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Inhaltsangabe Rosch haschanah 5764 Herbst 2003 - Tischri 5764

Editorial - September 2003
    • Editorial [pdf]

Rosch haschanah 5764
    • Das Glück liegt ins uns [pdf]

Politik
    • Einige richtige Fragen [pdf]

Inerview
    • Die wirtschaftliche Revolution in Israel [pdf]

Strategie
    • Würde und Entschlossenhiet [pdf]

Reportage
    • Rettung des Negev [pdf]
    • Der biblische Honig [pdf]
    • Die Bettlerin von Jerusalem [pdf]

Medizinische Forschung
    • Den Zucker bekämpfen! [pdf]

Vatikan
    • Jerusalem und der Vatikan [pdf]
    • Der heilige Stuhl und Israel [pdf]

Italien
    • Jerusalem und Rom [pdf]
    • Mit Lieb und Seele! [pdf]
    • Unione delle communita ebraiche italiana [pdf]
    • Ave Roma [pdf]
    • Ein lebendiges Museum [pdf]
    • Das Massaker der ardeatinischen graben [pdf]
    • La Brigata ebraica [pdf]
    • Little Italy [pdf]

Kunst und Kultur
    • Musikalische Traditionen im Islam [pdf]

Ethik und Judentum
    • Geregelte Wohltätigkeit... [pdf]

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Das Glück liegt ins uns

Von Roland S. Süssmann
Einer der eindrücklichsten Abschnitte unserer Gebete an Rosch Haschanah lautet folgendermassen: «An diesem Tag bestimmst Du das Schicksal der verschiedenen Länder. In diesem hier wird Krieg herrschen, in jenem dort Frieden. Dieses Land wird eine Hungersnot erleiden, jenes im Überfluss leben. Und über jedes einzelne Lebewesen wird geurteilt; dieses hier wird zum Tode verurteilt, jenes dort darf leben». Für die meisten von uns bleibt der ziemlich abstrakte Gedanke, dass an Neujahr ein Urteil gefällt und damit das vor uns liegende neue Jahr in grossen Zügen vorgezeichnet wird, schwer verständlich. Genau so geht es uns, wenn wir das erschütternde Gebet «Sane Tokef» hören, dessen wichtigste Worte uns mit Furcht erfüllen, da sie in sämtlichen Einzelheiten alle Aspekte der verschiedenen Urteile, Todesarten (friedlich, durch das Schwert, durch Feuer, an Hunger usw.) oder Glücksgefühle schildern, die uns erwarten. Um diese Idee des Urteils über das Individuum und über die Nationen besser zu verstehen, haben wir uns mit Rabbi SCHLOMO DAYCHOWSKY getroffen, dem Präsidenten des Obersten Gerichtshofes der rabbinischen Gerichte von Israel.

Können Sie uns mit wenigen Worten erklären, wie das Konzept eines göttlichen Urteils, das unser Leben bestimmt, in einer Zeit verstanden werden soll, in der jeder Gedanke einer rationalen Erklärung bedarf, um als gerechtfertigt und akzeptabel zu gelten?

Ich wünsche es niemandem, einmal vor Gericht zu stehen. Es kann allerdings passieren, dass ein Autofahrer beispielsweise in einen Unfall verwickelt wird, an dem er nur teilweise oder gar keine Schuld trägt. Vor der ersten Begegnung mit dem Richter wird er wochenlang kein Auge mehr zu tun und immer daran denken, was er sagen und auf welche Weise er unbeschadet und schuldlos aus dieser unglücklichen Sache herauskommen wird. Er wird mehrmals mit seinem Anwalt sprechen, jedes Wort auf die Goldwaage legen, das er vor Gericht aussagt, und sich überlegen, wie er sich verhalten soll, um einen möglichst positiven Eindruck auf den Richter zu machen. Es gibt vielerlei Situationen, in denen sich ein Individuum vor der Justiz verantworten muss, es gibt eine ganze Hierarchie vom einfachen Vergehen bis zum Rekurs in geschäftlichen Angelegenheiten, von der Scheidung bis zur Androhung einer lebenslänglichen Haftstrafe, oder in gewissen Ländern der Todesstrafe. Der Betroffene vergisst, unabhängig von der Schwere seines Gerichtsverfahrens, alle seine Alltagssorgen und konzentriert sich mit seiner gesamten Energie auf die Frage, wie sein Erscheinen vor dem Gericht verlaufen wird. Diese Einstellung ist normal bei einem Menschen, der alles daran setzt, damit er seine Unschuld beweist oder das Gericht ihm mildernde Umstände zugesteht und diese beim Urteil berücksichtigt. Denkt man diese Überlegung zu Ende, stellt man fest, dass jeder von uns seine Begegnung mit der Justiz unter grossem Druck und intensiver Anspannung erlebt. Dies gilt natürlich vor allem für die irdischen Gerichte. Doch das Judentum lehrt uns, dass wir alle einmal im Jahr, an Rosch Haschanah und an Jom Kippur, vor dem himmlischen Gericht stehen, wie es im Gebet heisst: «Am Tag von Rosch Haschanah wird das Urteil verkündet, am Tag von Kippur wird es bestätigt». In diesem Gerichtssaal geht es nicht um die Frage, ob wir eine hohe oder geringe Busse zu bezahlen haben oder ob wir diesen oder jenen Streitfall gegen einen Geschäftspartner, eine Ehefrau oder einen Nachbarn gewinnen, sondern es geht sehr wohl um unsere unmittelbare Zukunft. Am Vorabend von Rosch Haschanah und im Monat davor sollten wir uns zumindest über das Urteil Gedanken machen, das uns erwartet, und unsere Handlungen des verflossenen Jahres gründlich überdenken und uns zu verbessern suchen. Doch die meisten von uns, und hier komme ich auf Ihre Frage zurück, fühlen sich in Wirklichkeit gar nicht betroffen, weder während des Monats vor unserer Verurteilung, noch am Vortag oder am Tag des Urteils selbst. Während den zehn Tagen der Reue gehen wir unseren üblichen Tätigkeiten nach, streiten weiterhin miteinander und führen den täglichen Kleinkrieg, als ob nichts wäre. Im Allgemeinen sind wir ganz entspannt und nur manchmal durchzuckt den einen oder anderen ein Gedanke oder eine Befürchtung beim feierlichen Gebet von Kol Nidreï oder von Neïla (Ende von Kippur). Doch im Grossen und Ganzen verspüren wir nicht einmal die Sorge des Menschen, der vor einem Polizeigericht erscheinen soll, weil er eine kleine Verkehrsregel überschritten hat. Nur eine winzige Minderheit von uns kann wirklich ermessen, dass der Tag des Urteils eigentlich ein schreckliches Ereignis ist.

Weshalb ist das so?

Zunächst einmal ist es menschlich, nur das zu glauben, was man mit eigenen Augen sieht. So ist es zwar leicht zu verstehen, dass Rosch Haschanah und Jom Kippur eine ausgezeichnete Gelegenheit darstellen, in uns zu gehen und unser Gewissen zu prüfen, doch es ist sehr viel schwieriger sich vorzustellen, dass wir von einem abstrakten Gericht verurteilt werden. Es fällt uns sehr schwer, unsere Gewohnheiten zu verändern, denn sie stellen die Grundlage unseres Alltags dar, und schon nur die Vorstellung, sie über den Haufen zu werfen, entspricht dem Beginn eines langen, umständlichen und komplizierten Prozesses, an den wir uns in Gedanken erst gewöhnen müssen. Schliesslich, und hier liegt meines Erachtens der springende Punkt, erkennen wir die Ergebnisse des Urteils, das über uns gefällt wird, nicht sofort. Vor einem irdischen Gericht wird jeder Richterspruch sofort umgesetzt, während wir im Hinblick auf die göttlichen Urteile Menschen erleben, die in völligem Widerspruch zu den göttlichen Gesetzen stehen, wie z.B. gewisse sehr grausame Diktatoren, die Jahr für Jahr ihre Schreckensherrschaft weiter führen, ohne in irgendeiner Weise dafür behelligt zu werden. Wenn wir davon ausgehen würden, dass sofort nach Jom Kippur ein Teil der Menschheit auf dramatische Weise bestraft wird, würden wir die Sache ganz anders ansehen. Wir würden alles unternehmen, um nicht zu den Bestraften zu gehören. Doch es ist eben anders. Im Himmel wird nicht mit denselben Ellen gemessen wie auf Erden, und oft können wir nicht begreifen, weshalb und wie Situationen existieren können, die uns ungerecht erscheinen. Das Jahr besteht aus einem Reigen von mehr oder weniger glücklichen Ereignissen und wir müssten uns unbedingt bewusst sein, dass alles, was uns widerfährt, eigentlich der Umsetzung des Urteils entspricht, das an Rosch Hachanah und an Jom Kippur über uns ausgesprochen wurde. Wenn wir uns bewusst werden, dass der Allmächtige an diesen Tagen unser Gewissen prüft, unsere Taten abwägt und sein Urteil fällt, müsste jeder von uns angesichts der Bedeutung dieser schwer wiegenden Stunden erschauern und zittern. Welche Mutter würde dann nicht für ihre Kinder beten? Welches Kind nicht für seine Eltern? Wer könnte ungerührt bleiben angesichts des Mysteriums des Lebens und des Glücks? Wer würde da nicht versuchen die Zukunft zu erforschen? Wer würde nicht an die Gefahren und Drohungen denken?

Es stellt sich nun die Frage, wie unsere Handlungen und Gebete diese Urteile beeinflussen können?

Jeder von uns befindet sich auf einer bestimmten Ebene und sollte sich in dieser entscheidenden Zeitspanne bemühen ein wenig aufzusteigen. Es muss alles unternommen werden, damit die Herzen sich einander zuneigen, damit der Hass verstummt, damit die egoistischen Überlegungen zurückgestellt und wir einige Tage lang etwas nachsichtiger, grosszügiger und mitfühlender werden. Konkret kann dies zum Ausdruck kommen, wenn wir netter mit unserem Nächsten umgehen, hilfsbereiter sind oder unseren Mitmenschen aufmerksamer zuhören. Es gehört auch dazu, dass wir nicht um jeden Preis Recht behalten wollen, auch wenn es tatsächlich so ist, und ab und zu ein Auge zudrücken, um in grösserer Harmonie mit unserer unmittelbaren Umgebung zu leben. Zur Veranschaulichung meiner Worte möchte ich an dieser Stelle ein Beispiel aus dem Eheleben anführen, wo es nicht selten vorkommt, dass jeder auf seinem Recht beharrt und letztendlich einer der beiden Eheleute seinen Standpunkt mit Gewalt oder im Zorn durchboxt. Auch wenn er letztendlich wirklich Recht hatte, wird ihn das dadurch ausgelöste negative Gefühl langfristig sehr teuer zu stehen kommen. Jeder von uns sollte daher zu einer Anstrengung bereit sein, um die Beziehungen zu seinen Mitmenschen zu verbessern, und dies beginnt zu Hause, bei der Ehefrau, den Eltern und den Kindern!
Dies kann auch auf unsere Beziehung zum Allmächtigen übertragen werden. Jeder kann sich ein wenig Mühe geben, um ein weniger frommer zu sein. So sollte jemand, der zwar den Schabbat einhält, es dabei aber nicht immer ganz genau nimmt, strenger mit sich sein; jemand, der den Schabbat überhaupt nicht heiligt, könnte vielleicht damit anfangen, jemand, der seine Tefillin (Gebetsriemen) nicht alle Tage anlegt, könnte sie täglich zu benutzen beginnen, ohne aber dabei das gesamte Gebet zu sagen, sondern z.B. nur das «Schema Israel», was höchstens fünf Minuten pro Tag in Anspruch nimmt usw.
Meines Erachtens ist es unmöglich, von einem Menschen zu verlangen, dass er von einem Tag auf den anderen seine Gewohnheiten und seine Lebensweise umstellt. Man erwartet aber von uns, dass wir uns zumindest ein kleines bisschen bemühen. Unsere Weisen lehren uns den berühmten Satz: «Meine Söhne, zeigt mir eine Öffnung zur Reue in der Grösse eines Nadelöhrs und ich werde daraus einen Durchgang für Karren und Wagen machen» (Midrasch Rabah über das Hohelied V-3). Es stimmt, dass wir während des ganzen Jahrs versuchen sollten uns zu verbessern, doch die Feiertage von Rosch Haschanah und Jom Kippur eignen sich ganz besonders zum Überlegen und zur Besserung. Darüber hinaus hält es das himmlische Gericht mit dem irdischen: wenn der Wunsch nach Reue aufrichtig ist, wenn eine beginnende Veränderung des Verhaltens eintritt, fällt das Urteil in der Regel weniger streng aus. Daher muss betont werden, dass die Reue in erster Linie eine individuelle Entscheidung ist und dass ihr Erfolg vom Willen jedes einzelnen abhängt. Als Beispiel dafür möchte ich den Menschen anführen, der sich zu einer Diät entschlossen hat. Wenn er sie allmählich und schrittweise verwirklicht, kann er damit Erfolg haben. Wenn er sich hingegen selbst belügt und heimlich Schokolade isst, werden alle seine Bemühungen zunichte gemacht und er gibt sich der Lächerlichkeit preis.

Wir leben sowohl auf nationaler Ebene als auch im Hinblick auf die Assimilierung und die gemischten Ehen in einer äusserst harten Zeit. Wo können wir angesichts dieser Schwierigkeiten Hoffnung schöpfen?

Die Hoffnung liegt in uns selbst. Ich erinnere daran, dass unsere Nationalhymne den Namen «Hatikwah» trägt, was Hoffnung bedeutet. Das jüdische Volk steht immer wieder auf, wie es uns die Sprichwörter lehren (XXIV-16): «Denn der Gerechte fällt sieben Mal und steht wieder auf, doch die Bösen werden vom Unglück erdrückt». Dies bedeutet, dass die Hoffnung ohne konkrete Taten keine Aussicht auf Erfolg hat. Wenn derjenige, der fällt, nicht wieder aufzustehen versucht..., bleibt er am Boden liegen. Das jüdische Volk ist immer wieder aufgestanden und auch in diesen harten Zeiten können wir den Schwierigkeiten und dem Leid trotzen, und zwar in Würde und mit Entschlossenheit. einem Tag auf den anderen verändern oder neu erschaffen, doch wir können, auf unserer Ebene und durch gute Taten im Alltag, zu ihrer Verbesserung und zur Entwicklung des nationalen Wohlergehens durch einzelne Handlungen beitragen. Dies fängt, wie ich bereits sagte, in der Zeit von Rosch Haschanah an, wo sich jeder bemühen kann etwas besser zu werden, ohne dabei sein Leben auf den Kopf zu stellen, sowohl in seiner Beziehung zu den Mitmenschen als auch im religiösen Bereich. Ausserdem bin ich überzeugt, dass die Anstrengungen, die wir während den hohen Festtagen unternehmen, automatisch werden, wenn wir sie fortsetzen und beibehalten; wir werden nicht einmal mehr Lust haben, zu unseren alten Gewohnheiten zurückzukehren. Ich möchte diesen Gedanken wieder mit meinem Beispiel von der Diät abschliessen. Wir wissen alle, dass die Schokolade, die wir gestern nicht gegessen haben, uns heute nicht fehlt. Die Tatsache hingegen, heute keine Schokolade zu essen, ermutigt uns, die Diät morgen fortzusetzen. Das Gleiche gilt für die Reue, die Verbesserung des frommen Lebens, unsere Beziehung zu unserem unmittelbaren Umfeld und zu unseren Nachbarn - und so erreichen wir schrittweise ein besseres Leben. Unsere guten Vorsätze müssen im Alltag umzusetzen sein, wir können es nicht schaffen, wenn wir uns zu ehrgeizige Ziele setzen. Die Wurzeln des Friedens und des Wohlbefindens befinden sich, sowohl auf persönlicher als auch auf nationaler Ebene, im Herzen eines jeden von uns. Und schliesslich möchte ich daran erinnern, dass die Reue, das Gebet und die Wohltätigkeit die Verurteilungen und Strafen aufheben und uns in Gnade zum Allmächtigen eingehen lassen. Mit dieser Einstellung, wenn sich jeder verpflichtet, auf seiner Rangstufe positiv zu handeln, sollten wir das neue Jahr in Angriff nehmen.

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