Israel überrascht - Israel verblüfft! Immer wieder und in allen Bereichen. Der technologische Fortschritt, die Entwicklungen in der Medizin, die Leistungen des Einzelnen und bahnbrechende Entdeckungen sind Alltag geworden. Doch nun setzt sich der hebräische Staat ganz allein an die Spitze, und zwar auf dem Gebiet der Wirtschaft, wo die ganze Welt seit einem Jahr unter der Krise leidet. Erstaunlicherweise konnte die vernichtende Flutwelle der Finanzkatastrophe dem jüdischen Staat kaum etwas anhaben. Angesichts dieses Umstandes sind auch Experten perplex, wir als Laien natürlich sowieso.
Aus diesem Grund haben wir das Gespräch mit Dr. GIL BUFMAN gesucht, dem Chefökonom der Bank Leumi in Tel Aviv, der sich in Nr. 49 von Shalom (www.shalom-magazine.com) schon bereit erklärt hatte, den starken Kursanstieg des Schekels und die Wirtschaftslage Israels für uns zu analysieren.
Wie kommt es, dass die israelische Wirtschaft anscheinend einen besonderen Schutzengel besass, während die Finanzwelt um uns herum im Höllenschlund des Kapitalismus zerschellte?
Wenn wir uns anschauen, was in der israelischen Wirtschaft im vergangenen Jahr passiert ist, dann weisen alle Indikatoren darauf hin, dass sie die Krise wesentlich besser überstehen wird als die meisten anderen Länder. Richtet man sein Augenmerk beispielsweise auf die Veränderungen, die das BIP (Bruttoinlandsprodukt) im Verlauf der letzten 6 Monate (letztes Quartal 2008 und erstes Quartal 2009) aufweist, für welche Vergleichsdaten des vorangehenden Halbjahres vorliegen, sieht man, dass das BIP insgesamt stark gesunken ist. Dies trifft vor allem auf die hoch entwickelten Länder im Fernen Osten zu, wie Japan, Singapur und Taiwan. Diese asiatischen Märkte wurden quasi total zerstört, da ihre Exporte in die USA und in verschiedene westliche Länder in erster Linie Konsumgüter umfassten (Autos, Elektronik usw.). In den USA und in Westeuropa ging die Wirtschaftsaktivität um etwa 6 % zurück, während das BIP in Israel nur um 1,5 % sank, was im Vergleich zu den Ländern, mit denen der jüdische Staat oft verglichen wird, sehr wenig ist.
Ist das Zufall oder ein besonderer Segen?
Das ist bestimmt kein Zufall, und eine rasche Analyse liefert mehrere objektive Gründe für diese Behauptung. Erstens haben einige Länder, wie z.B. die USA, Spanien, Grossbritannien oder Irland eine enorme Investitionsblase im Immobilienbereich erlebt. In Israel sah die Situation genau umgekehrt aus, das Angebot von Immobilien lag so tief wie noch nie zuvor. Dies lässt sich dadurch erklären, dass die riesige Einwanderungswelle im Jahr 1990 mit einer ebenso enormen Flut an Wohnungsbauten einherging. Es gab also zunächst ein riesiges Angebot, das mit der Zeit durch die Nachfrage aufgrund des gleichzeitigen Bevölkerungsanstiegs aufgesaugt wurde. Der Zeitpunkt, als überall auf der Welt die Immobilienblase platzte, entsprach in Israel einem Tiefststand beim Angebot an Wohnbauten. Jedes Jahr kommen für etwa 40'000 junge Familien rund 30'000 neue Wohneinheiten auf den Markt.
Der Markt für Wohnimmobilien stellt heute in Israel ein wesentliches Element der israelischen Wirtschaft dar, doch es gibt bereits deutliche Anzeichen dafür, dass das Angebot auf dem Markt für gewerbliche Immobilien extrem gering ist. Dazu tragen auch die israelischen Banken bei, die sehr streng sind und bei der Vergabe von Baukrediten sehr strikte Konditionen und Anforderungen geltend machen. Im Gegensatz zu anderen Ländern, wo der Immobilienbereich die gesamte Wirtschaft und den Finanzsektor in den Abgrund riss, verlief die Entwicklung in Israel genau umgekehrt. Ausserdem hat sich interessanterweise gezeigt, dass der israelische Verbraucher aussergewöhnlich krisenresistent und sehr reaktionsschnell ist. Auch dies ist kein Zufall, denn die individuelle Sparquote liegt im weltweiten Vergleich sehr hoch. Ein grosser Teil dieses "Notgroschens" wird übrigens gleich an der Quelle erfasst und in diversen Vorsorge- und Pensionsfonds angelegt. Darüber hinaus profitieren die Arbeitnehmer von einem obligatorischen Arbeitgeberbeitrag. In schwierigen Zeiten verfügen die meisten Israelis auf diese Weise über eine kleine Reserve, dank der sie überleben können.
Gesetzt den Fall, dies trifft wirklich zu: Wie erklären Sie sich, dass die Israelis ständig jammern und behaupten, sie seien bei Monatsende immer knapp bei Kasse und hätten enorme Schulden bei der Bank?
Dies kommt ganz einfach daher, dass die Leute ihre Ersparnisse nicht einbeziehen und der Ansicht sind, man dürfe sie, einmal auf dem Sparbuch, nicht mehr anrühren. Doch das stimmt nicht, denn einige Vorsorgefonds sind sehr liquide und können ohne zusätzliche Besteuerung beansprucht werden. Zudem wird das Vermögen von Institutionen verwaltet, die der strengen Aufsicht durch das Finanzministerium und die Nationalbank Israels unterstehen, die beide eine grosse Transparenz verlangen. Die Sparer müssen also nicht mit betrügerischen Machenschaften rechnen, wie dies in den USA der Fall war. Es gibt diese Form des automatischen Sparens, die bewirkt, dass der Verbrauch in Zeiten schwerer Rezession nicht so dramatisch in den Keller sackt wie anderswo. Die Phase des Konsumeinbruchs fiel daher in Israel sehr kurz aus und es ist bereits eine Kehrtwende zu beobachten. Die jüngsten Zahlen betreffend den Kreditkarteneinsatz sowie die Indikatoren für den privaten Konsum sind seit Juni 2009 übrigens wieder am Steigen.
Der Schekel ist eine starke Währung geblieben. Gibt es eine Erklärung dafür?
Die Gründe für dieses Phänomen sind dieselben, die ich bereits letztes Jahr anführte. Trotz der weltweiten Wirtschaftslage, trotz der Realität vor Ort und im Gegensatz zu den europäischen Ländern sind die ausländischen Kapitalflüsse nach Israel bisher nicht versiegt. Im Allgemeinen kommen sie langfristigen strategischen Investitionen zugute. Investoren aus aller Welt kaufen Anteile an grossen Immobilienprojekten, an High-Tech-Unternehmen, Telekommunikationsfirmen usw. Überdies haben die Israelis im Grossen und Ganzen aufgehört, im Ausland zu investieren, darunter vor allem in Osteuropa. Dieser Trend wird sich meiner Meinung nach fortsetzen. Der lokale Immobilienmarkt bleibt sehr attraktiv, da das Angebot nahezu versiegt ist und die Geburtenrate bei ca. 1,8 % liegt, d.h. viermal höher ist als in Europa und mehr als doppelt so hoch wie in den USA. Diese Tatsache facht natürlich die Nachfrage sowohl im Immobiliensektor als auch beim Privatkonsum an, zwei wichtigen Bereichen der Wirtschaft. Dazu kommt, dass die israelischen Verbraucher nicht zögern, ihre verfügbaren Spareinlagen anzugreifen, um ihren Lebensstandard unabhängig von der vorübergehend heiklen Wirtschaftslage aufrecht zu erhalten.
Und schliesslich profitieren wir nicht nur vom Zustrom an ausländischem Kapital, sondern besitzen auch enorme Devisenreserven. Unsere Zahlungsbilanz weist einen permanenten Überschuss auf. Ein kurzer Blick auf die Länder, die am stärksten von der Krise in Mitleidenschaft gezogen wurden, zeigt, dass alle diese Staaten eine Gemeinsamkeit aufweisen: Sie haben ein Zahlungsbilanzdefizit. Das Defizit der USA lag im Schnitt bei 6 %, während die Länder Osteuropas ein Defizit von 15 % oder gar 20 % auswiesen. Alle defizitären Staaten standen irgendwann vor einer Währungskrise. So mussten beispielsweise in einem osteuropäischen Land, wo die Hypotheken direkt an die starke Währung gebunden waren, die Kreditnehmer, deren Gehälter in lokaler Währung ausbezahlt wurden, über Nacht den Anstieg ihrer Kreditsumme in schwindelnde Höhen hinnehmen. Davon war Israel überhaupt nicht betroffen, und es weist alles darauf hin, dass die wirtschaftlichen Grunddaten den Schekel auch in Zukunft stützen werden. Das Währungsrisiko ist bei uns demnach nicht sehr hoch, was teilweise auch die wirtschaftliche Stabilität des Landes erklärt. Die Situation unterscheidet sich deutlich von jener, wie sie in anderen Ländern, z.B. der Ukraine aufgetreten ist, wo die Investitionen schwindelnde Höhen erreichten, um dann dramatisch einzubrechen. Sie waren gezwungen, beim IWF Darlehen von mehreren Milliarden aufzunehmen, um den völligen Zusammenbruch ihrer Wirtschaft zu verhindern. All diese Elemente trugen dazu bei, dass der wirtschaftliche Rückgang in Israel im Vergleich zu anderen Ländern relativ harmlos und viel geringer ausfiel als in den 30 Staaten der OECD (der Beitritt Israels zu dieser Organisation steht kurz bevor). Seit Jahresbeginn zeichnet sich die israelische Börse übrigens durch erfreuliche Zahlen aus, die weltweit praktisch den Werten der besten Märkte entsprechen, jedoch ohne das entsprechende Risiko. Es ist kein Zufall, dass Morgan Stanley Israel aus der Kategorie der Schwellenmärkte in jene der entwickelten Märkte aufgewertet hat. Für das Jahr 2010 rechnen wir bereits mit einem Anziehen des Wirtschaftswachstums.
Die Exporte scheint es dennoch hart getroffen zu haben, oder?
Nicht unbedingt, ausserdem gibt es neben den Exporten noch weitere Elemente, die den Zustand einer Volkswirtschaft beeinflussen. Setzt man sich genauer mit den israelischen Exportzahlen auseinander, stellt man fest, dass Israel nicht in den Bereichen tätig ist, die am stärksten von der Krise betroffen waren: Es führt keine eigentlichen Konsumgüter und auch keine Produkte aus, die im Bauwesen verwendet werden. Wir exportieren Produkte, deren Nachfrage relativ stabil geblieben ist, wie z.B. Generika (Medikamente), Spitzentechnologie für den Dienstleistungsbereich, Software, chemische und landwirtschaftliche Produkte. Diese Sektoren machen fast 70 - 80 % unserer Exporte aus, denn sie betreffen Industriebranchen, die nicht allzu stark unter der Krise gelitten haben. In der Spitzentechnologie ist die Arbeitslosigkeit natürlich am deutlichsten, doch die meisten israelischen Unternehmen hatten sich auf die Krise vorbereitet und hatten schon ab Mitte 2007 begonnen, ihr entgegenzuwirken, indem sie sich entweder mit ausländischen Firmen zusammenschlossen oder Vereinbarungen mit ihren Arbeitnehmern unterzeichneten, die sich bereit erklärten, Kurzarbeit oder eine vorübergehende Lohnkürzung in Kauf zu nehmen, um so ihren Job zu behalten. Im Vergleich zur grossen High-Tech-Krise von 2001 fiel diese hier nicht dramatisch aus. Natürlich kam es zu einer Verlangsamung, aber nicht zu einem tatsächlichen Einbruch der Tätigkeit. Dazu kommt die Tatsache, dass der israelische Bankensektor enorme Gewinne erwirtschaftet hat. Letztlich betraf die Krise vor allem den Finanzsektor, und Israel gehörte nie zu den bedeutenden Finanzplätzen. Unsere Stärke liegt in der Spitzentechnologie, welche die Krise weit weniger gespürt hat.
Wie sehen Sie die Zukunft?
Ich denke, dass die Erholung in den USA und in Europa nur langsam vonstatten gehen und viel Zeit brauchen wird. Sollte es diesen Ländern bis 2010 gelingen, ihre Wirtschaft zu stabilisieren und zumindest ein Nullwachstum zu erreichen (was heute nicht der Fall ist), entspricht dies schon einem grossen Schritt in die richtige Richtung. In meinen Augen wird es mindestens vier bis fünf Jahre dauern, bis das Wirtschaftswachstum wieder auf demselben Niveau ist wie vor der Krise. Man muss sich jedoch bewusst machen, dass alle positiven Elemente, durch welche sich die israelische Wirtschaft derzeit auszeichnet, das Resultat der Entscheidungen sind, die Premierminister Benjamin Netanjahu während seiner Amtszeit als Finanzminister getroffen hatte. Es wird interessant sein zu beobachten, wie die heutige Regierung die wirtschaftliche Zukunft des Landes vorbereiten und welche Initiativen sie ergreifen wird, um einen kontinuierlichen Anstieg des Wirtschaftspotenzials über die 5-10 nächsten Jahre zu gewährleisten.
Wie steht es um den Tourismus?
In Bezug auf das BIP fällt der Tourismus als Aktivität kaum ins Gewicht, denn er entspricht nur 5 % des BIP, einschliesslich der damit verbundenen Tätigkeiten wie Taxis, Cafés und Restaurants. Zudem ist der Tourismus nach Israel sehr stark von der globalen Wirtschaftslage abhängig. Interessanterweise ging die Zahl der Touristen während der Militäroffensive in Gaza im Januar 2009 weniger deutlich zurück als im Verlauf der früheren Sicherheitskrisen. Doch obwohl der Tourismus nur einen kleinen Anteil am BIP ausmacht, besitzt er doch eine enorme Bedeutung für den Arbeitsmarkt, denn schon nur die Hotellerie macht fast 5 % des Marktes aus. Sie sehen, das BIP ist nicht alles.
Zum Abschluss möchte ich hervorheben, wie gesund und stark die israelische Wirtschaft ist. Ich bin überzeugt, wir kommen gegen Ende des Jahres oder im Verlauf des kommenden Jahres wieder in den grünen Bereich. Die Rezession hätte hier insgesamt dann weniger als ein Jahr gedauert.
Dr. Gil Bufman, Chefökonom der Bank Leumi in Tel Aviv. (Foto: Bethsabée Süssmann)
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