In Russland, wie auch in der ehemaligen UdSSR, verkörpert die Tatsache Jude zu sein eine Staatszugehörigkeit und nicht, wie im Westen, eine Religion. Im Rahmen eines breitangelegten, von der Akademie der Wissenschaften in Moskau geleiteten und finanzierten Programms wurde ein Projekt mit dem Ziel in Angriff genommen, eine Reihe von Enzyklopädien über die verschiedenen nationalen Minderheiten Russlands herauszugeben, wie z.B. die Griechen, Polen, Deutschen und... die Juden. Professor Herman Branover der Universität Beer Schewa hat diese riesige Herausforderung, die Erarbeitung einer "Enzyklopädie des russischen Judentums", angenommen.
Vor Ort in Moskau werden die Arbeiten von Rabbiner ZEEV WAGNER geleitet, mit dem wir in seinem winzigen Büro gesprochen haben, in dem er seit 1994 zusammen mit einem kleinen Team von Redaktoren und Forschern Tag und Nacht arbeitet. Diese Gruppe ist ebenfalls mit der gesamten Planung und Koordinierung betraut, was bei einem Mitarbeiterstab von fast 250 Autoren und Experten, die zur Verfassung von Artikeln für diese Enzyklopädie beitragen, kein leichtes Unterfangen darstellt. Der erste und der zweite Band der Enzyklopädie sind bereits in Russisch, der erste Band bereits auch in englischer Übersetzung veröffentlicht worden. Es ist geplant, dass jedes Jahr ein Band in Russisch und Englisch herauskommt (der Plan wurde bisher ziemlich genau eingehalten), wobei die gesamte Kollektion letztendlich acht Bände umfassen soll.
Welches ist der Unterschied zwischen der von Ihnen erarbeiteten "The Encyclopedia of the Russian Jewry" und der "Encyclopedia Judaica", in der zahlreiche russische jüdische Persönlichkeiten sowie Elemente enthalten sind, die sich auf das jüdische Leben in Russland oder der ehemaligen UdSSR beziehen ?
Lexika, wie beispielsweise die "Encyclopedia Judaica", die "Britannica" und viele andere, sind trotz ihrer Informationsfülle recht allgemein gehalten und beruhen auf einer älteren Ausgabe einer Enzyklopädie derselben Art, die vor sechzig oder achtzig Jahren erschienen ist. Die neue Version ist dabei meist nur eine sehr vollständige und gründliche Aktualisierung der früheren Auflage. Unsere Enzyklopädie besitzt nichts Allgemeines und es ist das allererste Mal, dass ein derartig spezifisches, ausschliesslich den Juden Russlands und dem russischen und vormals sowjetischen Judentum gewidmetes Werk veröffentlicht wird.
Wie wählen Sie die Persönlichkeiten aus, die in die "Enzyklopädie des russischen Judentums" aufgenommen werden ?
Wir erhalten zahlreiche Anfragen. Interessanterweise entscheiden sich viele Menschen dazu, sich auf diesem Weg zu ihrem Judentum und zu ihrem jüdischen Vater zu bekennen. Wir haben uns in Israel und in Russland die Mitarbeit des Chef-Vizeredaktors der neuen allgemeinen russischen Enzyklopädie zugesichert. In gewissen Bereichen ziehen wir nur einen Experten heran, in anderen stützen wir uns auf mehrere Meinungen, was uns die Arbeit nicht erleichtert, jedoch die Qualität und die Zuverlässigkeit des Endprodukts gewährleistet. Wenn es darum geht zu wissen, "wer Jude ist ?", haben wir beschlossen, uns nicht an die Vorschriften der jüdischen Rechtsprechung zu halten und alle Persönlichkeiten aufzuführen, deren ein Elternteil Jude war. Die Minister Gaidar und Chubais haben übrigens mit uns Kontakt aufgenommen, weil sie in unsere Enzyklopädie aufgenommen werden möchten. Hierin liegt eine bedeutende Entwicklung im Hinblick auf die Evolution der Mentalitäten in bestimmten Schichten der russischen Gesellschaft statt, wenn es um die jüdische Identität geht. Noch vor kurzer Zeit setzten bedeutende Persönlichkeiten des Staates, der Politik oder in einer anderen leitenden Position in ihrem Bereich alles daran, um ihre jüdische Herkunft zu verbergen oder gar zu leugnen.
Wie ist Ihre Enzyklopädie strukturiert ?
Wir haben beschlossen, die verschiedenen Themen in drei klar abgegrenzte Kategorien einzuteilen: berühmte Persönlichkeiten, Geographie und das, was ich gemeinhin mit "dem jüdischen Zusammenhang" bezeichnen würde. Im ersten Teil zählen wir in alphabetischer Reihenfolge die Namen und die Beschreibung derjenigen auf, die wir in unsere Enzyklopädie aufgenommen haben. Im zweiten Teil haben wir eine Liste aller Orte sowohl in der ehemaligen UdSSR als auch in den COMECON-Ländern aufgestellt, in denen sich Juden niedergelassen haben. In zahlreichen Fällen gab es natürlich keine eigentliche Gemeinde, doch es war in abgelegenen Weilern, deren Namen wahrscheinlich nie auf einer geographischen Karte verzeichnet wurden, eine Art spontanen, mehr oder weniger organisierten jüdischen Lebens entstanden. Eine solche Ortschaft erscheint in unserer Enzyklopädie, selbst wenn die Beschreibung letztendlich nur eine Zeile umfasst. Dieser zweite Teil ist sehr wichtig, denn mit der Zeit wird er die einzige Spur einer jüdischen, oftmals nicht mehr existierenden Präsenz an unbedeutenden und abgelegenen Orten sein. Neben der Funktion als Referenzwerk wird sie also auch als Chronik und Aufzeichnung von Erinnerungen dienen. Und schliesslich berichtet der dritte Teil über alles, was in irgendeinem Zusammenhang mit dem russischen Judentum zusammenhängt, mit Ausnahme der Persönlichkeiten und der Geographie. Es ist beispielsweise von der Rolle der russischen Juden in den verschiedenen Kriegen, in der Kunst, der Musik, den Wissenschaften, des Films usw. die Rede. Wir werden auf die Geschichte des Antisemitismus und der Schoa eingehen. Dann erklären wir auch in knapper Form die jüdischen Feste, doch dieses Thema wir nur dann angeschnitten, wenn wir einen typisch russisch-jüdischen Brauch im Zusammenhang mit dem betreffenden Fest vorstellen können. Auch hier werden wir versuchen, die Traditionen bekannt zu machen, die in bestimmten Fällen nur in einigen abgelegenen Dörfern oder in einsamen Regionen bekannt waren.
Unsere Enzyklopädie soll alle Aspekte des jüdischen Lebens in Russland ansprechen. In der Hoffnung, die Erinnerung lebendig zu erhalten, unternehmen wir besondere Anstrengungen, damit oft anonym bleibende Männer und Frauen, die in ihrem Leben Grosses geleistet haben und Juden waren, auch ihren Platz finden. Für viele von ihnen handelt es sich oft um das letzte Lebenszeichen, das von ihrer Existenz, ihrem Werk und ihrem Beitrag für die Gesellschaft zeugt.
Abschliessend möchte ich sagen, dass die "Enzyklopädie des russischen Judentums" mit dem einzigen Ziel geschaffen wird zu informieren. Wir beschränken uns darauf, die Daten und Tatsachen ohne jegliche Ideologie wiederzugeben, da wir davon ausgehen, dass die Freiheit der Entscheidung und des Handelns auf dem Zugang zu Informationen und Wissen beruht. Um dieses Ziel zu erreichen und unseren Lesern eine ausgezeichnete Qualität von präzisen Informationen anbieten zu können, haben wir uns die Mitarbeit der besten Experten, von denen einige als weltweite Koryphäen in ihrem jeweiligen Bereich gelten, zugesichert.
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