unserem Korrespondenten in Jerusalem
Weder Sparta, noch Athen: die israelische Gesellschaft erholt sich von der harten Prüfung im Sommer 2006 und versucht sich neu zu orientieren. Sie begreift, dass die beiden legendären Vorbilder aus der griechischen Antike nichts mit ihr gemein haben: sie ist glücklicherweise seit einiger Zeit frei, offen und erfolgreich, weit vom spartanischen Ideal entfernt; leider bleibt sie aber weiterhin verwundbar und wird bedroht, viel eher schlechten als guten Überraschungen ausgesetzt und folglich weit entfernt von der ruhigen Gelassenheit Athens.
Es hat also Krieg gegeben. Krieg kann weder gut noch sauber sein. Und zu den Fehlern, Unzulänglichkeiten, Irrtümern der israelischen Armee, zu den Missverständnissen bei den Entscheidungen sowohl auf Regierungsebene als auch am Ort des Geschehens ist schon alles gesagt worden und wird wohl noch dutzende Male wiederholt werden. Ganz zu schweigen von den grundlegenden Fragen, die aufgeworfen wurden, und zwar nicht zur Rechtmässigkeit der israelischen Reaktion auf die Provokationen von Iran und Syrien mit Hilfe der Hisbollah – es versteht sich von selbst, dass dieses Vorgehen völlig legitim war –, wohl aber zu der Richtigkeit der Wahl von Zeitpunkt und Ort.
Es ist aber ein gewisser Abstand, manchmal gar mehrjährige Distanz nötig, um die jeweiligen Folgen zu beurteilen, um die eventuellen Erfolge einer militärischen Aktion abzuwägen. Hat das scheinbare Scheitern Israels – in Wirklichkeit aber sein überwältigender Sieg – angesichts des gemeinsamen Angriffs von Ägypten und Syrien im Jahr 1973 nicht zu einem Friedensvertrag mit den Ägyptern geführt, der immer noch gültig ist? Allzu oft sieht man vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr. Jetzt, da die Führung Israels geschwächt aus dem libanesischen Abenteuer hervorgeht und die Öffentlichkeit besorgt die Fähigkeiten der Armee hinterfragt, ist es natürlich noch zu früh, um ein vernünftiges Fazit zu ziehen. Man kann allerdings schon ein paar nützliche und in mancherlei Hinsicht positive Lehren daraus ziehen.
Es wurde nicht ausreichend hervorgehoben, dass Israel jenseits der automatischen Verurteilung, der belastenden Bilder, der hasserfüllten Verdammung zum ersten Mal seit den 60er Jahren nicht auf der Anklagebank sass, sondern selbst zu den Anklägern gehörte. Wenn eine Institution wie die Vereinten Nationen, die Israel extrem feindselig gegenübersteht, durch sein wichtigstes und wirksamstes Organ, den Sicherheitsrat, eine einstimmige Resolution verabschiedet, die alle oder fast alle von Jerusalem aufgestellten Thesen rechtfertigt, ist dies ein Erfolg, den sich niemand vor Ausbruch der Kampfhandlungen zu erhoffen wagte. Natürlich kann man an der einen oder anderen Formulierung in der Resolution 1701 herummäkeln, die ja auch auf die Empfindlichkeiten der arabisch-muslimischen Welt Rücksicht nehmen muss. Es ist dennoch nicht von der Hand zu weisen, dass Europa, Russland, China, die sunnitischen Staaten, d.h. der grösste Teil der arabischen Welt, die Schuldigen, die Unruhestifter, die Kriegsauslöser eindeutig an den Pranger stellen. Israel befindet sich heute im Zentrum dieser Koalition gemeinsamer Interessen, an vorderster Front zwar, in der ersten Reihe, aber doch weit von der Quasi-Isolation entfernt, in der sie sich innerhalb der internationalen Gemeinschaft bis 2006 befand. Die Bedrohung durch Iran, die seit langem allgemein bekannt ist, ist nun weltweit zum wichtigsten Problem der öffentlichen Meinung erhoben worden, und die Massregelung Israels durch die Medien gehört grösstenteils in den Bereich des pawlowschen Reflexes.
Vielleicht hat man auch die unglaubliche Demonstration von Stärke der israelischen Armee nicht ausreichend hervorgehoben. Dem äusseren Anschein nach ist es einer kleinen Terroristenorganisation gelungen, über einen Monat lang einem mächtigen, als unbesiegbar geltenden Militärapparat Widerstand zu leisten. Einige fühlten sich bemüssigt zu behaupten, durch diese halbe Niederlage habe die Armee des jüdischen Volkes ihr Abschreckungspotenzial verloren. Mitnichten. Die Nachbarstaaten sind sich durchaus bewusst, dass nur ein kleiner Teil der Schlagkraft eingesetzt wurde; dass die Luftwaffe, die kein einziges Kampfflugzeug verloren hat, wahrscheinlich nur zu einem Zehntel ihrer Kapazitäten verwendet wurde; dass die Reservisten nur in ganz beschränktem Umfang mobilisiert und noch sparsamer in den Kampf geschickt wurden. Die enormen Verluste der Hisbollah in Bezug auf Infrastrukturen, Material und Menschen stellen einen extrem harten Schlag für ihre Auftraggeber dar und geben dem Libanon endlich die Gelegenheit – wird er sie auch wirklich nutzen? –, seine Souveränität zurückzuerlangen. Zu vermerken ist insbesondere die massive Vernichtung von Langstreckenraketen, ein wahrer Meisterstreich der israelischen Luftwaffe und ein nie da gewesener Erfolg in den Annalen des Militärs. Nein, der Krieg war für diejenigen, die Augen haben zu sehen, und für die Fachleute ein weiterer Beweis für die offensichtliche Überlegenheit der israelischen Armee.
Es gibt zweifellos alles andere, alles, was nicht geklappt hat: die in Echtzeit unzureichenden Informationen; die aussergewöhnliche Schwierigkeit, Raketen mit kurzer und mittlerer Tragweite abzufangen, von denen fast 4000 mit verheerenden Folgen auf israelischem Boden einschlugen; die Anfälligkeit der Kampfpanzer Merkawah, deren Panzerung doch als die beste weltweit gilt, angesichts den Panzerangriffsraketen der Hisbollah; die Koordinations- und Versorgungsprobleme. Über diese Punkte weiss mittlerweile auch der einfachste Soldat genauestens Bescheid und sie werden von diversen Untersuchungskommissionen analysiert. Natürlich war die Armee nicht ausreichend vorbereitet, da sie ja seit Jahren im Krieg gegen den palästinensischen Terrorismus steht. Doch gibt es auf der ganzen Welt eine einzige Streitkraft, mit Ausnahme zweifellos derjenigen von Sparta und der preussischen Armee, zwei Eroberungsmaschinen, die perfekt vorbereitet in einen unerwartet ausbrechenden Konflikt eingestiegen wären? Es gibt zahlreiche Gegenbeispiele, von den beiden Weltkriegen bis zu sämtlichen Konflikten der vergangenen 50 Jahre. Paradoxerweise ist es in gewisser Weise ein Glücksfall, sich im Rahmen eines zeitlich beschränkten Konflikts der Fehler und Irrtümer bewusst werden zu können, es ist eine Chance, ab sofort die Zeit zu haben, sich ganz bewusst auf die nächste Runde vorbereiten zu können.
Denn dieses Gefühl herrscht letztendlich nach Abschluss dieser Belastungsprobe vor: wir werden in der Zukunft einmal mehr in irgendeiner Weise Waffengewalt einsetzen müssen, nachdem wir erneut provoziert wurden. In Israel vertraut niemand einer Entwaffnung der Hisbollah durch die grösstenteils schiitische libanesische Armee und durch die UNIFIL, die im Voraus verkündet, dies sei weder ihr Auftrag noch ihre Absicht. Niemand zweifelt ausserdem am Willen Irans, diese Front gegen den Westen um jeden Preis aufrecht zu erhalten, und zwar für den Tag… den grossen Tag eben. Das Ziel jeder israelischen Regierung wird unabhängig von ihrer Zusammensetzung ab sofort darin bestehen, die Errungenschaften dieses Kriegs so lange wie möglich zu bewahren: die Interessensgemeinschaft mit den USA, Europa und den wichtigsten arabischen Staaten beizubehalten und dafür zu sorgen, dass die iranische Vorhut im Libanon deutlich geschwächt bleibt.
Einen zuversichtlichen Blick in die nächste Zukunft ermöglichen die bemerkenswerte Haltung der israelischen Gesellschaft und die Form unserer Wirtschaft, diese Fähigkeit, die nur ganz wenige Länder besitzen, alles in der Öffentlichkeit diskutieren zu können, die Zuständigkeiten zu respektieren, seine Wunden rasch zu lecken und sofort wieder nach vorn zu schauen.
|