Die Dachverbände der Kultusgemeinden
gelten im Allgemeinen nicht als
dynamische oder besonders unternehmungsfreudige
Einrichtungen, sie verkörpern
eher eine Art unbewegliches
Fossil, deren wichtigste Tätigkeit darin
besteht, von Fall zu Fall Fragen im Zusammenhang
mit der Vertretung der jüdischen
Bevölkerung bei den Behörden
und mit den Beziehungen zwischen den
einzelnen Gemeinden zu klären. Vor
meiner Begegnung mit dem Präsidenten
des italienischen Bundes der jüdischen
Kultusgemeinden war ich folglich eher
skeptisch und bereitete mich darauf
vor, eine Reihe von üblichen Klischees
über die «Nützlichkeit und Effizienz»
dieser Organisation zu hören. Ich staunte
daher nicht schlecht, als ich während
meines Interviews mit Dr. AMOS LUZZATTO,
dem Präsidenten der Unione
delle Comunità Ebraiche Italiana, einem
Mann gegenübersass, der vor
Energie, gesundem Menschenverstand
und vor allem Realitätssinn nur so
sprühte.
Dr. Luzzatto lebt in Venedig, wo er als Arzt tätig ist,
doch er ist auch als Historiker sehr bekannt aufgrund
seines umfassenden Wissens über das Judentum, aufgrund
seiner zahlreichen Publikationen und seiner
Teilnahme an vielen interreligiösen Tagungen. Die
Unione, in der die 21 jüdischen Gemeinden Italiens
zusammengefasst sind, besteht aus einem Kongress,
der alle vier Jahre zusammentritt und an dem Delegierte
aller Gemeinden teilnehmen; aus einem Rat mit
achtzehn Mitgliedern, die vom Kongress gewählt werden;
aus einem beratenden rabbinischen Rat mit drei
Rabbinern, die alle drei dem Rat und einer Rabbinerversammlung
angehören, in der sämtliche Rabbiner
Italiens vertreten sind; sowie einem Präsidenten, der
vom Rat und einem Präsidentschaftsausschuss gewählt
wird, der sich aus dem Vizepräsidenten, einem Vertreter
des Rabbinerrates und einer wechselnden Zahl
von Beratern zusammensetzt.
Es ist eine interessante Tatsache, dass die Stellung der
jüdischen Gemeinde Italiens als sehr fortschrittlich gilt
im Vergleich zu anderen Gemeinschaften und dass die
Vereinbarungen, die zwischen der Unione und der Regierung
unterschrieben wurden und die Gesetzeskraft
besitzen, die vollständige Glaubensfreiheit garantieren,
einschliesslich des Rechts auf rituelles Schächten,
auf Friedhöfe usw. Die Juden besitzen ebenfalls das
Recht auf die Schabbatruhe, seien sie nun Staatsangestellte
oder Mitarbeiter in der Privatwirtschaft. Dieses
Gesetz bezieht sich auf die Freitage und betrifft die
Zeitspanne zwischen einer halben Stunde vor Sonnenuntergang
bis zu einer Stunde nach Ablauf des Schabbats.
Dies gilt auch für die Feiertage, die im Gesetz
genau festgelegt sind, von Jom Kippur bis zum zweiten
und achten Tag von Pessach und Sukkoth. Darüber
hinaus werden religiöse Eheschliessungen anerkannt
und erfordern keine vorherige zivile Hochzeit. Dieser
32 Paragraphen umfassende Vertrag deckt zahlreiche
Aspekte des jüdischen Lebens ab und verleiht den
Juden des Landes weit reichende Rechte.
Da die Unione aber die jüdischen Gemeinden in erster
Linie auf politischer Ebene vertritt, ist sie innerhalb
der verschiedenen Stufen der Regierung und des
Parlaments sowie im Bereich Presse und öffentliche
Meinung tätig. Sie verfügt sogar über Sendezeit im
Fernsehen und strahlt zweimal monatlich eine jüdische
Sendung auf dem Kanal RAI aus.
Wir wollten uns ein umfassendes Bild von der gegenwärtigen
Situation der jüdischen Gemeinschaft in
Italien machen und haben uns aus diesem Grund lange
mit Dr. Amos Luzzatto unterhalten.
Welches sind im Moment Ihre Hauptsorgen?
Wir haben zwei parallel laufende Prioritäten: den Antisemitismus und Israel. Wie Sie wissen, leiden wir zurzeit
unter keiner Form von Diskriminierung und es
gibt sozusagen keine gewalttätigen antisemitischen
Übergriffe in unserem Land. Doch die italienische
Kultur ist stark vom Katholizismus geprägt, einem
sehr strengen katholischen Glauben. Dies erklärt,
weshalb der grösste Teil der Bevölkerung nicht weiss,
was ein Jude ist, und auch nicht, wie er mit ihm kommunizieren
soll. Das Vatikanische Konzil II war den
lokalen Kirchen und der Bevölkerung sehr fremd. Im
Lehrplan der Schulen ist der obligatorische Religionsunterricht-
der katholischen Religion - verankert
und die Lehrer, die dieses Fach unterrichten, müssen
von der römischen Kurie bestätigt werden. Ich stehe in
regelmässigem Kontakt zu den Schulen und bin immer
wieder aufs Neue überrascht vom Ausmass des Unwissens
und der eindeutig judenfeindlichen Propaganda,
die in diesem Land sehr tief verwurzelt ist.
Ich habe nie gezögert, mich in der Öffentlichkeit gegen
diesen Zustand zu wenden, doch es ist natürlich sehr
schwer, Veränderungen zu bewirken.
Wie sehen Ihre Beziehungen zum Vatikan aus?
Seit ich vor fünf Jahren Präsident wurde, bin ich noch
nie vom Papst eingeladen worden, ich habe aber auch
nie um eine Audienz gebeten. Nach seinem Besuch in
der Synagoge und in Israel hat uns Johannes Paul II.
deutlich zu verstehen gegeben, dass er der islamischen
Welt, die er fürchtet, sehr grosse Bedeutung beimisst.
Ich denke nicht, dass wir zurzeit in Italien viele Verbündete
haben, und daher müssen wir uns nach
Kräften bemühen, unsere Freunde zu behalten und
diejenigen zurück zu gewinnen, die wir verloren
haben. Ich bin der tiefen Überzeugung, dass unser
Wohlergehen in diesem Land von der Tatsache abhängig
ist, dass wir auf eine politische Tätigkeit oder auf
die Unterstützung der einen oder anderen Partei verzichten.
Traditionsgemäss haben die Juden immer ausgezeichnete
Beziehungen zu den Parteien gepflegt, die
an der Macht sind, und meiner Ansicht nach hat sich
diese Einstellung ausgezahlt. Was unsere Beziehungen
zu Politikern betrifft, möchte ich dazu auch sagen, dass
eine allmähliche Veränderung in der Haltung von
Gianfranco Fini wahrzunehmen ist, dem Vizepräsidenten
des Ministerrates und Präsidenten der rechtsradikalen
Partei «Alleanza Nationale» (deren Ursprünge
auf Mussolini zurückgehen), der wegen dieser
Entwicklung mit dem Widerstand und einer Reihe von
Vorwürfen seitens des ultrakonservativen Flügels seiner
eigenen Partei konfrontiert ist. Doch auch wenn
Fini Israel seine Unterstützung ausgesprochen hat, hat
er damit zu einigen wesentlichen Punkten noch nicht
auf befriedigende Art und Weise Position bezogen,
wie z.B. zur umfassenden Glaubensfreiheit und zur
Immigrationsfreiheit. Ich bin nach wie vor überzeugt,
dass seine Partei eine Gefahrenquelle darstellt und
dass wir sehr wachsam bleiben müssen.
Sie haben uns gesagt, dass der zweite Punkt Ihrer beiden
parallelen Sorgen alles umfasst, was mit Israel zu
tun hat. Weshalb?
Im Allgemeinen verstehen die Italiener nicht, warum
wir «italienischen Juden» Israel verteidigen, obwohl
wir keine Israelis sind. Ich erkläre ihnen, dass unsere
Identität durch die Staatsgründung von Israel eine entscheidende,
positive Veränderung erfahren hat. In diesem
Zusammenhang möchte ich hier kurz an eine historische
Begebenheit in unserer Gemeinschaft erinnern,
an die sich trotz ihrer Bedeutung kaum noch
jemand erinnert. Es gab in Rom eine lokale Tradition, die es Juden verbot, unter dem Titusbogen durchzuschreiten.
Nach der Staatsgründung beschloss aber
die gesamte Gemeinde, angeführt vom Grossrabbiner
von Rom und dem damaligen Präsidenten der
Unione, unter diesem Bogen durchzugehen, da dieser
von nun an nicht mehr die jüdische Gefangenschaft
symbolisierte. Man muss sich die Bedeutung
dieses Ereignisses vor Augen halten, das die nationale,
kulturelle und jüdische Identität der italienischen
Juden direkt berührte. Nach fast zweitausend Jahren
entsprach dies ganze einfach einer revolutionären
Wende. Ich versuche meinen Gesprächspartnern also
begreiflich zu machen, dass Israel nicht einfach ein
«anderer» Staat ist, sondern dass er uns eine neue
Identität verleiht, wie wir sie nie gekannt haben.
Dank dieser Identität besitzen wir neue Kraft, um die
Assimilierung und die fortschreitende Auflösung der
kleinen jüdischen Gemeinschaft Italiens zu bekämpfen.
Ich tue alles, um diese Botschaft in der Öffentlichkeit
zu verbreiten, aber manchmal frage ich mich,
ob meine eigenen Glaubensbrüder die Bedeutung
der privilegierten Lage wirklich begriffen haben, in
der wir uns seit 1948 befinden. Ich muss betonen, dass
es in der Politik nicht selten ist, dass man uns nicht
nur ein aufmerksames Ohr leiht und uns mit beginnendem
Verständnis begegnet, sondern uns sogar
Freundschaft zeigt. Einige Zeit vor dem amerikanischen
Angriff auf Irak lehnte es Tarek Aziz, der mit
grossem Pomp vom Papst empfangen wurde, im Laufe
einer Pressekonferenz ab, die Frage eines israelischen
Journalisten zu beantworten, weil er eben
Israeli war. Einer unserer Freunde, der Bürgermeister
von Rom Walter Veltroni, hat in der Folge
sofort das Treffen annulliert, das zwischen ihm und
diesem berühmten Minister von Saddam Hussein
hätte stattfinden sollen.
Wie sehen Sie die Zukunft Ihrer Gemeinde?
Es ist nicht unsere Aufgabe, die Zukunft zu erraten,
sondern uns für eine bessere Zukunft einzusetzen. In
diesem Sinne glaube ich, dass alle unsere Tätigkeiten
sinnvoll sind. Ich wünsche mir eine geeinte jüdische
Gemeinschaft in Italien, denn da wir wenig zahlreich
sind, können wir uns Zwistigkeiten nicht leisten. Einer
meiner Vorbilder ist Achad Haam (mit richtigem
Namen Ascher Ginsberg 1856-1927), der zwar aus einer
chassidischen Familie stammte, aber nicht fromm
geblieben war. Mit seinem ganzen Wesen war er jedoch
in die jüdischen und rabbinischen Traditionen weiterhin
aufs tiefste verankert. Mein gesamtes Handeln ist
von dieser Einstellung geprägt. Ich predige meinen
Glaubensbrüdern: lernt - lernt - lernt! Sprecht untereinander
nicht Italienisch, sondern Hebräisch. Wenn ihr
nach Israel reist, verhaltet euch nicht wie Touristen in
einem fremden Land, verhaltet euch wie Juden. Wenn
ihr in Israel seid, strengt euch an, versucht so oft wie
möglich Hebräisch zu sprechen. Schlagt die Bibel auf,
versucht einen einfachen Abschnitt der Mischnah zu
verstehen und lernt die Grundlage unseres kulturellen
Erbes gut kennen. Anschliessend könnt ihr tun, was
ihr wollt. Ich habe keine Ahnung, ob die Gemeinschaft
von morgen fromm, orthodox, reformiert sein wird
oder nicht. Ich weiss aber, dass wir verloren sind, wenn
wir nicht alles in unserer Macht Stehende unternehmen,
um eine Generation von jungen Juden heranzuziehen,
die sich ihrer Identität bewusst und stolz auf sie
ist und die mit der Zeit unsere Nachfolge antreten kann.
Vielleicht bin ich zu optimistisch, doch dies sind die
Prinzipien, die mein Tun leiten und dank denen ich
mich dafür einsetzen kann, dass die jüdische Gemeinschaft
von Italien eine Zukunft hat... das hoffe ich
zumindest.
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