Einer der eindrücklichsten Abschnitte
unserer Gebete an Rosch Haschanah
lautet folgendermassen: «An diesem Tag
bestimmst Du das Schicksal der verschiedenen
Länder. In diesem hier wird Krieg
herrschen, in jenem dort Frieden. Dieses
Land wird eine Hungersnot erleiden,
jenes im Überfluss leben. Und über jedes
einzelne Lebewesen wird geurteilt; dieses
hier wird zum Tode verurteilt, jenes
dort darf leben». Für die meisten von uns
bleibt der ziemlich abstrakte Gedanke,
dass an Neujahr ein Urteil gefällt und damit
das vor uns liegende neue Jahr in grossen
Zügen vorgezeichnet wird, schwer
verständlich. Genau so geht es uns, wenn
wir das erschütternde Gebet «Sane Tokef»
hören, dessen wichtigste Worte uns mit
Furcht erfüllen, da sie in sämtlichen Einzelheiten
alle Aspekte der verschiedenen
Urteile, Todesarten (friedlich, durch das
Schwert, durch Feuer, an Hunger usw.)
oder Glücksgefühle schildern, die uns
erwarten. Um diese Idee des Urteils über
das Individuum und über die Nationen
besser zu verstehen, haben wir uns mit
Rabbi SCHLOMO DAYCHOWSKY getroffen,
dem Präsidenten des Obersten Gerichtshofes
der rabbinischen Gerichte von
Israel.
Können Sie uns mit wenigen Worten erklären, wie das
Konzept eines göttlichen Urteils, das unser Leben bestimmt,
in einer Zeit verstanden werden soll, in der
jeder Gedanke einer rationalen Erklärung bedarf, um
als gerechtfertigt und akzeptabel zu gelten?
Ich wünsche es niemandem, einmal vor Gericht zu stehen.
Es kann allerdings passieren, dass ein Autofahrer
beispielsweise in einen Unfall verwickelt wird, an dem
er nur teilweise oder gar keine Schuld trägt. Vor der
ersten Begegnung mit dem Richter wird er wochenlang
kein Auge mehr zu tun und immer daran denken,
was er sagen und auf welche Weise er unbeschadet
und schuldlos aus dieser unglücklichen Sache herauskommen
wird. Er wird mehrmals mit seinem Anwalt
sprechen, jedes Wort auf die Goldwaage legen, das er
vor Gericht aussagt, und sich überlegen, wie er sich
verhalten soll, um einen möglichst positiven Eindruck
auf den Richter zu machen. Es gibt vielerlei Situationen,
in denen sich ein Individuum vor der Justiz
verantworten muss, es gibt eine ganze Hierarchie vom
einfachen Vergehen bis zum Rekurs in geschäftlichen
Angelegenheiten, von der Scheidung bis zur Androhung
einer lebenslänglichen Haftstrafe, oder in gewissen
Ländern der Todesstrafe. Der Betroffene vergisst,
unabhängig von der Schwere seines Gerichtsverfahrens,
alle seine Alltagssorgen und konzentriert sich mit
seiner gesamten Energie auf die Frage, wie sein Erscheinen
vor dem Gericht verlaufen wird. Diese Einstellung
ist normal bei einem Menschen, der alles daran
setzt, damit er seine Unschuld beweist oder das
Gericht ihm mildernde Umstände zugesteht und diese
beim Urteil berücksichtigt. Denkt man diese Überlegung
zu Ende, stellt man fest, dass jeder von uns seine
Begegnung mit der Justiz unter grossem Druck und
intensiver Anspannung erlebt. Dies gilt natürlich vor
allem für die irdischen Gerichte. Doch das Judentum
lehrt uns, dass wir alle einmal im Jahr, an Rosch
Haschanah und an Jom Kippur, vor dem himmlischen
Gericht stehen, wie es im Gebet heisst: «Am Tag von
Rosch Haschanah wird das Urteil verkündet, am Tag
von Kippur wird es bestätigt». In diesem Gerichtssaal
geht es nicht um die Frage, ob wir eine hohe oder
geringe Busse zu bezahlen haben oder ob wir diesen
oder jenen Streitfall gegen einen Geschäftspartner,
eine Ehefrau oder einen Nachbarn gewinnen, sondern
es geht sehr wohl um unsere unmittelbare Zukunft.
Am Vorabend von Rosch Haschanah und im Monat
davor sollten wir uns zumindest über das Urteil Gedanken
machen, das uns erwartet, und unsere Handlungen
des verflossenen Jahres gründlich überdenken
und uns zu verbessern suchen. Doch die meisten von
uns, und hier komme ich auf Ihre Frage zurück, fühlen
sich in Wirklichkeit gar nicht betroffen, weder während
des Monats vor unserer Verurteilung, noch am
Vortag oder am Tag des Urteils selbst. Während den
zehn Tagen der Reue gehen wir unseren üblichen
Tätigkeiten nach, streiten weiterhin miteinander und
führen den täglichen Kleinkrieg, als ob nichts wäre. Im
Allgemeinen sind wir ganz entspannt und nur manchmal
durchzuckt den einen oder anderen ein Gedanke
oder eine Befürchtung beim feierlichen Gebet von Kol
Nidreï oder von Neïla (Ende von Kippur). Doch im
Grossen und Ganzen verspüren wir nicht einmal die
Sorge des Menschen, der vor einem Polizeigericht erscheinen
soll, weil er eine kleine Verkehrsregel überschritten
hat. Nur eine winzige Minderheit von uns
kann wirklich ermessen, dass der Tag des Urteils eigentlich
ein schreckliches Ereignis ist.
Weshalb ist das so?
Zunächst einmal ist es menschlich, nur das zu glauben,
was man mit eigenen Augen sieht. So ist es zwar leicht
zu verstehen, dass Rosch Haschanah und Jom Kippur
eine ausgezeichnete Gelegenheit darstellen, in uns zu
gehen und unser Gewissen zu prüfen, doch es ist sehr
viel schwieriger sich vorzustellen, dass wir von einem
abstrakten Gericht verurteilt werden. Es fällt uns sehr
schwer, unsere Gewohnheiten zu verändern, denn sie
stellen die Grundlage unseres Alltags dar, und schon
nur die Vorstellung, sie über den Haufen zu werfen,
entspricht dem Beginn eines langen, umständlichen
und komplizierten Prozesses, an den wir uns in Gedanken
erst gewöhnen müssen. Schliesslich, und hier
liegt meines Erachtens der springende Punkt, erkennen
wir die Ergebnisse des Urteils, das über uns gefällt
wird, nicht sofort. Vor einem irdischen Gericht wird
jeder Richterspruch sofort umgesetzt, während wir im
Hinblick auf die göttlichen Urteile Menschen erleben,
die in völligem Widerspruch zu den göttlichen
Gesetzen stehen, wie z.B. gewisse sehr grausame Diktatoren,
die Jahr für Jahr ihre Schreckensherrschaft
weiter führen, ohne in irgendeiner Weise dafür behelligt
zu werden. Wenn wir davon ausgehen würden,
dass sofort nach Jom Kippur ein Teil der Menschheit
auf dramatische Weise bestraft wird, würden wir die
Sache ganz anders ansehen. Wir würden alles unternehmen,
um nicht zu den Bestraften zu gehören. Doch
es ist eben anders. Im Himmel wird nicht mit denselben
Ellen gemessen wie auf Erden, und oft können wir
nicht begreifen, weshalb und wie Situationen existieren
können, die uns ungerecht erscheinen. Das Jahr
besteht aus einem Reigen von mehr oder weniger
glücklichen Ereignissen und wir müssten uns unbedingt
bewusst sein, dass alles, was uns widerfährt,
eigentlich der Umsetzung des Urteils entspricht, das
an Rosch Hachanah und an Jom Kippur über uns ausgesprochen
wurde. Wenn wir uns bewusst werden,
dass der Allmächtige an diesen Tagen unser Gewissen
prüft, unsere Taten abwägt und sein Urteil fällt, müsste
jeder von uns angesichts der Bedeutung dieser
schwer wiegenden Stunden erschauern und zittern.
Welche Mutter würde dann nicht für ihre Kinder
beten? Welches Kind nicht für seine Eltern? Wer
könnte ungerührt bleiben angesichts des Mysteriums
des Lebens und des Glücks? Wer würde da nicht versuchen
die Zukunft zu erforschen? Wer würde nicht
an die Gefahren und Drohungen denken?
Es stellt sich nun die Frage, wie unsere Handlungen
und Gebete diese Urteile beeinflussen können?
Jeder von uns befindet sich auf einer bestimmten Ebene
und sollte sich in dieser entscheidenden Zeitspanne
bemühen ein wenig aufzusteigen. Es muss alles unternommen
werden, damit die Herzen sich einander
zuneigen, damit der Hass verstummt, damit die egoistischen
Überlegungen zurückgestellt und wir einige
Tage lang etwas nachsichtiger, grosszügiger und mitfühlender
werden. Konkret kann dies zum Ausdruck
kommen, wenn wir netter mit unserem Nächsten umgehen,
hilfsbereiter sind oder unseren Mitmenschen
aufmerksamer zuhören. Es gehört auch dazu, dass wir
nicht um jeden Preis Recht behalten wollen, auch
wenn es tatsächlich so ist, und ab und zu ein Auge
zudrücken, um in grösserer Harmonie mit unserer
unmittelbaren Umgebung zu leben. Zur Veranschaulichung
meiner Worte möchte ich an dieser Stelle ein
Beispiel aus dem Eheleben anführen, wo es nicht selten
vorkommt, dass jeder auf seinem Recht beharrt
und letztendlich einer der beiden Eheleute seinen
Standpunkt mit Gewalt oder im Zorn durchboxt.
Auch wenn er letztendlich wirklich Recht hatte, wird
ihn das dadurch ausgelöste negative Gefühl langfristig
sehr teuer zu stehen kommen. Jeder von uns sollte
daher zu einer Anstrengung bereit sein, um die Beziehungen
zu seinen Mitmenschen zu verbessern, und
dies beginnt zu Hause, bei der Ehefrau, den Eltern
und den Kindern!
Dies kann auch auf unsere Beziehung zum Allmächtigen
übertragen werden. Jeder kann sich ein wenig
Mühe geben, um ein weniger frommer zu sein. So sollte
jemand, der zwar den Schabbat einhält, es dabei
aber nicht immer ganz genau nimmt, strenger mit sich
sein; jemand, der den Schabbat überhaupt nicht heiligt,
könnte vielleicht damit anfangen, jemand, der
seine Tefillin (Gebetsriemen) nicht alle Tage anlegt,
könnte sie täglich zu benutzen beginnen, ohne aber
dabei das gesamte Gebet zu sagen, sondern z.B. nur
das «Schema Israel», was höchstens fünf Minuten pro
Tag in Anspruch nimmt usw.
Meines Erachtens ist es unmöglich, von einem Menschen
zu verlangen, dass er von einem Tag auf den
anderen seine Gewohnheiten und seine Lebensweise
umstellt. Man erwartet aber von uns, dass wir uns zumindest
ein kleines bisschen bemühen. Unsere Weisen
lehren uns den berühmten Satz: «Meine Söhne, zeigt
mir eine Öffnung zur Reue in der Grösse eines
Nadelöhrs und ich werde daraus einen Durchgang für
Karren und Wagen machen» (Midrasch Rabah über
das Hohelied V-3). Es stimmt, dass wir während des
ganzen Jahrs versuchen sollten uns zu verbessern,
doch die Feiertage von Rosch Haschanah und Jom
Kippur eignen sich ganz besonders zum Überlegen
und zur Besserung. Darüber hinaus hält es das himmlische
Gericht mit dem irdischen: wenn der Wunsch
nach Reue aufrichtig ist, wenn eine beginnende Veränderung
des Verhaltens eintritt, fällt das Urteil in der
Regel weniger streng aus. Daher muss betont werden,
dass die Reue in erster Linie eine individuelle
Entscheidung ist und dass ihr Erfolg vom Willen jedes
einzelnen abhängt. Als Beispiel dafür möchte ich den
Menschen anführen, der sich zu einer Diät entschlossen
hat. Wenn er sie allmählich und schrittweise verwirklicht,
kann er damit Erfolg haben. Wenn er sich
hingegen selbst belügt und heimlich Schokolade isst,
werden alle seine Bemühungen zunichte gemacht und
er gibt sich der Lächerlichkeit preis.
Wir leben sowohl auf nationaler Ebene als auch im
Hinblick auf die Assimilierung und die gemischten
Ehen in einer äusserst harten Zeit. Wo können wir
angesichts dieser Schwierigkeiten Hoffnung schöpfen?
Die Hoffnung liegt in uns selbst. Ich erinnere daran,
dass unsere Nationalhymne den Namen «Hatikwah»
trägt, was Hoffnung bedeutet. Das jüdische Volk steht
immer wieder auf, wie es uns die Sprichwörter lehren
(XXIV-16): «Denn der Gerechte fällt sieben Mal und
steht wieder auf, doch die Bösen werden vom Unglück
erdrückt». Dies bedeutet, dass die Hoffnung ohne konkrete
Taten keine Aussicht auf Erfolg hat. Wenn derjenige,
der fällt, nicht wieder aufzustehen versucht...,
bleibt er am Boden liegen. Das jüdische Volk ist immer
wieder aufgestanden und auch in diesen harten
Zeiten können wir den Schwierigkeiten und dem Leid
trotzen, und zwar in Würde und mit Entschlossenheit.
einem Tag auf den anderen verändern oder neu erschaffen,
doch wir können, auf unserer Ebene und
durch gute Taten im Alltag, zu ihrer Verbesserung und
zur Entwicklung des nationalen Wohlergehens durch
einzelne Handlungen beitragen. Dies fängt, wie ich
bereits sagte, in der Zeit von Rosch Haschanah an, wo
sich jeder bemühen kann etwas besser zu werden,
ohne dabei sein Leben auf den Kopf zu stellen, sowohl
in seiner Beziehung zu den Mitmenschen als auch im
religiösen Bereich. Ausserdem bin ich überzeugt, dass
die Anstrengungen, die wir während den hohen Festtagen
unternehmen, automatisch werden, wenn wir sie
fortsetzen und beibehalten; wir werden nicht einmal
mehr Lust haben, zu unseren alten Gewohnheiten zurückzukehren.
Ich möchte diesen Gedanken wieder
mit meinem Beispiel von der Diät abschliessen. Wir
wissen alle, dass die Schokolade, die wir gestern nicht
gegessen haben, uns heute nicht fehlt. Die Tatsache
hingegen, heute keine Schokolade zu essen, ermutigt
uns, die Diät morgen fortzusetzen. Das Gleiche gilt für
die Reue, die Verbesserung des frommen Lebens, unsere
Beziehung zu unserem unmittelbaren Umfeld und
zu unseren Nachbarn - und so erreichen wir schrittweise
ein besseres Leben. Unsere guten Vorsätze müssen
im Alltag umzusetzen sein, wir können es nicht
schaffen, wenn wir uns zu ehrgeizige Ziele setzen. Die
Wurzeln des Friedens und des Wohlbefindens befinden
sich, sowohl auf persönlicher als auch auf nationaler
Ebene, im Herzen eines jeden von uns. Und
schliesslich möchte ich daran erinnern, dass die Reue,
das Gebet und die Wohltätigkeit die Verurteilungen und
Strafen aufheben und uns in Gnade zum Allmächtigen
eingehen lassen. Mit dieser Einstellung, wenn sich jeder
verpflichtet, auf seiner Rangstufe positiv zu handeln,
sollten wir das neue Jahr in Angriff nehmen.
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