Vor vielen Jahren hat einer der berühmtesten Historiker des Islams einmal gesagt: "Die Landkarte des Nahen Ostens ist noch nicht definitiv". Dies hiess in anderen Worten, dass fast alle arabischen Staaten des Nahen und Mittleren Ostens künstliche Gebilde sind, Produkte der willkürlichen Aufteilung des Osmanischen Reichs nach seinem Niedergang am Ende des Ersten Weltkriegs. Grossbritannien und Frankreich, die beiden Hauptakteure in der Nahostpolitik nach dem Krieg, waren für die willkürliche Festlegung von Syrien, Libanon, Irak und Jordanien zuständig, und in gewisser Weise auch für das riesige Königreich von Saudi-Arabien.
Von all diesen Ländern, die sich mittlerweile eine nationale Geschichte und Vergangenheit erarbeitet haben, war kein einziges früher auf einer Landkarte zu finden, nicht einmal als administrative Einheit unter osmanischer Herrschaft oder davor. So war das Territorium, aus dem heute Syrien besteht, unter den Türken während praktisch der gesamten Epoche der islamischen Vormachtstellung in mindestens vier administrative Bezirke aufgeteilt. Im Jahr 1919 wurden diese Regionen jedoch nach ihrer Eroberung durch die Franzosen zu einem Staat zusammengefügt, der 1946 unabhängig wurde. Er besteht aus so unterschiedlichen Elementen wie Alep im Norden, dem Gebiet von Ismaili-Ansari im Nordwesten, Homs und Damaskus im Zentrum und den Drusenbergen im Süden, um nur einen Teil des ethnischen, religiösen und kulturellen Mischmaschs zu erwähnen, aus dem das moderne Syrien besteht. Gleich danach gründeten die Franzosen den Libanon, eine zusammengewürfelte Gemeinschaft aus muslimischen Sunniten und Schiiten, christlichen Maroniten und Drusen, die alle auf engstem Raum innerhalb von mehreren zehntausend Quadratkilometern miteinander auskommen müssen und der Illusion einer gerechten Machtverteilung nachlaufen. Der Fall Jordanien ist noch absurder: Transjordanien wurde von den Briten von ihrem Mandat Palästina abgetrennt und in ein Königreich verwandelt, das man einem arabischen Scheich des Hedschaz übergab (dem ersten Emir und später dem König Abdallah).
Eine britische Erfindung: Das Königreich Irak
Als besonders haarsträubend in diesem Zusammenhang erweist sich die völlig willkürliche Erschaffung des Iraks durch Grossbritannien. Der britische Zynismus erklomm hier nie da gewesene Höchstwerte. Sie beschlagnahmten die drei ehemaligen Provinzen Basra, Bagdad und Mossul (die beiden ersten im Jahr 1921, die dritte 1926), fügten sie zusammen und schufen ein neues Königreich, um es einem anderen Scheich zu schenken, dem Bruder des vorangehenden. Auch er wurde später König, König Faisal von Irak.
1932 gewährte Grossbritannien ihm die Unabhängigkeit, und Faisal erhielt das "Privileg" über ein Land zu herrschen, das sich aus Arabern, Persern, Assyrern, Armeniern und noch weiteren ethnischen Gruppen zusammensetzt. Dieser unrechtmässig geborene, künstliche Staat kumuliert auf ethnischer, religiöser, kultureller und sprachlicher Ebene unvereinbare Widersprüche. Im Norden wird der grösste Teil des Staatsgebiets von den nicht arabischen Kurden kontrolliert. Sie sprechen eine eigene Sprache, sind Sunniten, auch wenn die meisten von ihnen verschiedenen Ausrichtungen des Sufismus angehören. Sie sind auch in einigen Regionen ansässig, die reich an Erdölvorkommen sind. Ein Teil dieses Volkes lebt in der Türkei, ein anderer unter iranischer Herrschaft, doch der grösste Teil der Kurden gehört zum Irak und sie alle streben verständlicherweise nach Unabhängigkeit. Sogar zur Zeit der grossen Reiche führten sie eine halb unabhängige Existenz in ihren Bergen. Saddam Hussein hat alles versucht, um sie auszuradieren, indem er mit Hilfe von Massenvernichtungswaffen und C-Waffen einen Völkermord gegen sie begann und dabei unzählige Männer, Frauen und Kinder des kurdischen Volkes umbrachte. Heute sitzen die Kurden auch in der Regierung, die nach dem zweiten Irak-Krieg gebildet wurde, sind jedoch praktisch autonom. Sie werden nie auf diese Unabhängigkeit verzichten, selbst wenn es zu einer Koalition mit allen Irakern käme. Mächtige Kräfte legen ihnen Steine in den Weg: Weder die Türkei noch der Iran möchten einen kurdischen Staat an ihrer Grenze haben, der mit Sicherheit zu einem irredentistischen Anziehungspunkt für die türkischen und iranischen Kurden würde.
Sunniten und Schiiten
In der Region um Bagdad im Zentrum von Irak lebt eine Bevölkerung, die sich hauptsächlich aus sunnitischen Arabern zusammensetzt. Sie machen etwa 35 % der arabischen Bürger des Landes aus. Unter britischer Herrschaft sowie unter allen Nachfolgeregierungen galten sie als Elite der Administration. Die britische Mandatsverwaltung suchte ihre Beamten fast ausschliesslich unter den Sunniten aus. Die 65 % schiitischen Araber, die in den südlichen Teilen dieses "Staates", in der Umgebung der Stadt Basra, in anderen Regionen des Landesinneren und um Bagdad herum lebten, waren in den politischen Institutionen des Landes somit kaum vertreten und von den meisten wirtschaftlichen Aktivitäten sozusagen ausgeschlossen.
Die wichtigsten heiligen Orte der Schiiten befinden sich im Süden Iraks: Das Grab des ersten Imams Ali in der Stadt Najaf, das Grab des Märtyrerimams Hussein in Karbala und die Grabstätten des siebten und neunten Imams in Bagdad selbst. Das am meisten verehrte Grab des elften Imams und die Orte der "Abwesenheit" im Jahr 873 des zwölften Imams Mahdi, des Messias der schiitischen Tradition (der sich seither an unbekannten Orten versteckt und auf dessen glorreiches Wiedererscheinen die Schiiten warten) liegen hingegen im Norden in der Stadt Samarra.
Diese heiligen Stätten, die allen Schiiten sehr viel bedeuten, sind Wallfahrtsorte für die Gläubigen aus aller Welt und stehen sogar noch über Mekka und der Stadt Medina, den heiligsten Orten des Islams. Diese Gräber besitzen aber nicht nur eine enorme Bedeutung als Pilgerstätten der schiitischen Überlieferung, sondern dienen auch als Zentrum für die wichtigsten religiösen Einrichtungen und Handlungen, Institutionen für das Studium, Verlage und eine intensive politische Aktivität. Diese Einrichtungen wurden von den Sunniten sehr oft zum Ziel von terroristischen Anschlägen ausgewählt.
Darüber hinaus wecken sie auch Begehrlichkeiten beim schiitischen Establishment des Nachbarlandes Iran: die iranischen und die irakischen Schiiten wissen nämlich ganz genau, dass die schiitische Tradition im Iran aus der Region der heiligen Stätten rund um die Stadt Basra stammt. Im 16. Jahrhundert zwangen die iranischen Herrscher ihrem Land mit tatkräftiger Hilfe der irakischen Religionsführer (Ulema) den schiitischen Glauben auf.
Die Spannungen zwischen Schiiten und Sunniten gehen auf die Anfänge des Islams zurück, waren aber im Irak intensiver als anderswo. Die beiden Gemeinschaften rivalisieren ständig miteinander und beanspruchen beide die Hegemonie im Islam. Diese Rivalität artete in einen offenen Kampf aus und führte zu den blutigen Auseinandersetzungen, die wir auch heute beobachten: Selbstmordanschläge der Al Kaida, mit Sprengsätzen versehene Autos oder direkte Angriffe auf feierliche Versammlungen der Schiiten. Nichts und niemand wird verschont, weder Moscheen noch Märkte, es gibt keine Tabus. Sogar das höchste Heiligtum des Imams Mahdi in Samarra wurde durch eine sunnitische Bombe zerstört.
Die schiitischen Regionen im Süden sind in strategischer und wirtschaftlicher Hinsicht überaus wichtig. Iran wie Irak begehren die Erdölvorkommen im Süden und möchten die Kontrolle über die Spitze des persischen Golfes an sich reissen, den die Araber den arabischen Golf oder Schatt-al-Arab nennen. Dieser Streit hat zum offenen Konflikt zwischen beiden Ländern geführt, zu einem blutigen Krieg, der acht lange Jahre währte (1980-1988). Nach Beendigung der Auseinandersetzungen, die auf beiden Seiten 1,5 Millionen Todesopfer forderte, hatte niemand auch nur einen Fingerbreit an Terrain dazu gewonnen. Was aber nicht bedeutet, dass die Iraner endgültig auf den Süden des Iraks (mit seinem Erdöl und den heiligen Stätten der Schiiten) verzichten wollen.
Der schiitische Süden im Irak ist auch den Saudis ein Dorn im Auge. Die westliche Küste des persischen Golfs (an der Kuwait, Saudi-Arabien und andere arabische Emirate liegen) wird von Schiiten bewohnt, die der Ansicht sind, ihren sunnitischen Herrschenden weder Treue noch Loyalität schuldig zu sein. In ihren Augen wäre es bei weitem wünschenswerter gewesen, mit ihren schiitischen Glaubensbrüdern um Basra herum zusammenzuleben, die vom Schutz der iranischen Ayatollahs profitieren.
Warum sich die Amerikaner eingemischt haben
Ich bin mir nicht sicher, inwiefern sich die Amerikaner der unlösbaren Probleme bewusst waren, die aufgrund der willkürlichen Bildung dieser Staaten existierten, bevor sie zusammen mit den Briten ihr jüngstes Abenteuer zu starten beschlossen. Als sie in den zweiten, 2003 begonnenen Irak-Krieg eintraten, strebten sie als zusätzliches Ziel die Schaffung einer Demokratie in diesem Land an, was als Idee völlig lächerlich ist. Welches arabische Land des Nahen und Mittleren Ostens funktioniert wie ein demokratischer Staat? Gibt es denn die Demokratie überhaupt als Begriff in der Weltanschauung des Islams? Wie kamen die Verantwortlichen der US-Politik überhaupt zum Schluss, das Leben junger amerikanischer Soldaten zu opfern, um zu versuchen, einer Gesellschaft, die sich weder von der Diktatur lossagen noch ihre eigenen Staatsbürger als gleichberechtigte Menschen behandeln möchte, eine Verfassung nach amerikanischem Vorbild aufzuzwingen? Der Begriff der individuellen und politischen Freiheit ist der patriarchalischen Gesellschaft in der Welt des arabischen und nicht arabischen Islams völlig fremd!
Indem sie sich zu Aposteln des politischen Denkens des Westens aufschwangen, brachten die Amerikaner ihr Ansehen in Gefahr und taten den Irakern gleichzeitig grosses Unrecht. Es wäre sehr viel realistischer gewesen, gleich nach der Gefangennahme und der Hinrichtung von Saddam Hussein die drei ehemaligen Vilayet (Provinzen) aus der osmanischen Zeit wiederherzustellen, eines mit kurdischer, das zweite mit sunnitischer und das dritte mit schiitischer Verwaltung, und sich danach zurückzuziehen. Das ist vielleicht noch geplant, doch in der Zwischenzeit ist viel Blut umsonst geflossen. Die Amerikaner werden sich irgendwann zurückziehen, doch der Irak wird derselbe unter Überdruck kochende Kessel voller Zutaten bleiben, die sich niemals vermischen können. Damit diese politische Anomalie bestehen kann, braucht es einen Diktator und keine Demokratie nach westlichem Stil, die immer utopisch bleiben wird.
Die Konsequenzen für Israel
Der Westen und die Medien weltweit leiden seit Jahrzehnten an einem Pawlowschen Reflex. Jede negative Entwicklung im Nahen und Mittleren Osten löst dieselbe Reaktion aus: Israel ist daran schuld! Wenn sich die Lage im Irak nach dem Rückzug der USA verschlechtert, werden Europa und Amerika dies damit erklären, dass Israel nicht auf alle Forderungen der Palästinenser eingegangen ist oder dass Israel in Jerusalem noch zwei Häuser gebaut hat. Was hat das mit dem Irak zu tun? Dumme Frage!
Der Rückzug der USA wird allerdings keine grossen Veränderungen bewirken, was Israel betrifft. Der Irak war immer Teil der orientalischen Front, die Israel feindlich gegenüber steht, und wird ihr weiterhin angehören, trotz der militärischen Schwächung. Iran hingegen könnte von der Befriedungspolitik von Obama profitieren, um einen Versuch zur Rückeroberung des Schatt al-Arab und des irakischen Südens zu unternehmen. Eine geopolitische Entwicklung dieser Grössenordnung würde sich zusammen mit einer islamophilen US-Regierung und einem defätistischen Europa verheerend auf die Sicherheit Israels auswirken und wäre für die arabischen Nachbarstaaten des Iran ebenso gefährlich.
* Professor Moshe Sharon ist emeritierter Professor für Islamische Geschichte an der Hebräischen Universität von Jerusalem.
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