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Inhaltsangabe Russland Herbst 1997 - Tischri 5758

Editorial - Herbst 1997
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Rosch Haschanah 5758
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Schule nummer 1621

Von Roland S. Süssmann
Seit dem Aufkommen der Perestroika hat das jüdische Leben in Russland eine tiefgreifende Umwälzung erfahren. Täglich entwickeln sich neue Aktivitäten. So besuchen in Moskau fast zweitausend jüdische Kinder eine der sechs jüdischen Schulen der Hauptstadt. Um dieser Tatsache mehr Nachdruck zu verleihen, haben wir die Schule "Etz Chaim" aufgesucht, die zweihundertfünfzig Schüler zählt, von DORA GOLDSCHMIDT gegründet wurde und heute geleitet wird. Sie ist selbst Mutter von sechs Kindern und niemand anderer als die Frau des Oberrabbiners von Moskau.


Wie und warum haben Sie beschlossen, die Schule "Etz Chaim" zu gründen ?

Zu Beginn waren meine Beweggründe ganz egoistischer Art: meine Kinder hatten das Schulalter erreicht, und in Moskau gab es damals keine jüdische Schule, deren Unterricht und Einstellung mir für meine Kinder zugesagt hätten, und die ihnen die Art und das Niveau von Schulbildung verleihen konnte, die mein Mann und ich für sie wünschten. Wir haben also vor sechs Jahren mit einem Kindergarten begonnen, der drei Altersgruppen umfasste: 3, 4 und 5 Jahre. 1991 ist es uns gelungen, die ersten Primarschulklassen zu eröffnen. Es gibt in Moskau dreissig sogenannte "Nationale Staatsschulen", wobei auch die Armenier, die Georgier und natürlich die Juden dazugehören, denn das Judentum wird immer noch als eine Minderheit angesehen. Unsere Schule ist demnach offiziell unter der Bezeichnung "Russisch-hebräische nationale religiöse Schule Nr.1621" registriert. Dieser Status ist etwas Besonderes, da schon die Tatsache, dass unsere Schule als "religiosni" (religiös) bezeichnet wird, an sich speziell ist. Keine einzige Schule mit religiösem Charakter hat Subventionen vom Staat erhalten, doch da wir als Teil der Synagoge angesehen werden, kommen uns die Bezeichnung "religiös" und die finanzielle Unterstützung des Staates zugute. Im Westen wird aufgrund der vollständigen Trennung von Kirche und Staat keine einzige jüdische und folglich private Schule vom Staat subventioniert. Obwohl der Staat weiss, dass jede Nationalität einen Teil des Unterrichts in direktem Zusammenhang mit seiner Religion erteilt, erhalten wir hier eine bedeutende finanzielle Unterstützung und sind offiziell anerkannt. Der Staat übernimmt 60% unseres Budgets, die restlichen 40% werden von einer jüdischen Organisation der USA mit dem Namen "Operation offener Vorhang" bezahlt, die unter der Leitung der Agudat Israel steht. Der Unterricht sowie die Schulmensa (in der täglich alle Schüler ein streng koscheres Frühstück, Mittagessen und "Zvieri" einnehmen) sind kostenlos. Seit der Gründung der Schule haben wir jedes Jahr eine neue Klasse hinzugefügt, und nächstes Jahr schliessen wir den Zyklus von Grund- und Sekundarschule bis zum 14. Altersjahr ab. Die Jugendlichen, die nicht über eine besondere Begabung verfügen, gehen danach in Berufs- oder technische Schulen, die anderen setzen - wahrscheinlich bei uns - die zwei Jahre bis zur Maturität im Alter von 16 Jahren fort ! Das Niveau des Unterrichts ist sehr hoch, insbesondere in Mathematik und in den wissenschaftlichen Fächern. Meine Kinder im Alter von neun und elf Jahren lernen jetzt schon, was ich mit 16-17 durchgenommen habe.


Das Niveau und das Schulprogramm scheinen zugleich intensiv und sehr anspruchsvoll zu sein. Wie ist dies mit den jüdischen Fächern zu vereinbaren ?

Dieser Punkt stellt eines unserer Hauptprobleme dar. In anderen Ländern wünschen die Eltern, dass ihre Kinder eine gewisse Anzahl Stunden in jüdischen Fächern unterrichtet werden. Hier werden wir von den Eltern, die überhaupt nicht gläubig sind, kaum unterstützt. Im Gegenteil, sie beklagen sich, dass ihre Kinder immer müde sind. Es stimmt, dass die meisten von ihnen nach einem langen Schultag noch über eine Stunde in den öffentlichen Verkehrsmitteln verbringen, einige gar zweimal am Tag zwei Stunden für den Hin- und Rückweg. Die Eltern finden es daher unnötig, sie zusätzlich mit jüdischen Fächern zu belasten, die trotz allem 30% des Lehrprogramms ausmachen.


Wenn sie der Ansicht sind, dass die Kombination zweier Studiengänge ihren Kindern zuviel wird, warum schreiben sie sie in einer jüdischen Schule ein ?

Dies ist genau der Kern des Problems. In einigen Fällen nehmen die Eltern ihre Kinder von unserer Schule und melden sie in einem jüdischen Institut an, wo sie nur Hebräisch als zusätzliches Fach haben. Es scheint ihnen ausreichend, dass sie in einer jüdischen Umgebung zur Schule gehen. Wir hingegen sind überzeugt, dass es in Moskau mindestens eine Schule geben muss, die ein Intensivprogramm in jüdischen Fächern anbietet. Wir bitten daher die Eltern, die ihre Kinder weiterhin zu uns zur Schule kommen lassen, solidarisch zu sein und uns bei der Beibehaltung unserer jüdischen Programme zu unterstützen, wie sie dies auch für die weltlichen Fächer und den Sport tun. Es ist keine leichte Aufgabe, doch wir setzen alles daran, damit die Eltern diese Zusammenarbeit akzeptieren. Darüber hinaus spielen in Russland die Musik und das klassische Ballett eine wichtige Rolle, und auch dies kommt in unserer Schule zum Ausdruck. Viele Kinder, die bei uns im Kindergarten sind, erhalten drei- bis viermal pro Woche Musikunterricht.


Aus welchen Gründen wünschen Eltern, die selbst keinerlei jüdische Ausbildung erhalten haben, dass ihre Kinder eine orthodoxe Schule wie "Etz Chaim" besuchen ?

Wir beobachten ein recht interessantes Phänomen, das übrigens kurz vor den langen Sommerferien aufgetreten ist. Wir haben einen Informationsabend mit dem Ziel veranstaltet, neue Schüler zu finden, und zum ersten Mal sind vierzig Elternpaare erschienen. Ihre Beweggründe sind sehr unterschiedlich, meistens geht es darum, die Kinder in eine Schule mit einem gesunden Umfeld zu schicken, denn in zahlreichen öffentlichen Schulen fangen die Kinder mit zehn Jahren an zu rauchen. Andere entscheiden sich für unsere Schule, weil das Niveau des Unterrichts in Englisch und Informatik besonders hoch ist. Wieder andere Eltern schreiben ihre Kinder an einer jüdischen Schule ein, weil diese nicht in der Lage sind, dem Unterricht in einer anderen Schule zu folgen, doch diese Fälle sind eher selten. Die jüdische Frage steht bei der Wahl der Schule bestimmt nicht an erster Stelle. Ein grosser Teil dieser Eltern ist sich aber ihres Judentums und gleichzeitig auch der Tatsache bewusst geworden, dass sie in dieser Beziehung total ungebildet sind. Sie wollen ihren Kindern die Chance geben, ihren jüdischen Glauben aufgrund eines soliden Wissens zu leben. Die meisten Eltern sind glücklich darüber, wenn ihre Kinder auf ihr Judentum stolz sind, und manchmal beginnen sie gar, dieses Gefühl mit ihnen zu teilen.
Um den Graben zu überbrücken, der die Schule im Bereich des Glaubens von ihrem Zuhause trennt, haben wir beschlossen, den Eltern unserer Schüler ein Ausbildungsprogramm für Erwachsene anzubieten. Wir wollten vermeiden, dass sich die Eltern plötzlich von ihren Sprösslingen und von der unvermeidlichen Dissonanz zwischen dem Erleben der Kinder in der Schule und der Lebensweise ihrer Eltern "bedroht" fühlen. Man darf nicht ausser acht lassen, dass die Angst vor dem Antisemitismus und die Furcht, sein Judentum offen auszuleben, nicht verschwunden sind. Wir haben übrigens zahlreiche Schüler, die unserem jüdischen Unterricht folgen, ihren Spielkameraden in ihrem Wohnquartier aber nicht sagen, in welche Schule sie gehen !


Wie können Sie sicher sein, dass die Kinder, die sich an Ihrer Schule einschreiben, authentische Juden sind ?

Wir verlangen die Vorlegung offizieller Dokumente, die belegen, dass die Mutter tatsächlich Jüdin ist. Wir können ein Kind abweisen, dessen Mutter nicht Jüdin ist, selbst wenn wir vom Staat Subventionen erhalten.


Wer unterrichtet bei Ihnen ?

Unser Lehrkörper besteht aus ungefähr hundert Personen. Im Bereich der jüdischen Fächer stehen uns fünfzehn Lehrer zur Verfügung. Mit Ausnahme zweier israelischer Lehrer sind alle unsere Unterrichtenden Juden aus Moskau, die ihren Glauben wieder praktizieren "baale teschuwoth", zwei sind sogar Nicht-Juden, die freiwillig zum jüdischen Glauben übergetreten sind. Es sind alles ausgebildete Lehrer. Wir besitzen ein internes Fortbildungsprogramm, und diese Kurse stehen allen jüdischen Lehrern offen, die mehr über das Judentum erfahren möchten. In diesem Jahr wurde der Kurs von zwanzig Frauen besucht, von denen drei für das kommende Schuljahr einen Posten in unserer Schule angenommen haben. Ausserdem organisieren wir im Sommer für die Lehrer der jüdischen Fächer einmonatige Kurse in Israel.


Machen Sie Ihre Schüler während des Unterrichts auch mit dem jüdischen Staat vertraut ? Unternehmen Sie etwas, damit sie ein Gefühl der Verbundenheit zu diesem Land entwickeln ?

Selbstverständlich, wir haben auch ein grosses Fest zu Jom Haatsmauth (Fest der israelischen Unabhängigkeit) in der Schule selbst organisiert. In diesem Jahr haben wir überdies zum ersten Mal eine Gruppe von neun 14-jährigen Schülern (vier Mädchen und fünf Jungen) für einen Monat nach Jerusalem in eine Familie geschickt, damit sie ihr Judentum voll ausleben und das Land zusammen mit jungen Israelis ihres Alters entdecken können.
Abschliessend möchte ich darauf hinweisen, dass zwischen den sechs jüdischen Schulen von Moskau keine Konkurrenz besteht, denn die Zahl der Kinder, die noch keine jüdische Schule besuchen, ist so gross, dass die Entwicklungsmöglichkeiten enorm sind. Sie haben alle eine wichtige Aufgabe zu erfüllen, und wir müssen der Herausforderung, mit der wir konfrontiert werden, entschlossen entgegentreten.

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