Natürlich sind sie unangenehm
und nerven, die Bettler, die uns in den
kurzen Augenblicken der Einkehr an
der Kotel Hamaaravi («Klagemauer»)
stören. Wenn wir auf unser wichtigstes
Heiligtum zugehen, bereiten wir uns
alle mit Geist, Herz und Seele darauf
vor, in der Hoffnung, still Einkehr halten
und einen Moment der innigen
Zwiesprache mit unserem Innersten
erleben zu können, mit uns selbst
allein zu sein. Und genau dann passiert
es ! Jemand spricht uns an, wir
hören eine unangenehme Stimme,
man fasst uns an die Schulter oder
streckt uns auch die hohle Hand hin -
und schon ist alles futsch. In dieser
Situation lösen sich alle unsere guten
Vorsätze in Luft auf und machen der
Wut Platz.
Haben denn diese Bettler an der Kotel gar keinen
Respekt? Wissen sie sich nicht zu benehmen? Können
sie sich nicht kurz gedulden? Ich persönlich habe
immer eine gewisse Sympathie für sie empfunden, trotz
all ihrer Fehler und ihrer scheinbaren Aggressivität,
und ich habe beim Gespräch mit ihnen gemerkt, dass
die meisten viel Sanftmut ausstrahlen, auch wenn sie in
ihrem bescheidenen Bereich ungemein geschäftstüchtig
sind und das ihnen Zustehende bei jeder Gelegenheit
mit Händen und Füssen verteidigen.
Wir wollten diesen Teil der Gesellschaft Jerusalems
besser kennen lernen und haben zu diesem Zweck ein
langes Gespräch mit LEWANAH COHEN geführt,
die seit über 22 Jahren den Beruf der Bettlerin im
jüdischen Viertel von Jerusalem, in Rowah, ausübt.
«Lunah», wie sie von ihren Freunden genannt wird, ein
altes, vor Charme sprühendes Weiblein, ist gebildet,
humorvoll und besitzt keine Illusionen mehr, da das
Leben sie nie mit Samthandschuhen angefasst hat.
Eine Unterhaltung mit ihr kann recht aufschlussreich
und amüsant sein. Sie hasst ihre Leidensgenossen aus
tiefstem Herzen und diese zahlen es ihr mit gleicher
Münze heim; dennoch hat sie zahllose Freundinnen.
Lunah wurde 1936 als jüngstes von sieben Kindern in
Jerusalem geboren, ihre Eltern stammten aus Isfahan.
Sie absolvierte eine ganz «normale» Schulzeit in einem
Institut der Alliance Française und begann dann als
Verkäuferin für Damenkleider auf den Märkten zu
arbeiten. Dank dieser Tätigkeit spricht sie heute fliessend
Jiddisch und Arabisch, ausserdem auch Französisch,
Spanisch und Ladino. Als junge Witwe und
Mutter von vier Kindern musste sie sich ihren Lebensunterhalt
mit harter Arbeit verdienen, als sie - gemäss
ihren eigenen Worten - noch «jung und stark» war.
Doch dann wurde sie 1974 in ihrer Wohnung brutal
von zwei Drogensüchtigen angegriffen, die sie fesselten
und schlugen und ihr schliesslich das wenige Geld und
den bescheidenen Goldschmuck stahlen, den ihr ihre
Eltern vererbt hatten. Dies war ein schrecklicher
Schock für Lunah und sie hat sich psychisch nie ganz
davon erholt. Infolge von Krankheit, Schlaflosigkeit,
Müdigkeit und wiederholtem Fernbleiben von der Arbeit
verlor sie ihre Stelle und erklärte sich eines Tages
einverstanden, erschöpft vom täglichen Kampf der
letzten acht Jahre, zusammen mit einem Freund ins
Jüdische Viertel zu gehen und dort um Almosen zu bitten.
Diese Entscheidung fiel ihr nicht leicht, doch Lunahs
Lage war dermassen dramatisch geworden, dass
sie beschloss, ihre Würde zu unterdrücken und die wenigen
Münzen einzustecken, die sie auf diese Weise
zusammenschnorren konnte. Sie erinnert sich noch gut
an den allerersten Spender, der ihr damals grosszügigerweise
4 Liroth überliess. Heute gehört Lunah zu
den Grundpfeilern des Jüdischen Viertels von Jerusalem,
der Rowah, wo sie nun eine feste «Kundschaft»
besitzt. Es ist interessant zu wissen, dass einige
Wohltäter ihr monatlich einen regelmässigen Betrag
zukommen lassen. Doch Lunah ist fatalistisch und sich
der Tatsache wohl bewusst, dass es an einigen Tagen
besser läuft als an anderen: am einträglichsten sind die
Bar Mitzvoth (Montag und Donnerstag) und Rosch
Chodesch (bei Neumond). Eine andere Einkommensquelle
sind die Touristengruppen, die von den Fremdenführern,
die sie kennen, zu ihr gebracht werden. Sie
führt einen erbitterten Kampf gegen falsche Bettler,
Drogenabhängige und Dealer, die sie alle in einen Topf
wirft und manu militari von der Polizei vertreiben lässt,
zu der sie ausgezeichnete Beziehungen unterhält. Die
Polizei des Quartiers wiederum achtet darauf, dass ihr
niemand den Platz wegnimmt, den sie sich mühseligst
erstritten hat.
Auf die Frage, weshalb sie es in ihrem Zustand und in
ihrem Alter noch nötig hat zu betteln, obwohl vier
erwachsene Kinder sie unterstützen könnten, antwortet
sie: «Mein grösstes Leid besteht darin, dass meine
Kinder mich verachten, weil sie der Meinung sind, mein
Beruf sei nicht ehrenwert».
Im Hinblick auf das Problem des unangenehmen
Benehmens vieler Bettler an der Kotel, welche die von
den dort betenden Gläubigen gewünschte Ruhe nicht
respektieren, hat Lunah eine ganz einfache Erklärung:
«Es sind faule junge Leute, die nicht arbeiten gehen und
stattdessen unbescholtene Bürger belästigen. Die Polizei
ist da, um sie weg zu weisen, man muss sie nur rufen».
Ihrer Meinung nach gehört sie nicht zu diesen
«Schnorrern», zu den unhöflichen Bettlern, und ist
überzeugt, sie selbst bitte nur anständig um ein Almosen.
In ihren Beziehungen zu den anderen Bettlern akzeptiert sie als Freunde nur diejenigen, die sich wie
sie verhalten. Im vergangenen März musste sie ins
Krankenhaus, und alle ihre Freundinnen haben sie dort
besucht, sie, die von ihnen «der Stern der Rowah»
genannt wird. Mit diesen Freundinnen verbringt sie
auch ganze Abende mit Diskussionen über Gott und
die Welt.
Lunahs Tätigkeit ist alles andere als amüsant. Die
Tatsache, dass sie die Passanten um Geld bittet, führt
dazu, dass sie oft verbal angegriffen und beleidigt wird.
Auf die Frage, was sie denn darauf antworte, sagt sie:
«Ich antworte gar nicht, ich verfluche sie mit den
Worten: Ich wünsche dir, dass es dir so ergeht wie mir».
Für Lunah gibt es nur zwei Sorten von Menschen auf
dieser Welt: diejenigen, die etwas geben, und die anderen,
die nichts geben. Trotz ihrer Schwierigkeiten
besitzt Lunah aber ein optimistisches und fröhliches
Wesen. Gern wiederholt sie ungefragt: «Meine Augen
lachen zwar, aber mein Herz weint. Doch ich gebe das
Glück gerne weiter. Ich habe im Leben nicht viel Glück
gehabt, doch ich bin in der glücklichen Lage, Freundschaften
eingehen zu können und von meinesgleichen
akzeptiert zu werden. Glauben Sie mir, das ist schon
sehr viel». Wenn sie einen roten Faden «verschenkt»,
bindet sie ihn der betreffenden Person ums Handgelenk
und überschüttet sie mit allen möglichen
Segnungen, wobei der wichtigste Segen, der «Schalom
Bayit», immer das harmonische Leben des Paares
betrifft. Den jungen ledigen Mädchen wünscht sie nicht
nur, wie zahlreiche ihrer Kollegen, einfach «einen
Ehemann», sondern einen «guten, anständigen Mann».
Viele Menschen sind der Ansicht, die Segnungen und
Verwünschungen der Bettler seien ohne Bedeutung,
letztendlich handle es sich nur um am Geld interessierte
Scharlatane. Eine Begegnung mit Lewanah könnte
den einen oder anderen vom Gegenteil überzeugen!
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