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Inhaltsangabe Rosch Haschanah 5758 Herbst 1997 - Tischri 5758

Editorial - Herbst 1997
    • Editorial

Rosch Haschanah 5758
    • Das Wesentliche

Politik
    • Fragen um den Libanon

Interview
    • Entschlossenheit und Realität
    • Rasch handeln

Analyse
    • Jahresrückblick

Judäa - Samaria - Gaza
    • Schomron - Samaria

Kunst und Kultur
    • Yiddischkeit
    • Feminismus und Orthodoxie

Russland
    • Jerusalem und Moskau
    • Juden in Russland
    • Wissenschaftliche Zusammenarbeit Russland-Israel
    • Neue Energie...
    • Referenz - Chronik - Erinnerung
    • Zwölf Millionen Bücher und massenhaft Schulen
    • Schule nummer 1621

Erziehung
    • Dynamischere Übertragung des Judentums

Porträt
    • Kalligraphie und Informatik

Reportage
    • Leben und leben lassen

Ethik und Judentum
    • Gefährliche Wette

Das gute Gedechtnis
    • Die Ereignisse des Monats Oktober

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Das Wesentliche

Von Rabbiner Zalman I. Posner, Nashville, Tennessee
Von seinem Wesen her ist Rosch Haschanah der Anfang, der Neubeginn, die Rückkehr zu den Grundsätzen, zum Wesentlichen. Was verkörpert aber in der gegenwärtigen Gesellschaft, in der Zeit, in der wir leben, "das Wesentliche" ? Jeder von uns könnte ohne weiteres eine Liste von Prioritäten erstellen, welche die Dinge umfasst, die er für "grundsätzlich" hält.
In Wirklichkeit bewegt uns in dieser Zeit von Rosch Haschanah die Frage, auf welcher Grundlage ein Moralkodex beruht. Wir neigen dazu, diese Frage dahingehend zu beantworten, dass es sich um eine rein persönliche Angelegenheit handelt. Für unsere Generation gibt es also angeblich keinen allgemeingültigen und universellen Moralkodex, sondern vielmehr einen individuellen Kodex des moralischen Handelns. Es scheint jedem freizustehen, den "Kodex des moralischen Handelns" seines Nächsten zwar zu respektieren, ihn jedoch selbst nicht zu befolgen. So ist ein Mörder kein Verbrecher mehr, sondern einer der lediglich gegen das Gesetz unserer Gesellschaft verstossen hat. Die Bezeichnung "Verbrecher" ist nur noch für denjenigen gültig, der die Moral verletzt. Die Gesetzgebung bietet aber nicht immer Richtlinien für die Entscheidungen an, mit denen das Individuum konfrontiert wird, wenn es Position beziehen soll. Wie hat man sich demnach in den Fällen zu verhalten, in denen es nur ein stillschweigendes oder gar kein Gesetz gibt ? Sind Gesetz und Moral immer miteinander vereinbar ? Muss man ausschliesslich aufgrund seiner eigenen Gefühle und persönlichen moralischen Werte handeln ? Sollte die Moral heutzutage nicht mehr eine Frage von Gut und Böse sein, sondern höchstens ein Problem des Geschmacks und der persönlichen Vorlieben ? Die grossen Fragen, welche die westliche Gesellschaft beschäftigen, wie beispielsweise die Abtreibung, die Euthanasie oder die Beihilfe zum Selbstmord können nicht mehr im Rahmen eines Moralkodexes beantwortet werden, sondern werden von der "Mode" abhängig. Die Mode, die Vorlieben und die Geschmäcker sind jedoch nicht absolute Werte, sondern verändern sich. So kann das, was gestern abgelehnt wurde, heute gang und gäbe sein. Dies bedeutet nicht, dass die neue Auffassung gestern schlecht war, sondern nur, dass sie nicht mit dem Zeitgeist übereinstimmte. Man kann diese Überlegung noch weiter, sozusagen ad absurdum führen: letztendlich entspricht sie der Behauptung, der einzige Unterschied zwischen Hitler und Maria Theresia lasse sich auf die einfache subjektive Frage von Präferenzen und Handlungsweisen reduzieren, da der eine sich für den Massenmord an den Juden, die andere sich für das Retten von Menschenleben entschieden habe !
Mit dem Gedanken, alle müssten zum Akzeptieren desselben Kodexes des moralischen Handelns veranlasst oder gezwungen werden, stellt sich jedoch eine neue Frage: Wo liegt der Ursprung dieses Kodexes ? Von welcher Autorität wird er bestimmt ? Noch vor einem Jahrhundert gab es auf diese Fragen unzählige Antworten. Neben der Religion besassen auch die Gesellschaft oder die Wissenschaften die Macht, einen Moralkodex aufzustellen. Als Hauptgedanke hatte sich durchgesetzt, dass ein hohes Bildungsniveau zusammen mit der angeborenen Güte des Menschen und einer eklektischen kulturellen Entwicklung das Individuum automatisch zu einer vollkommenen moralischen Haltung führen würde. Hitler und Stalin haben jedoch bewiesen, dass die schönen Theorien in Wahrheit nur Luft waren.
Leider leben viele von uns noch im 19. Jahrhundert. Es wird höchste Zeit, dass sie die Augen öffnen und begreifen, dass wir uns in einer Gesellschaft befinden, in der jede Form des menschlichen Verhaltens akzeptiert wird, weil es einen grundlegenden Kodex des moralischen Handelns eben nicht oder nicht mehr gibt und weil der Grundgedanke folgendermassen lautet: "Was für meinen Nächsten falsch oder schlecht ist, kann mir durchaus zusagen".
Die Vereinigten Staaten wurden kürzlich von einer Tragödie erschüttert, welche die von dieser Idee der "Toleranz" verursachten Auswüchse auf eindrückliche Weise veranschaulicht. An einem Schulfest verliess ein junges Mädchen, das seine Schwangerschaft bis dahin erfolgreich hatte vertuschen können, die Tanzfläche und ging in den Waschraum, wo es ihr Kind allein zur Welt brachte. Sie erstickte ihr Baby, wickelte es in Papier und warf es in den Abfalleimer. Danach kehrte sie an das Fest zurück, als ob nichts geschehen wäre. Dieses Drama symbolisiert bestens, wie nachlässig unsere Gesellschaft unter dem Vorwand der Toleranz geworden ist. Ist unsere Welt wirklich durch und durch unmoralisch ? Die bedeutenden Fragen unserer Zeit, wie Krieg, Armut, Arbeitslosigkeit usw., werden solange nicht gelöst werden, als wir uns nicht der wichtigsten Frage zuwenden und alles in unserer Macht Stehende unternehmen, um zu den Grundsätzen zurückzukehren, die unsere Gesellschaft lenken, zum Wesentlichen..., zu Rosch Haschanah.
Der Talmud lehrt uns, dass Rosch Haschanah der Tag der Krönung ist, der Tag, an dem das Volk Israels sich dem Königreich und der Autorität des Himmels unterwirft. An Jom Kippur geht es um die Reue, um Wiedergutmachung unserer Fehler und das Besserwerden der Welt. Rosch Haschanah liefert eine Grundlage; zuerst wird der König gekrönt, dann erlässt er seine Gesetze. G'ttliche Gesetze ? Ja, seinen Kodex für moralisches Handeln, der auch die berühmten Worte enthält, die heute nicht mehr Mode sind: "Du sollst und du sollst nicht !"
Dieses revolutionäre Konzept, dieser objektive Moralkodex wurden uns überliefert und auf dem Berg Sinai offenbart, und wir haben ihn angenommen. Indem wir uns damit einverstanden erklärten, dass unser Leben von den g'ttlichen Gesetzen und Regeln der Torah bestimmt wird, trat wiederum eine Frage auf. Entzieht uns diese Form der Unterwerfung nicht jegliche Entscheidungsfreiheit ? Es stimmt, der Mensch kann frei zwischen Gut und Böse entscheiden, doch er besitzt nicht die Freiheit, das Gute und das Böse selbst festzulegen ! Es ist allgemein bekannt, dass die Wissenschaft keine Werturteile abgibt, nicht weil diese unwichtig wären, sondern weil sie über kein Instrument, keine wissenschaftliche Methode verfügt, um Entscheidungen auf dem Gebiet der Moral zu treffen, wie z.B. sie zu messen oder einen entsprechenden objektiven wissenschaftlichen Kodex auszuarbeiten.
Wünschen wir uns, dass wir in diesem neuen, sich uns öffnenden Jahr unsere Wahl gemäss den Lehren von Rosch Haschanah und dem objektiven Moralkodex zu treffen wissen, den uns die Torah gibt. Unsere positive Entwicklung und unser Erfolg seien dadurch gesegnet.

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