, ausübt. «Lunah», wie sie von ihren Freunden genannt wird, ein altes, vor Charme sprühendes Weiblein, ist gebildet, humorvoll und besitzt keine Illusionen mehr, da das Leben sie nie mit Samthandschuhen angefasst hat. Eine Unterhaltung mit ihr kann recht aufschlussreich und amüsant sein. Sie hasst ihre Leidensgenossen aus tiefstem Herzen und diese zahlen es ihr mit gleicher Münze heim; dennoch hat sie zahllose Freundinnen.
Lunah wurde 1936 als jüngstes von sieben Kindern in Jerusalem geboren, ihre Eltern stammten aus Isfahan. Sie absolvierte eine ganz «normale» Schulzeit in einem Institut der Alliance Française und begann dann als Verkäuferin für Damenkleider auf den Märkten zu arbeiten. Dank dieser Tätigkeit spricht sie heute fliessend Jiddisch und Arabisch, ausserdem auch Französisch, Spanisch und Ladino. Als junge Witwe und Mutter von vier Kindern musste sie sich ihren Lebensunterhalt mit harter Arbeit verdienen, als sie - gemäss ihren eigenen Worten - noch «jung und stark» war. Doch dann wurde sie 1974 in ihrer Wohnung brutal von zwei Drogensüchtigen angegriffen, die sie fesselten und schlugen und ihr schliesslich das wenige Geld und den bescheidenen Goldschmuck stahlen, den ihr ihre Eltern vererbt hatten. Dies war ein schrecklicher Schock für Lunah und sie hat sich psychisch nie ganz davon erholt. Infolge von Krankheit, Schlaflosigkeit, Müdigkeit und wiederholtem Fernbleiben von der Arbeit verlor sie ihre Stelle und erklärte sich eines Tages einverstanden, erschöpft vom täglichen Kampf der letzten acht Jahre, zusammen mit einem Freund ins Jüdische Viertel zu gehen und dort um Almosen zu bitten. Diese Entscheidung fiel ihr nicht leicht, doch Lunahs Lage war dermassen dramatisch geworden, dass sie beschloss, ihre Würde zu unterdrücken und die wenigen Münzen einzustecken, die sie auf diese Weise zusammenschnorren konnte. Sie erinnert sich noch gut an den allerersten Spender, der ihr damals grosszügigerweise 4 Liroth überliess. Heute gehört Lunah zu den Grundpfeilern des Jüdischen Viertels von Jerusalem, der Rowah, wo sie nun eine feste «Kundschaft» besitzt. Es ist interessant zu wissen, dass einige Wohltäter ihr monatlich einen regelmässigen Betrag zukommen lassen. Doch Lunah ist fatalistisch und sich der Tatsache wohl bewusst, dass es an einigen Tagen besser läuft als an anderen: am einträglichsten sind die Bar Mitzvoth (Montag und Donnerstag) und Rosch Chodesch (bei Neumond). Eine andere Einkommensquelle sind die Touristengruppen, die von den Fremdenführern, die sie kennen, zu ihr gebracht werden. Sie führt einen erbitterten Kampf gegen falsche Bettler, Drogenabhängige und Dealer, die sie alle in einen Topf wirft und manu militari von der Polizei vertreiben lässt, zu der sie ausgezeichnete Beziehungen unterhält. Die Polizei des Quartiers wiederum achtet darauf, dass ihr niemand den Platz wegnimmt, den sie sich mühseligst erstritten hat.
Auf die Frage, weshalb sie es in ihrem Zustand und in ihrem Alter noch nötig hat zu betteln, obwohl vier erwachsene Kinder sie unterstützen könnten, antwortet sie: «Mein grösstes Leid besteht darin, dass meine Kinder mich verachten, weil sie der Meinung sind, mein Beruf sei nicht ehrenwert». Im Hinblick auf das Problem des unangenehmen Benehmens vieler Bettler an der Kotel, welche die von den dort betenden Gläubigen gewünschte Ruhe nicht respektieren, hat Lunah eine ganz einfache Erklärung: «Es sind faule junge Leute, die nicht arbeiten gehen und stattdessen unbescholtene Bürger belästigen. Die Polizei ist da, um sie weg zu weisen, man muss sie nur rufen». Ihrer Meinung nach gehört sie nicht zu diesen «Schnorrern», zu den unhöflichen Bettlern, und ist überzeugt, sie selbst bitte nur anständig um ein Almosen. In ihren Beziehungen zu den anderen Bettlern akzeptiert sie als Freunde nur diejenigen, die sich wie sie verhalten. Im vergangenen März musste sie ins Krankenhaus, und alle ihre Freundinnen haben sie dort besucht, sie, die von ihnen «der Stern der Rowah» genannt wird. Mit diesen Freundinnen verbringt sie auch ganze Abende mit Diskussionen über Gott und die Welt.
Lunahs Tätigkeit ist alles andere als amüsant. Die Tatsache, dass sie die Passanten um Geld bittet, führt dazu, dass sie oft verbal angegriffen und beleidigt wird. Auf die Frage, was sie denn darauf antworte, sagt sie: «Ich antworte gar nicht, ich verfluche sie mit den Worten: Ich wünsche dir, dass es dir so ergeht wie mir». Für Lunah gibt es nur zwei Sorten von Menschen auf dieser Welt: diejenigen, die etwas geben, und die anderen, die nichts geben. Trotz ihrer Schwierigkeiten besitzt Lunah aber ein optimistisches und fröhliches Wesen. Gern wiederholt sie ungefragt: «Meine Augen lachen zwar, aber mein Herz weint. Doch ich gebe das Glück gerne weiter. Ich habe im Leben nicht viel Glück gehabt, doch ich bin in der glücklichen Lage, Freundschaften eingehen zu können und von meinesgleichen akzeptiert zu werden. Glauben Sie mir, das ist schon sehr viel». Wenn sie einen roten Faden «verschenkt», bindet sie ihn der betreffenden Person ums Handgelenk und überschüttet sie mit allen möglichen Segnungen, wobei der wichtigste Segen, der «Schalom Bayit», immer das harmonische Leben des Paares betrifft. Den jungen ledigen Mädchen wünscht sie nicht nur, wie zahlreiche ihrer Kollegen, einfach «einen Ehemann», sondern einen «guten, anständigen Mann». Viele Menschen sind der Ansicht, die Segnungen und Verwünschungen der Bettler seien ohne Bedeutung, letztendlich handle es sich nur um am Geld interessierte Scharlatane. Eine Begegnung mit Lewanah könnte den einen oder anderen vom Gegenteil überzeugen!

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