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Inhaltsangabe Italien Herbst 2003 - Tischri 5764

Editorial - September 2003
    • Editorial [pdf]

Rosch haschanah 5764
    • Das Glück liegt ins uns [pdf]

Politik
    • Einige richtige Fragen [pdf]

Inerview
    • Die wirtschaftliche Revolution in Israel [pdf]

Strategie
    • Würde und Entschlossenhiet [pdf]

Reportage
    • Rettung des Negev [pdf]
    • Der biblische Honig [pdf]
    • Die Bettlerin von Jerusalem [pdf]

Medizinische Forschung
    • Den Zucker bekämpfen! [pdf]

Vatikan
    • Jerusalem und der Vatikan [pdf]
    • Der heilige Stuhl und Israel [pdf]

Italien
    • Jerusalem und Rom [pdf]
    • Mit Lieb und Seele! [pdf]
    • Unione delle communita ebraiche italiana [pdf]
    • Ave Roma [pdf]
    • Ein lebendiges Museum [pdf]
    • Das Massaker der ardeatinischen graben [pdf]
    • La Brigata ebraica [pdf]
    • Little Italy [pdf]

Kunst und Kultur
    • Musikalische Traditionen im Islam [pdf]

Ethik und Judentum
    • Geregelte Wohltätigkeit... [pdf]

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Unione delle communita ebraiche italiana

Von Roland S. Süssmann
Die Dachverbände der Kultusgemeinden gelten im Allgemeinen nicht als dynamische oder besonders unternehmungsfreudige Einrichtungen, sie verkörpern eher eine Art unbewegliches Fossil, deren wichtigste Tätigkeit darin besteht, von Fall zu Fall Fragen im Zusammenhang mit der Vertretung der jüdischen Bevölkerung bei den Behörden und mit den Beziehungen zwischen den einzelnen Gemeinden zu klären. Vor meiner Begegnung mit dem Präsidenten des italienischen Bundes der jüdischen Kultusgemeinden war ich folglich eher skeptisch und bereitete mich darauf vor, eine Reihe von üblichen Klischees über die «Nützlichkeit und Effizienz» dieser Organisation zu hören. Ich staunte daher nicht schlecht, als ich während meines Interviews mit Dr. AMOS LUZZATTO, dem Präsidenten der Unione delle Comunità Ebraiche Italiana, einem Mann gegenübersass, der vor Energie, gesundem Menschenverstand und vor allem Realitätssinn nur so sprühte.

Dr. Luzzatto lebt in Venedig, wo er als Arzt tätig ist, doch er ist auch als Historiker sehr bekannt aufgrund seines umfassenden Wissens über das Judentum, aufgrund seiner zahlreichen Publikationen und seiner Teilnahme an vielen interreligiösen Tagungen. Die Unione, in der die 21 jüdischen Gemeinden Italiens zusammengefasst sind, besteht aus einem Kongress, der alle vier Jahre zusammentritt und an dem Delegierte aller Gemeinden teilnehmen; aus einem Rat mit achtzehn Mitgliedern, die vom Kongress gewählt werden; aus einem beratenden rabbinischen Rat mit drei Rabbinern, die alle drei dem Rat und einer Rabbinerversammlung angehören, in der sämtliche Rabbiner Italiens vertreten sind; sowie einem Präsidenten, der vom Rat und einem Präsidentschaftsausschuss gewählt wird, der sich aus dem Vizepräsidenten, einem Vertreter des Rabbinerrates und einer wechselnden Zahl von Beratern zusammensetzt.
Es ist eine interessante Tatsache, dass die Stellung der jüdischen Gemeinde Italiens als sehr fortschrittlich gilt im Vergleich zu anderen Gemeinschaften und dass die Vereinbarungen, die zwischen der Unione und der Regierung unterschrieben wurden und die Gesetzeskraft besitzen, die vollständige Glaubensfreiheit garantieren, einschliesslich des Rechts auf rituelles Schächten, auf Friedhöfe usw. Die Juden besitzen ebenfalls das Recht auf die Schabbatruhe, seien sie nun Staatsangestellte oder Mitarbeiter in der Privatwirtschaft. Dieses Gesetz bezieht sich auf die Freitage und betrifft die Zeitspanne zwischen einer halben Stunde vor Sonnenuntergang bis zu einer Stunde nach Ablauf des Schabbats. Dies gilt auch für die Feiertage, die im Gesetz genau festgelegt sind, von Jom Kippur bis zum zweiten und achten Tag von Pessach und Sukkoth. Darüber hinaus werden religiöse Eheschliessungen anerkannt und erfordern keine vorherige zivile Hochzeit. Dieser 32 Paragraphen umfassende Vertrag deckt zahlreiche Aspekte des jüdischen Lebens ab und verleiht den Juden des Landes weit reichende Rechte.
Da die Unione aber die jüdischen Gemeinden in erster Linie auf politischer Ebene vertritt, ist sie innerhalb der verschiedenen Stufen der Regierung und des Parlaments sowie im Bereich Presse und öffentliche Meinung tätig. Sie verfügt sogar über Sendezeit im Fernsehen und strahlt zweimal monatlich eine jüdische Sendung auf dem Kanal RAI aus.
Wir wollten uns ein umfassendes Bild von der gegenwärtigen Situation der jüdischen Gemeinschaft in Italien machen und haben uns aus diesem Grund lange mit Dr. Amos Luzzatto unterhalten.

Welches sind im Moment Ihre Hauptsorgen?

Wir haben zwei parallel laufende Prioritäten: den Antisemitismus und Israel. Wie Sie wissen, leiden wir zurzeit unter keiner Form von Diskriminierung und es gibt sozusagen keine gewalttätigen antisemitischen Übergriffe in unserem Land. Doch die italienische Kultur ist stark vom Katholizismus geprägt, einem sehr strengen katholischen Glauben. Dies erklärt, weshalb der grösste Teil der Bevölkerung nicht weiss, was ein Jude ist, und auch nicht, wie er mit ihm kommunizieren soll. Das Vatikanische Konzil II war den lokalen Kirchen und der Bevölkerung sehr fremd. Im Lehrplan der Schulen ist der obligatorische Religionsunterricht- der katholischen Religion - verankert und die Lehrer, die dieses Fach unterrichten, müssen von der römischen Kurie bestätigt werden. Ich stehe in regelmässigem Kontakt zu den Schulen und bin immer wieder aufs Neue überrascht vom Ausmass des Unwissens und der eindeutig judenfeindlichen Propaganda, die in diesem Land sehr tief verwurzelt ist. Ich habe nie gezögert, mich in der Öffentlichkeit gegen diesen Zustand zu wenden, doch es ist natürlich sehr schwer, Veränderungen zu bewirken.

Wie sehen Ihre Beziehungen zum Vatikan aus?

Seit ich vor fünf Jahren Präsident wurde, bin ich noch nie vom Papst eingeladen worden, ich habe aber auch nie um eine Audienz gebeten. Nach seinem Besuch in der Synagoge und in Israel hat uns Johannes Paul II. deutlich zu verstehen gegeben, dass er der islamischen Welt, die er fürchtet, sehr grosse Bedeutung beimisst. Ich denke nicht, dass wir zurzeit in Italien viele Verbündete haben, und daher müssen wir uns nach Kräften bemühen, unsere Freunde zu behalten und diejenigen zurück zu gewinnen, die wir verloren haben. Ich bin der tiefen Überzeugung, dass unser Wohlergehen in diesem Land von der Tatsache abhängig ist, dass wir auf eine politische Tätigkeit oder auf die Unterstützung der einen oder anderen Partei verzichten. Traditionsgemäss haben die Juden immer ausgezeichnete Beziehungen zu den Parteien gepflegt, die an der Macht sind, und meiner Ansicht nach hat sich diese Einstellung ausgezahlt. Was unsere Beziehungen zu Politikern betrifft, möchte ich dazu auch sagen, dass eine allmähliche Veränderung in der Haltung von Gianfranco Fini wahrzunehmen ist, dem Vizepräsidenten des Ministerrates und Präsidenten der rechtsradikalen Partei «Alleanza Nationale» (deren Ursprünge auf Mussolini zurückgehen), der wegen dieser Entwicklung mit dem Widerstand und einer Reihe von Vorwürfen seitens des ultrakonservativen Flügels seiner eigenen Partei konfrontiert ist. Doch auch wenn Fini Israel seine Unterstützung ausgesprochen hat, hat er damit zu einigen wesentlichen Punkten noch nicht auf befriedigende Art und Weise Position bezogen, wie z.B. zur umfassenden Glaubensfreiheit und zur Immigrationsfreiheit. Ich bin nach wie vor überzeugt, dass seine Partei eine Gefahrenquelle darstellt und dass wir sehr wachsam bleiben müssen.

Sie haben uns gesagt, dass der zweite Punkt Ihrer beiden parallelen Sorgen alles umfasst, was mit Israel zu tun hat. Weshalb?

Im Allgemeinen verstehen die Italiener nicht, warum wir «italienischen Juden» Israel verteidigen, obwohl wir keine Israelis sind. Ich erkläre ihnen, dass unsere Identität durch die Staatsgründung von Israel eine entscheidende, positive Veränderung erfahren hat. In diesem Zusammenhang möchte ich hier kurz an eine historische Begebenheit in unserer Gemeinschaft erinnern, an die sich trotz ihrer Bedeutung kaum noch jemand erinnert. Es gab in Rom eine lokale Tradition, die es Juden verbot, unter dem Titusbogen durchzuschreiten. Nach der Staatsgründung beschloss aber die gesamte Gemeinde, angeführt vom Grossrabbiner von Rom und dem damaligen Präsidenten der Unione, unter diesem Bogen durchzugehen, da dieser von nun an nicht mehr die jüdische Gefangenschaft symbolisierte. Man muss sich die Bedeutung dieses Ereignisses vor Augen halten, das die nationale, kulturelle und jüdische Identität der italienischen Juden direkt berührte. Nach fast zweitausend Jahren entsprach dies ganze einfach einer revolutionären Wende. Ich versuche meinen Gesprächspartnern also begreiflich zu machen, dass Israel nicht einfach ein «anderer» Staat ist, sondern dass er uns eine neue Identität verleiht, wie wir sie nie gekannt haben. Dank dieser Identität besitzen wir neue Kraft, um die Assimilierung und die fortschreitende Auflösung der kleinen jüdischen Gemeinschaft Italiens zu bekämpfen. Ich tue alles, um diese Botschaft in der Öffentlichkeit zu verbreiten, aber manchmal frage ich mich, ob meine eigenen Glaubensbrüder die Bedeutung der privilegierten Lage wirklich begriffen haben, in der wir uns seit 1948 befinden. Ich muss betonen, dass es in der Politik nicht selten ist, dass man uns nicht nur ein aufmerksames Ohr leiht und uns mit beginnendem Verständnis begegnet, sondern uns sogar Freundschaft zeigt. Einige Zeit vor dem amerikanischen Angriff auf Irak lehnte es Tarek Aziz, der mit grossem Pomp vom Papst empfangen wurde, im Laufe einer Pressekonferenz ab, die Frage eines israelischen Journalisten zu beantworten, weil er eben Israeli war. Einer unserer Freunde, der Bürgermeister von Rom Walter Veltroni, hat in der Folge sofort das Treffen annulliert, das zwischen ihm und diesem berühmten Minister von Saddam Hussein hätte stattfinden sollen.

Wie sehen Sie die Zukunft Ihrer Gemeinde?

Es ist nicht unsere Aufgabe, die Zukunft zu erraten, sondern uns für eine bessere Zukunft einzusetzen. In diesem Sinne glaube ich, dass alle unsere Tätigkeiten sinnvoll sind. Ich wünsche mir eine geeinte jüdische Gemeinschaft in Italien, denn da wir wenig zahlreich sind, können wir uns Zwistigkeiten nicht leisten. Einer meiner Vorbilder ist Achad Haam (mit richtigem Namen Ascher Ginsberg 1856-1927), der zwar aus einer chassidischen Familie stammte, aber nicht fromm geblieben war. Mit seinem ganzen Wesen war er jedoch in die jüdischen und rabbinischen Traditionen weiterhin aufs tiefste verankert. Mein gesamtes Handeln ist von dieser Einstellung geprägt. Ich predige meinen Glaubensbrüdern: lernt - lernt - lernt! Sprecht untereinander nicht Italienisch, sondern Hebräisch. Wenn ihr nach Israel reist, verhaltet euch nicht wie Touristen in einem fremden Land, verhaltet euch wie Juden. Wenn ihr in Israel seid, strengt euch an, versucht so oft wie möglich Hebräisch zu sprechen. Schlagt die Bibel auf, versucht einen einfachen Abschnitt der Mischnah zu verstehen und lernt die Grundlage unseres kulturellen Erbes gut kennen. Anschliessend könnt ihr tun, was ihr wollt. Ich habe keine Ahnung, ob die Gemeinschaft von morgen fromm, orthodox, reformiert sein wird oder nicht. Ich weiss aber, dass wir verloren sind, wenn wir nicht alles in unserer Macht Stehende unternehmen, um eine Generation von jungen Juden heranzuziehen, die sich ihrer Identität bewusst und stolz auf sie ist und die mit der Zeit unsere Nachfolge antreten kann. Vielleicht bin ich zu optimistisch, doch dies sind die Prinzipien, die mein Tun leiten und dank denen ich mich dafür einsetzen kann, dass die jüdische Gemeinschaft von Italien eine Zukunft hat... das hoffe ich zumindest.

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