Adieu, meine Freunde. Adieu, das jüdische Volk. Eine solche Katastrophe darf nie mehr vorkommen, lasst es nicht zu." (Auszug aus dem Testament des Künstlers Gela Seksztajn, Warschauer Ghetto, 1. August 1942).
Der Besucher, der über das Gelände von Yad Vashem spaziert, ist überrascht, dort auf ein Kunstmuseum zu stossen, in dem Landschaften, Porträts, Bleistift- oder Kohleskizzen, farbenfrohe Gemälde ausgestellt werden. Bei näherer Betrachtung der Bilder wird er bemerken, dass jedes Werk mit einer Beschreibung versehen ist, die umfangreicher ausfällt als sonst üblich. Er wird ebenfalls sehen, dass der Todestag des Künstlers in den meisten Fällen in den Jahren 1943, 1944 oder 1945 liegt. Beim Durchlesen der Kurzbiografien der Maler, die oft recht jung, auf dem Höhepunkt ihrer künstlerischen Entwicklung, starben, werden ihm einige Formulierungen und Ortsnamen ins Auge springen, die das Museum aus der Masse hervorheben: "in Auschwitz ermordet", "nach Theresienstadt deportiert", "in Drancy inhaftiert". Die Entstehungsdaten der Bilder tragen zum aufkommenden Entsetzen bei: 1939, 1940, 1941!
Das Kunstmuseum der Schoah wurde 2005 eingeweiht und gehört zum Komplex des neuen Museums in Yad Vashem. Die Palette der im neuen Museum ausgestellten Werke, von der einfachen Bleistiftskizze bis zum Ölgemälde, vom Stillleben bis zum Porträt, eröffnet eine ganz ungewöhnliche Sichtweise der Schoah. Sämtliche 170 gezeigten Arbeiten entstanden inmitten des Grauens, in Verstecken und in Ghettos, im Untergrund und in Lagern für Zwangsarbeit, immer unter extremen Bedingungen. Die Ausstellung, in der eine Kurzbiografie in das Werk eines jeden Künstlers einführt, stellt eine posthume Würdigung dieser Männer und Frauen dar, die ihr Leben riskierten, um ihre individuelle Vision zum Ausdruck zu bringen. Indem sie ihrer Berufung als Künstler folgten, als um sie herum alles brannte, bewiesen sie, dass der jüdische Geist einmal mehr stärker war als die Verfolgung.
Die Beschäftigung mit der Kunst stellte während der Schoah eine äusserst gefahrvolle Angelegenheit dar; es gab fast kein Material und die meisten Künstler kämpften, der grundlegenden Elemente ihrer Existenz beraubt, im Alltag ums physische und mentale Überleben. Trotz dieser Not entstanden Kunstwerke, und manchmal überdauerten sie den Künstler, der sie geschaffen hatte (dieses Schicksal ereilte die meisten von ihnen). Die ausgestellten Gemälde sind nicht einfach Zeugen einer bestimmten Zeit, sie drücken auch die unbändige Schaffenskraft der Künstler aus.
Charlotte Salomon (Berlin 1917 - Auschwitz 1943)
Die Geschichte von Charlotte Salomon, deren Bilder ebenfalls im Museum gezeigt werden, ist ganz besonders berührend. Mit 22 verlässt Charlotte, Studentin an der Schule für Kunst und Kunsthandwerk in Berlin, ihre Eltern und Nazideutschland, um zu ihren Grosseltern an die Côte d'Azur in Frankreich zu ziehen, da die Region in jener stürmischen Zeit einem sicheren Hafen gleicht. Doch die Nazis besetzen Frankreich, und Charlottes Grossmutter begeht in ihrer Verzweiflung Selbstmord. Charlotte verfällt mit 23 Jahren in eine schwere Depression. Ihr Arzt empfiehlt ihr als Therapie, wieder mit Malen zu beginnen. Für Charlotte ist dies der Anfang einer kreativen Odyssee. Innerhalb von zwei Jahren malt sie eine Reihe von autobiografischen Werken, die unter dem Titel "Leben oder Theater?" vom Schicksal ihrer Familie und des deutschen Judentums berichten. Während ihres Aufenthalts in Frankreich malt sie auch herrliche Landschaften und Selbstporträts, die nach jahrelangen Nachforschungen von den Kuratoren von Yad Vashem wieder gefunden wurden. Charlotte heiratet 1943 Alexander Nagler und wird kurze Zeit später - sie ist zum ersten Mal schwanger - zusammen mit ihrem Mann verhaftet. Das Ehepaar wird nach Auschwitz deportiert und dort vergast. Charlotte Salomon (Berlin 1917 - Auschwitz 1943) gilt heute als eine der damals viel versprechendsten Künstlerinnen des 20. Jahrhunderts. Ihr Talent und ihr Potenzial sind mit ihr gestorben, ohne ihren Höhepunkt erreicht zu haben, doch ihre Geschichte und ihre Werke, die den Krieg wie durch ein Wunder überstanden haben, sind heute Bestandteil der ständigen Ausstellung in Yad Vashem und erinnern so an ihre Begabung und an ihr kurzes Dasein.
Carol Deutsch (Antwerpen 1894 - Buchenwald 1944)
1941, mitten im Zweiten Weltkrieg, überreicht Carol Deutsch (Antwerpen 1894 - Buchenwald 1944), ein in Antwerpen lebender Autodidakt, seiner Tochter zum zweiten Geburtstag ein besonderes Geschenk: eine illustrierte Bibel mit 99 Gouache-Werken. Damit erfüllt er das biblische Gebot: "Du sollst dein Kind lehren." Er ist aber der Ansicht, dass Worte allein dazu nicht ausreichen, und bietet dem kleinen Mädchen eben illustrierte Blätter, die er in ein selbst hergestelltes hübsches Holzkistchen legt. Nach seiner Verhaftung infolge einer Denunzierung werden Carol Deutsch und seine Frau Fela deportiert und in einem Vernichtungslager ermordet. Doch ihre Tochter Ingrid, die auf dem Land von einer katholischen Familie versteckt wird, sowie ihre wundersamerweise unversehrt gebliebene Bibel überleben. Das ungewöhnliche Erbe von Carol Deutsch, der in Buchenwald sein Leben verlor, zeugt von dem entschlossenen Widerstand, alles zu bewahren, was die Nazis zu vernichten versuchten. Das sehr persönliche Geschenk des Vaters an seine Tochter wird nun in Yad Vashem ausgestellt und gehört zur kollektiven Hinterlassenschaft des jüdischen Volkes.
Bruno Schultz (Drohobytsch 1892 - Ghetto von Drohobytsch, 1942)
Die ganz neue Abteilung des Kunstmuseums für die Schoah hat sich nicht nur bemüht, während der Schoah geschaffene Kunstwerke zusammenzutragen und auszustellen, sondern präsentiert auch Arbeiten, die ein Produkt des Schreckens darstellen und unter Zwang entstanden sind. Die im Februar 2009 eröffnete Ausstellung Bruno Schultz erzählt die Geschichte dieses berühmten Malers und Schriftstellers aus Galizien (Polen), der von der nationalsozialistischen Besatzungsmacht gezwungen wurde, seine Kunst in ihren Dienst zu stellen: Auf Geheiss eines SS-Offiziers musste er die Wände des Kinderzimmers mit Märchenbildern verzieren. Als Bruno Schultz (Drohobytsch 1892 - Ghetto von Drohobytsch 1942) seine Flucht plante, wurde er im Verlauf einer "wilden" Aktion im November 1942 getötet.
Bruno Schulz gibt sich in Bezug auf sein Schicksal keinen Illusionen hin. Doch selbst beim Arbeiten unter Zwang kann er weder sein Stilempfinden noch seine Berufung als Künstler verleugnen. Die Wandmalereien im Haus des grausamen SS-Mannes Felix Landau verkörpern in gewisser Weise sein Testament und auch das seiner Familie, da er auch sein Selbstporträt eingefügt hatte. Es sollte sein letztes Werk sein. An einem Donnerstag, kurz nachdem er seine tägliche Ration Brot erhalten hatte, wurde Schulz mit zwei Kopfschüssen durch einen anderen SS-Mann hingestreckt, der sich so an Landau rächen wollte, der zuvor seinen "eigenen" Juden getötet hatte.
Die Werke von Bruno Schultz wurden eins nach dem anderen unter grossen Anstrengungen zusammengetragen und gehören heute zur ständigen Ausstellung im Kunstmuseum der Schoah in Yad Vashem.
Die Fähigkeit, unter Druck zu arbeiten und gleichzeitig ums Überleben zu kämpfen, Freude und Verzweiflung auszudrücken, nach dem Schönen zu streben, während die Welt um einen herum zusammenbricht, dies alles ist ein aussergewöhnliches Erbe für künftige Generationen. Ein Besuch im Kunstmuseum der Schoah bietet einen Überblick über das Innenleben der Künstler und ermöglicht es einem, die seelische Grösse dieser Frauen und Männer zu ermessen, die nie den Mut sinken liessen, auch nicht auf der Schwelle des Todes.
Das Kunstmuseum der Schoah, Yad Vashem, Jerusalem. So-Mo: 9.00-17.00 Uhr, Do: 9.00-20.00 Uhr, Frei und vor Feiertagen: 9.00-14.00 Uhr, Sa und an jüdischen Feiertagen: geschlossen (www.yadvashem.org).
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