News Neueste Ausgabe Befragung: Resultate Suchen Archiv Français English Русский עברית Español


Inhaltsangabe Ethik und Judentum Herbst 1997 - Tischri 5758

Editorial - Herbst 1997
    • Editorial

Rosch Haschanah 5758
    • Das Wesentliche

Politik
    • Fragen um den Libanon

Interview
    • Entschlossenheit und Realität
    • Rasch handeln

Analyse
    • Jahresrückblick

Judäa - Samaria - Gaza
    • Schomron - Samaria

Kunst und Kultur
    • Yiddischkeit
    • Feminismus und Orthodoxie

Russland
    • Jerusalem und Moskau
    • Juden in Russland
    • Wissenschaftliche Zusammenarbeit Russland-Israel
    • Neue Energie...
    • Referenz - Chronik - Erinnerung
    • Zwölf Millionen Bücher und massenhaft Schulen
    • Schule nummer 1621

Erziehung
    • Dynamischere Übertragung des Judentums

Porträt
    • Kalligraphie und Informatik

Reportage
    • Leben und leben lassen

Ethik und Judentum
    • Gefährliche Wette

Das gute Gedechtnis
    • Die Ereignisse des Monats Oktober

Artikel per E-mail senden...
Gefährliche Wette

Von Rabbiner Shabtai Rappoport *
Y., 26 Jahre alt, ist ein begabter Informatiker. Seit seiner Kindheit leidet er unter Gehörproblemen. Während seiner Jugend und seiner Studentenzeit lernte er, mit Hilfe von geschicktem Raten und dank seiner Intuition seine Behinderung zu überspielen. Er schaffte es sogar, ein Lehrerdiplom zu bestehen. Seine Schüler merkten wohl, dass er ihnen mit angespannter Aufmerksamkeit zuhörte, doch sie verehrten ihn deswegen umso mehr. Schliesslich ergaben ärztliche Untersuchungen, dass winzige, höchstwahrscheinlich gutartige Gehirntumore auf seine Gehörnerven drückten. Auf einen möglichen chirurgischen Eingriff wurde wegen der damit verbundenen Risiken und zweifelhaften Erfolgsaussichten verzichtet, da die Gehörnerven höchstwahrscheinlich endgültig zerstört waren. Als sein Gehör immer schlechter wurde, musste er das Unterrichten aufgeben und nahm eine Stelle als Programmierer in einem Informatikunternehmen an.
Vor kurzem begann Y. unter Kopfschmerzen und Schwindelanfällen zu leiden. Eine NMR-Untersuchung ergab, dass die winzigen Gehirntumore plötzlich begonnen hatten sich zu vermehren und zu vergrössern; dadurch liessen sie einen Druck innerhalb des Schädels und eine unmittelbare Lebensgefahr entstehen. Wiederum wurde ein chirurgischer Eingriff erwogen, obwohl die Risiken noch grösser waren als das erste Mal. Diesmal ging es aber darum, sein Leben und nicht nur sein Gehör zu retten. Es stand ausser Frage, dass er ohne sofortige Operation vom Tod bedroht war. Seine Aussichten, die Operation zu überleben, waren jedoch sehr ungewiss.
Darf man für diese Hoffnung alles aufs Spiel setzen ? Dürfen wir versuchen, ein Leben durch ein heroisches, aber äusserst gefährliches Vorgehen zu retten ? Oder müssen wir vielmehr Vorsicht walten lassen und auf jeden Eingriff verzichten, der dem Patienten das Leben kosten könnte ?
Zu dieser Frage, die in der medizinischen Ethik das "Nutzen/Risiko-Verhältnis " genannt wird, gibt es eine bekannte Quelle, welche die Ansicht der Halacha ausdrückt. Sie stammt aus dem Babylonischen Talmud (Avoda Zarah 27b) und definiert das Konzept des "provisorischen Lebens": es geht um das Leben eines Menschen, dessen Tod bevorsteht, ausser wenn ein medizinischer Eingriff ihn in letzter Minute retten kann. Die Weisen gestatten das Eingehen von Risiken, welche dieses "provisorische Leben" gefährden, wenn dadurch versucht wird, dem Patienten das Leben zu retten und ihm wieder eine normale Existenz zu ermöglichen. Es bleibt zu bestimmen, bis wohin man ein solches Leben aufs Spiel setzen darf. Rabbiner Chaim Ozer Grodzynsky, berühmter Gelehrter des litauischen Judentums vor dem Weltkrieg, bestimmte (Achiezer, 2. Teil, Yore Dea Kap. 16), dass selbst "eine extrem gefährliche Operation, die dem Patienten mit grösster Wahrscheinlichkeit das Leben kosten wird", gestattet ist, "falls irgendeine Besserung möglich ist, auch wenn der Patient nur sehr geringe Chancen besitzt, sie zu überleben".Dieser Entscheid muss erläutert werden. Die Halacha berücksichtigt beim Vorgang der Entscheidungsfindung im allgemeinen die Wahrscheinlichkeit. So wird ein Ereignis, das mit grosser Wahrscheinlichkeit eintreffen wird oder in der näheren Zukunft durchaus Wirklichkeit werden kann, von der Halacha als eine Gewissheit angesehen. Man weiss, dass ein Tier, das für die rituelle Schächtung und für den Verzehr gemäss den jüdischen Nahrungsmittelgesetzen bestimmt ist, keine gefährlichen organischen Krankheiten oder Verletzungen aufweisen darf. Die meisten dieser Krankheiten sind jedoch bei einer gewöhnlichen Schlachtung nur sehr schwer festzustellen. Hier kommt das oben erwähnte Prinzip zur Anwendung: in dem Ausmass, da jedes in einer normalen Umgebung aufgezogene Tier auch selbst gesund ist, wird es ohne zu Zögern als den Nahrungsmittelgesetzen entsprechend bezeichnet.
Die Regel, welche ein Ergebnis aufgrund der hohen Wahrscheinlichkeit definiert, muss auch für die Frage des Risikomanagements angewendet werden. Ist der wahrscheinlichste Ausgang eines medizinischen Eingriffs der Tod des Patienten, muss diese Tat als Mord verurteilt und verboten werden. Auch der Mord an einem Sterbenden wird mit der Todesstrafe geahndet (Maimonides, Gesetze über den Mord, Kap.II, Abs.7). Daher sollte die Tatsache, dass das Leben des Patienten direkt gefährdet ist, hier nicht von Belang sein. Warum würde Rabbiner Chaim Ozer diesen Eingriff trotzdem zulassen ?
Die Überlegung scheint auf dem Grundsatz zu beruhen, dass das Retten eines Lebens nie als Mord angesehen wird. Untersuchen wir dieses Prinzip etwas näher.
Gemäss der Halacha muss ein Leben zu praktisch jedem Preis gerettet werden. Dies schreibt Maimonides (Gesetze über den Totschlag, Kap.I, Abs.6-9): "Verfolgt ein Mensch, auch ein Minderjähriger, einen anderen Menschen und versucht ihn zu töten, hat jeder Jude die Pflicht, die verfolgte Person zu retten, selbst wenn er dazu den Verfolger umbringen muss... Es ist verboten, dabei zu zögern und das Leben des Verfolgers zu bedauern." Man muss also versuchen, das Leben des einen zu retten, selbst wenn es das Leben eines anderen kostet. Diese Regel ist auch für einen Minderjährigen, und analog für einen Unschuldigen gültig, wenn er ohne es zu wollen das Leben eines anderen bedroht. Die höchste Priorität, die dem Leben des Verfolgten zukommt, besagt, dass das Retten eines Lebens einen Mord ausdrücklich ausschliesst. Sobald feststeht, dass das Leben der verfolgten Person aufgrund der Umstände gerettet werden muss, wird das Verbot einen Mord zu begehen aufgehoben. Dies gilt, es sei noch einmal deutlich in Erinnerung gerufen, nur für den Verfolger. In allen anderen Fällen ist es untersagt, ein Leben auf Kosten eines anderen zu retten.
Da jede medizinische Intervention, die dem Patienten helfen soll, einer Lebensrettung entspricht, und das Leben des Patienten gerettet werden muss, kann kein derartiger Eingriff als Mord angesehen werden - ungeachtet der jeweiligen Wahrscheinlichkeiten. Aus diesem Blickwinkel ist der Eingriff nicht nur gestattet, sondern wird wegen der Verpflichtung, Leben zu retten, auch als Notwendigkeit angesehen.
Obwohl Rabbiner Mosche Feinstein sich zunächst mit der oben erläuterten Entscheidung einverstanden erklärte (Igrot Mosche Yore Dea, 2,Teil, Kap.58), distanzierte er sich später davon (ibidem Yore Dea, 3.Teil, Kap.36) und erlaubte diese Art von Intervention nur dann, wenn die Chancen ausgewogen sind. Dieser Streitpunkt macht ebenfalls einige Erklärungen erforderlich.
Rabbiner Mosche ben Nachman, der berühmte Kommentator des 13. Jahrhunderts, schrieb (Torat ha'Adam, Consideration of Life Danger, Verlag Shecell, S.41), dass der medizinische Eingriff sich von anderen Handlungen zur Rettung eines Menschenlebens, z.B. wenn man jemanden vor dem Ertrinken bewahrt, unterscheidet. Ein Leben retten bedeutet, die Gefahr zu eliminieren und dem Leben wieder einen normalen Verlauf zu geben. Der medizinische Eingriff besteht darin, einen physiologischen Vorgang zu reduzieren oder aufzuhalten, der zum Tod führen könnte. Daraus folgt, dass eine ärztliche Handlung nicht wie die Wiederherstellung der Gesundheit angesehen werden muss, sondern wie die Schaffung eines neuen Gesundheitszustands.
Der Babylonische Talmud (Bava Kama 86a) zitiert folgendes Urteil von Raba. Es geht um einen Menschen, der seinen Nächsten verletzt und ihm den Arm gebrochen hat: Kann der Bruch vollständig geheilt werden, muss der Verursacher der Verletzung nichts bezahlen, mit Ausnahme der bis zu seiner Genesung verlorenen Arbeitstage. Der gebrochene Arm wird nicht als "Entwertung" (modern ausgedrückt: Verlust der Funktionstüchtigkeit) des Klägers bewertet, da dieser Zustand vorübergehend ist.
Rabbiner Itzchak ben Avraham aus dem 12. Jahrhundert kommt jedoch für denselben Fall eines Menschen, der seinem Nächsten den Arm gebrochen hat, zu einem anderen Schluss (Or Zarua, Baba Metsiya 262): wenn der Verletzte einer medizinischen Behandlung, beispielsweise eines chirurgischen Eingriffs, bedarf, damit sein Arm wieder funktionstüchtig wird, muss der Verursacher der Verletzung die Kosten der Behandlung tragen, als ob es sich um eine direkte "Entwertung" des Klägers handelte. Er begründet dieses Urteil mit der Erklärung, dass man zunächst davon ausgeht, dass der Kläger seinen Arm gar nie mehr gebrauchen kann. Die Möglichkeit einer ärztlichen Behandlung ändert nichts an diesen Tatsachen. Die Behandlung wird vielmehr als eine Art der Wiedergutmachung des Schadens angesehen, zu der der Angeklagte verpflichtet ist.
Rabbiner Meir Simcha Dvinsk, der sich zu Beginn unseres Jahrhunderts mit seinen Kommentaren einen Ruf erwarb, leitet aus dem eben Gesagten folgende Regel ab (Or Sameach, Gesetze über den Totschlag, Kap.3, Abs.11): ein Mensch, der auf einen anderen schiesst und ihn tödlich verwundet, kann sich nicht damit entschuldigen, dass der Verletzte medizinische Pflege hätte erhalten und gerettet werden können, wenn der zuständige Arzt weniger nachlässig gewesen wäre. Da die medizinische Behandlung nicht als Eliminierung der Todesgefahr betrachtet wird, sondern vielmehr als Wiedergutmachung, ist der Schütze vollumfänglich für den Mord verantwortlich. Wäre das Opfer wirklich gerettet worden, und nur dann, hätte der Schuss nicht als Mord gegolten. Die Möglichkeit jedoch eines medizinischen Eingriffs stellt in keinem Fall einen entlastenden Faktor dar.
Rabbiner Yossef Rozin aus Dvinsk, ein eminenter Kollege von Rabbiner Meir Simcha, geht in seiner Überlegung noch weiter (Zofnat Pa'aneach, Zusätze zu den Schabbat-Gesetzen, Kap.II): weil der medizinische Eingriff keiner direkten Lebensrettung entspricht, sondern nur einen physiologischen Prozess unterbricht und als Wiedergutmachung gilt, fällt er unter die üblichen Gesetze der Halacha und nicht unter die Regeln, die bei Lebensrettung angewendet werden. Daraus folgt, dass ein medizinischer Eingriff, bei dem der Patient sehr wahrscheinlich sein Leben verlieren wird, tatsächlich verboten ist, ungeachtet der Gefahr, in der sich der Kranke befindet.
Kehren wir zum chirurgischen Eingriff zurück, der zur Entfernung der Gehirntumore von Y. vorgeschlagen wurde: da in der Halacha die jüngsten Entscheide der rabbinischen Autoritäten als Gesetze gelten - weil sie eine Fortsetzung der Überlegungen verkörpern - ist der Eingriff nicht zulässig.

* Rabbiner Shabtaï Rappoport leitet die Yeschiwah "Schwut Israel" in Efrat (Gusch Etzion). Neben anderen Werken hat er die beiden letzten Bände der Responsen herausgegeben, die von Rabbiner Mosche Feinstein, s.A., geschrieben wurden. Er entwickelt gegenwärtig eine Datenbank, die alle aktuellen Themen der Halacha umfasst. Anfragen oder Kommentare an folgende E-Mail-Adresse: shrap@mofet.macam98.ac.il.

Contacts
Redaction: edition@shalom-magazine.com   |  Advertising: advert@shalom-magazine.com
Webmaster: webmaster@shalom-magazine.com

© S.A. 2004