Eine Begegnung mit ELIE WIESEL lässt natürlich niemanden gleichgültig, und ein einstündiges intensives Gespräch mit ihm stellt schon ein ganz besonderes Erlebnis dar, vor allem, wenn dieses Gespräch in Jerusalem stattfindet. Zu dem Zeitpunkt, da das jüdische Volk am Scheideweg steht, da der Antisemitismus sich in Europa wieder regt und das Abtreten Ariel Sharons von der politischen Bühne in Israel, welches sich heute wieder im Kriegszustand befindet, eine neue historische Ära einläutet, erachteten wir es als sinnvoll, bei unseren Überlegungen von einem Zeitzeugen des letzten Jahrhunderts angeleitet zu werden, der das grösste Verbrechen gegenüber dem jüdischen Volk und die Wiederauferstehung des hebräischen Staates miterlebt hat.
Können Sie Ihre Empfindungen kurz zum Ausdruck bringen und die Lage knapp beurteilen, in der sich das jüdische Volk heute befindet?
Alles beginnt mit der Hoffnung… und endet mit der Hoffnung. Es ist leicht zu sagen, und dies zu Recht, dass unsere Generation historisch gesehen am meisten Glück hat. Es gab noch nie eine Generation wie die unsere. Einige Jahre nach der schlimmsten Katastrophe leben wir in einem unabhängigen Land. Die Unabhängigkeit hat in der jüdischen Geschichte nie lange gewährt, sie überdauerte nie 80 Jahre und fand immer in einem Zustand des Drucks statt, von allen Seiten bedroht durch die Babylonier, die Römer, die Perser usw. Heute besitzen wir einen starken und gar reichen Staat. Wenn einer der bedeutendsten Finanzleute der Welt beschliesst, 4 Milliarden Dollar in Israel zu investieren, stellt dies einen unumstösslichen Vertrauensbeweis dar. Aus psychologischer Sicht hätten wir eine schwächliche Generation sein sollen, dazu gab es genügend Gründe. Nach der Zerstörung des Tempels waren wir das auch. Heute trifft dies jedoch keinesfalls zu. Es geschehen viele grossartige Dinge in zahlreichen Bereichen. Auf militärischer Ebene hat Israel Entdeckungen gemacht, um die uns die Grossmächte beneiden. Auf wirtschaftlicher, wissenschaftlicher und politischer Ebene haben die Juden heute vor allem in den USA Positionen auf höchstem Niveau erreicht. Und schliesslich haben wir in Israel vier Nobelpreise nacheinander eingeheimst. Ausserdem befindet sich das absolute Zentrum des intellektuellen Lebens der Juden in Jerusalem. In Israel gibt es heute viel mehr Jeschiwoth als je zuvor in der Geschichte. Es ist natürlich auch etwas anderes zu beobachten, die Assimilierung, die aber in meinen Augen keine echte Gefahr für uns darstellt. Das Problem der gemischten Ehen betrifft bei weitem nicht die Mehrheit der jüdischen Ehepaare. Jeder Jude, der sich von uns abwendet, tut natürlich weh, doch ich kann Ihnen versichern, dass sich Abertausende von Menschen meine Vorträge anhören kommen (Anm. d. Red.: mit einem schelmischen Lächeln fügt Elie Wiesel hinzu: «Ich frage mich immer wieder, weshalb wohl!»), und dass mir noch nie ein wirklich assimilierter Jude begegnet ist. Man muss sich darüber klar werden, dass es im jüdischen Volk eine starke Energie und in der jüdischen Geschichte eine wahre Lebensfreude gibt.
Wenn ich mir überlege, welchen Platz das jüdische Volk heute unter den Nationen einnimmt, stelle ich fest, dass unsere Beziehungen zu den Christen noch nie zuvor so fruchtbar waren. Ein kurzer Blick auf die Geschichte zeigt mir, was die Christen während den Kreuzzügen, während der Inquisition den Juden angetan haben und welche Konsequenzen das Schweigen von Pius XII. während der Schoah hatte. Heute hingegen blüht dank dem Einsatz von Johannes XXIII. und später demjenigen von Johannes Paul II. die ökumenische Bewegung. Rabbiner und Priester treffen immer wieder zusammen, es findet ein fortlaufender Dialog statt und die gemeinsamen Erklärungen gegen den Antisemitismus und für Israel häufen sich. Die Beziehungen zu den Christen sind demnach gut. Unser Irrtum bestand darin, den dritten Partner zu vergessen, den Islam. Wir hätten seine Vertreter jedes Mal, wenn eine ökumenische Konferenz anberaumt wurde, auch einladen sollen. Es besteht allerdings kein Zweifel daran, dass die Islamisierung eine echte Gefahr für die ganze Welt darstellt, nicht nur für Israel.
Sie erwähnen die ausgezeichneten Beziehungen zwischen der christlichen Welt und den Juden. Bei seiner Reise durch Polen hat Papst Benedikt XVI. im Ghetto von Warschau jedoch keinen Halt eingelegt und hat sich in Auschwitz mit einigen recht erstaunlichen, um nicht zu sagen skandalösen Erklärungen in Bezug zur Schoah begnügt. Was können Sie dazu sagen?
Zunächst einmal tut dies der menschlichen Grösse von Johannes XXIII. keinen Abbruch und ändert auch nichts an der jämmerlichen Persönlichkeit von Pius XII. Ich glaube nicht, dass diese Reise nach Polen den gegenwärtigen Stand der jüdisch-christlichen Beziehungen direkt beeinträchtigen wird. Man darf nicht vergessen, dass der Vatikan auch eine politische Grösse ist und dass jeder Schritt im Voraus berechnet und geplant wird. Ich habe keine Ahnung, wer die Berater des neuen Papstes sind. Die Tatsache, dass er im Warschauer Ghetto nicht Halt gemacht hat, stellt keinen Fauxpas dar, sondern ist eine bewusste Geste. So wie er von «sechs Millionen Polen» und so wenigen Juden sprach, sagte er auch, Hitler habe «alle umbringen wollen, die nicht für ihn waren… und auch die Juden». Ich bin aber überzeugt, dass der spezifische Charakter der Schoah tatsächlich existiert und man ihn nicht leugnen kann, er aber hat es getan. Darüber hinaus hat er vom «Schweigen G’ttes» gesprochen… Und das Schweigen von Pius XII.? Warum schiebt er die Schuld G’tt in die Schuhe?
Sie haben die Beziehungen der Juden zu den Christen und Muslimen erwähnt. Was aber halten Sie von den Beziehungen der Juden untereinander?
Auch da gibt es nichts Neues unter der Sonne. Es ist immer gut, die Bibel wieder zu lesen, um sich bewusst zu machen, dass unsere Beziehungen untereinander wirklich nicht zu unseren Gunsten sprechen. Jedes Volk spricht mit Stolz von seinen Vorfahren, wenn es sie erwähnt. Wir nicht. Denken Sie beispielsweise daran, was die Kinder Israels Moses angetan haben, der sich doch nach Kräften für sie einsetzte. Ich bin seit vielen Jahren überzeugt, dass der Herr durch sein Verbot an Moses, das Heilige Land zu betreten, ihn nicht bestrafen, sondern vielmehr belohnen wollte. Wir waren schon immer ein überspanntes, schwärmerisches Volk. Wir sind nicht neutral, und seit 4'000 Jahren sind wir in Bewegung, rastlos. Zum Glück stellen sich unsere internen Konflikte meist als ideologischer Art und als geistige Debatten heraus. So gab es z.B. in der Epoche des Talmud Beith Schamaï und Beith Hillel, die Vertreter zweier grosser geistiger und akademischer Strömungen, die sich nie einig waren, mit Ausnahme von 18 Punkten. Dennoch mochten und respektierten sich diese beiden Meister sehr. Und schliesslich waren beide in der Lage, trotz ihrer grundlegenden Meinungsverschiedenheiten einen Schritt weiter zu gehen.
Und heute?
Wesentliche ist heute eigentlich der Stand der Beziehungen zwischen Israel und der Diaspora. Meiner Ansicht nach haben sich diese im Laufe der Jahre ein wenig weiterentwickelt. Zu Beginn herrschte in Israel eine tiefe Enttäuschung und ein riesiges Unverständnis gegenüber der Tatsache, dass die Juden der Diaspora sich nicht alle hier niederlassen wollten. Natürlich kam es nach 1948 zu eindrücklichen Alijah-Schüben, doch im Grossen und Ganzen sind die Juden aus den USA, Australien und sogar aus Europa doch nicht wirklich nach Israel ausgewandert. Es entstand eine Atmosphäre der, wenn auch leichten, «Verachtung» zwischen den beiden Parteien. Der israelische Jude war ein guter Jude, während der Jude der Diaspora, der zwar Geld schickte, zwar geschätzt wurde, doch als Vertreter der Diaspora doch nicht wirklich respektiert wurde. Ich erinnere mich, dass Ben Gurion überall dort, wo er hinreiste, immer dieselbe Frage stellte: «Was machen Sie eigentlich hier?». Ich persönlich war immer der Meinung, es sei meine Pflicht, nicht darauf zu antworten. Ich habe Israel im Ausland nie kritisiert. Wenn ich denke, dass etwas schief läuft, komme ich nach Jerusalem und treffe den Premierminister unter vier Augen, um ihm meine Ansicht mitzuteilen. Nie würde ich einen Artikel in einer grossen amerikanischen oder französischen Tageszeitung veröffentlichen, in dem ich Israel am Zeug flicke. Ich stelle mir die Freude unserer Feinde nur zu plastisch vor, falls ich dies täte. Ich weiss, dass es heute Streitigkeiten und Eifersüchteleien gibt, doch in meinen Augen verkörpert jede Form der Spaltung eine Gefahr für uns alle. Ja, ich lebe nicht in Israel, aber ich könnte auch nicht mehr ohne Israel leben, das nicht nur fester Bestandteil meines Daseins ist, sondern dessen eigentlichen Mittelpunkt darstellt. Wir leben aber auch in einer Zeit, in der, mit Ausnahme des Sechstagekriegs, noch nie eine derart deutliche Annäherung zwischen Israel und der Diaspora zu beobachten war. Selbst während des Sinai-Kriegs 1956 bewahrten die Juden der Diaspora eine gewisse «neutrale Haltung». Das jüdische Volk hat einfach nicht reagiert. Ben Gurion war wütend, denn kein einziger jüdischer Verantwortlicher hatte das Wort ergriffen, um Israel zu verteidigen. Ben Gurion wollte übrigens die zionistische Bewegung aufheben und sie durch eine Vereinigung der Freunde Israels ersetzen.
Glauben Sie, dass wir heute ein gewisses Desinteresse der jüdischen Jugend in der Diaspora gegenüber Israel feststellen können und dass dies in einer Verringerung der finanziellen Unterstützung zum Ausdruck kommt?
Nein, ganz im Gegenteil. Wussten Sie, dass Theodor Herzl nach seiner Audienz beim Sultan ganz Palästina für 7 Millionen Dollar hätte kaufen können, diese Summe aber nicht zusammentragen konnte, obwohl er sich an die reichsten Juden der Welt wandte? In den Anfangszeiten des Staates existierte eine erstaunliche Passivität der Juden in aller Welt in Bezug auf Israel. Wenn das Land ein Darlehen über 1 Million Dollar erhielt, war dies ein Freudentag für Jerusalem. Heute geht es um Milliarden, und es werden riesige Investitionen im Land getätigt. Zu Beginn reisten praktisch keine Juden nach Israel, nicht einmal zu Besuch. Heute sind die Hotels ausgebucht, auch wenn die Zahl der Touristen insgesamt noch unzureichend ist. Doch die jüdische Geschichte ist lang, wir brauchen noch etwas Geduld. Ich weiss wohl, dass wir Juden am liebsten einen Tag mit 48 Stunden hätten, doch man muss auch realistisch sein, und in meinen Augen befinden wir uns auf dem richtigen Weg. Wer hätte sich vor 1989 vorstellen können, dass sich 1 Million aus der UdSSR stammende Juden in Israel niederlassen würden?
Nun bin ich aber überzeugt, dass uns heute eine andere Gefahr bedroht, die aus einer gewissen Kristallisierung besteht. Die Guten sind die Besten, doch die Schlechten sind die Schlimmsten. Unter «schlecht» verstehe ich diejenigen unter uns, die extrem links ausgerichtet sind und einen Feldzug gegen Israel, gegen den Zionismus, eigentlich gegen alles führen, was jüdisch ist. Leider werden, wie in allen israelfeindlichen Lagern, die Spitzenpositionen auch von Juden besetzt. Es ist ganz im Interesse der Nichtjuden, sie vorzuschieben, um sagen zu können: «Sie als Juden gehören auch dazu…». Im Allgemeinen handelt es sich um sehr eloquente Leute, die auf allen Rednertribünen begehrt sind. Sie werden eingeladen, weil sie Juden sind und es wagen, schlecht über Israel zu sprechen. Natürlich bedaure ich, dass sie so viel Einfluss haben. Vergessen wir nie, stolz auf Israel zu sein, stolz auf die Geschichte Israels und die Erfolge des Landes in allen Bereichen.
Sie beweisen grossen Optimismus. Welche Gefahr stellt Ihrer Ansicht nach heute die grösste Bedrohung für uns dar?
Es handelt sich um ein internationales, globales und jüdisches Problem: den Fanatismus. Diese Gefahr schwebt über der ganzen Welt, und wir gehören wie immer auch dazu. Innerhalb unserer Reihen ist ein linksextremer, ein rechtsextremer und gar ein religiöser Fanatismus zu verzeichnen.
Wie kann man ihn bekämpfen?
Es gibt nur ein Gegenmittel: die Bildung, die möglichst viele erreicht. Wir müssen Plattformen schaffen, Kolloquien abhalten und Zeitungen veröffentlichen, und zwar auf allen Ebenen, einschliesslich der Regierung. Die andere, parallel existierende Gefahr besteht aus der Tatsache, dass in der Diaspora Führungspersönlichkeiten absolute Mangelware sind. Sehen Sie, um Führungsleute heranzubilden, braucht es mehrere Generationen. Doch die potenziellen Leader von heute wurden während der Schoah im Alter von 2 bis 3 Jahren ermordet. Die Welt hat die Folgen und Konsequenzen dieser Tat noch nicht erfasst. Grosse Verantwortungsträger wie z.B. der Gaon von Wilnius oder der Bescht (Begründer des Chassidismus) sind nicht in einem Tag entstanden. Sie waren das Resultat einer langen Ausbildung, die sich auf mindestens eine ganze Generation erstreckte. Wir beginnen das Fehlen zu spüren, das Fehlen infolge des Todes, weil diese Kinder getötet wurden.
Wie sehen Sie die weitere Entwicklung?
Zunächst müssten die Situation und die damit verbundenen Mängel bewusst wahrgenommen werden. In der Welt der Kunst hat sich die Schwäche in Stärke verwandelt. Wir sind ein Volk mit einer verrückten und ungewöhnlichen Phantasie. Selbst unsere Geschichte hat sich diese Phantasie zu Eigen gemacht. Wir müssen uns folglich Nachfolger ausdenken und Lösungen finden.
Was halten Sie von der Entwicklung des Antisemitismus in Europa, wo es heute politisch korrekt ist, «mit einem Auge» an zahlreichen Gedenkfeiern die Schoah zu beweinen und gleichzeitig «mit dem anderen Auge» das Schicksal der Palästinenser zu beweinen und Israel dafür die Schuld zuzuschieben?
Zweifellos handelt es sich dabei um eine kurzfristige Gefahr. Langfristig bin ich optimistischer, denn wir haben alle Angriffe überlebt, die seit unserer mehrtausendjährigen Existenz auf uns verübt wurden. Natürlich ist das Problem des Antisemitismus an sich schwerwiegend, denn es ist bekannt, dass der überbordende Antizionismus irgendwann zum Antisemitismus wird. In diesem Zusammenhang möchte ich das Problem der Juden wieder aufgreifen, die sich gegen Israel stellen und dadurch den Antisemiten das schlechte Gewissen ausreden. Ich muss Ihnen allerdings gestehen, dass die Tatsache, dass es den Antisemitismus immer noch gibt, eine meiner grossen Enttäuschungen darstellt. 1945 war ich felsenfest überzeugt davon, diese Plage sei für immer verschwunden. Wie habe ich mich doch geirrt. Wer ist denn nun ein Antisemit? Jemand, der mich vor meiner Geburt hasst, der die Juden hasst, bevor sie zur Welt gekommen sind, und sogar, wenn sie schon tot sind. Die Deutschen haben die Toten nicht angetastet, weil sie die lebenden Juden hassten. Doch was den Antisemitismus kennzeichnet, sind nicht die Angriffe auf Friedhöfe, sondern der gewalttätige Hass gegenüber den Juden, weil sie Juden sind.
In diesem Zusammenhang kann ich nicht oft genug betonen, wie ernst man den iranischen Präsidenten nehmen muss, der immer wieder bekräftigt, dass «es keine Schoah gegeben hat… dass es aber eine geben wird».
Woher nehmen Sie nach allem, was Sie, insbesondere während der Schoah, erlebt haben, diesen überschäumenden und ansteckenden Optimismus her, der so typisch für Sie ist?
Wenn ich nicht optimistisch wäre, würde ich vielleicht in schwärzestem Pessimismus versinken. Weil ich aber diesen Abgrund ablehne, klammere ich mich an die Hoffnung. Ich muss auch der Jugend zuliebe so handeln. Eine Untersuchung hat mir gezeigt, dass die meisten meiner Leser junge Leute sind. Ich habe kein Recht, sie in die Verzweiflung zu treiben. Ich habe noch nie ein Manuskript einem Verleger überreicht, in dem nicht wenigstens ein Fünkchen Hoffnung steckte. Der düsterste meiner Romane ist «Der Vergessene», den ich sehr lange in einer Schublade zurückbehielt: es geht darin um Alzheimer. Schliesslich habe ich eine Möglichkeit entdeckt, eine Botschaft der Hoffnung einzuarbeiten, indem ich von der Transfusion der Erinnerung spreche. Ich könnte so leicht von der Verzweiflung reden. Es gibt viele Gründe pessimistisch zu sein, aber es gibt auch so viele andere, die Vertrauen geben, vor allem für Israel. Sehen Sie, ich bin in Bezug auf die Welt viel pessimistischer als in Bezug auf Israel. Die Welt ist krank, die Gewalt hört nicht auf, sei es in Darfour, in Somalia usw. Eines Tages werden Iran und andere gefährliche Regimes über die Atombombe verfügen. Vergessen wir nicht, dass es in der ehemaligen UdSSR Stützpunkte für Atomwaffen gibt, die von Personen bewacht werden, die eventuell bestechlich sind. Im Rahmen meiner Funktion veranstalten wir regelmässig Kongresse. Dieses Jahr fand z.B. in Zusammenarbeit mit König Abdullah und der Königin eine Konferenz in Petra statt, an der 25 Nobelpreisträger teilnahmen. Einer meiner «Amtskollegen» hatte mich früher einmal gefragt, welches meine grösste gegenwärtige Sorge sei, und ich hatte geantwortet: «der atomare Terrorismus». Er erklärte mir, ich würde mich irren, denn alles nukleare Material könne ausfindig gemacht werden, während dies bei biologischen Waffen nicht zutreffe. Es stellt sich heute also die Frage, wie man die Welt vor der Selbstzerstörung retten kann. Ich habe keine Antwort griffbereit, doch ich bin davon überzeugt, dass alles, was heute geschieht, direkt mit der Schoah zusammenhängt. Es ist Fakt, dass die Welt für die Schoah nicht direkt bestraft wurde. Sie wurde jedoch dadurch bestraft, dass sie die Ermordung von 1,5 Millionen Kindern zuliess. Unter ihnen befanden sich zukünftige Nobelpreisträger in der Medizin, in der Chemie usw., die vielleicht ein Medikament gegen Krebs oder Waffen hätten erfinden können, mit denen man eine chemische oder biologische Gefahr bekämpft. Alles, was heute unabhängig von unserem Wissen und Einfluss auf der Welt geschieht, ist eine Strafe für die Schoah.
Im Hinblick auf die Schoah gibt es eine Frage, die sich viele Leute stellen: weshalb haben die Juden nie physische Rache geübt?
Das wäre zu einfach gewesen. Ein solches Problem wird nicht gelöst, indem man die Schuldigen tötet. Dadurch hätte die Angelegenheit ad acta gelegt werden können, dadurch wäre die Versuchung des Vergessens zu gross gewesen. Die Bestrafung des Schuldigen liegt in unserer Erinnerung, und die Gründung des Staates Israel ist auch ein Produkt der Erinnerung.
Sie haben während unseres Gesprächs daran erinnert, dass Sie Ende Juni 2006 zusammen mit König Abdullah und der Königin eine Konferenz in Petra organisiert haben, an der 25 Nobelpreisträger teilnahmen. Im Verlauf der Veranstaltung fand in konstruktiver und viel versprechender Atmosphäre ein Frühstück zwischen dem israelischen Premierminister Ehud Olmert und Mahmud Abbas statt, über das die Medien weltweit berichteten. Kaum einen Monat später kam es aber am 12. Juli wieder zu einer arabischen Aggression gegen Israel. Was halten Sie von dieser radikalen Kehrtwende?
Ich beschuldige den Hamas und die Hisbollah, die beiden brutalsten totalitären und terroristischen Bewegungen der Gegenwart, alle Hoffnungen im Keim erstickt zu haben. Kurze Zeit nach Kriegsausbruch fand in New York eine grosse offizielle Veranstaltung zur Unterstützung Israels statt, an der zahlreiche Persönlichkeiten aus jüdischen und nichtjüdischen Kreisen aller Ausrichtungen teilnahmen, darunter auch Hillary Clinton. Einige Tage später rief mich eine Journalistin der Times an und fragte mich, weshalb im Verlauf der Veranstaltung das Wort «Frieden» kein einziges Mal gefallen sei. Dies habe sie umso mehr überrascht, als ich in meiner Eigenschaft als Träger des Friedensnobelpreises den Begriff auch nie verwendet hätte. Ich erwiderte, dass mir der Frieden noch nie so weit entfernt zu liegen scheine wie gerade heute.
Unter diesen Umständen kann man sich die Frage stellen, wo denn noch Hoffnung ist.
Meines Erachtens ist es wichtig daran zu erinnern, dass die israelische Nationalhymne eben «Hatikwa» - Hoffnung - heisst, und dass die zentrale Aussage, «unsere Hoffnung ist noch nicht verloren» (Od Loh Awdah Tikwatenu) in völligem Widerspruch zu einem Vers aus dem Buch Ezechiel steht, der besagt, dass die Vorväter Israels unsere Hoffnung verloren glaubten. 2500 Jahre später widersprechen wir nun dieser Beteuerung. Die Hoffnung ist die Luft, die wir atmen, der Traum, den wir träumen, das Brot, das wir essen. Zurzeit sieht es sehr schlimm aus, denn wir erleben mit, wie eine kleine Gruppe von Mördern die Geschichte beeinflusst und sie zu einer blutigen macht. Ihr erstes Opfer ist der Libanon, der immer in gutem Einvernehmen mit Israel gelebt hat, obwohl er nie einen Friedensvertrag mit dem hebräischen Staat unterzeichnet hat. Die Hisbollah hat den Libanon an sich gerissen und die Zerstörung bewirkt.
Was sollen wir, die Juden der Diaspora, in dieser Situation tun?
Unsere erste Pflicht besteht darin, dafür zu sorgen, dass sich Israel nie allein fühlt oder ist. Wir müssen ohne Unterlass unsere Solidarität mit Israel zum Ausdruck bringen und uns trotz allem ein Stück Vorstellungskraft erhalten, damit endlich Frieden herrscht.
Ich möchte mir nicht anmassen, in Bezug auf frühere Entscheidungen der israelischen Regierungen den Richter zu spielen. Ich bin nicht Israeli und akzeptiere daher, was das Land, das Volk und die Regierung von Israel tun. Ich muss aber folgende Fakten festhalten: nach Oslo hat Israel die Intifada und die Selbstmordanschläge erleiden müssen; nach der Evakuierung des Südlibanons hatte Israel mit der heutigen Situation, d.h. mit Raketenangriffen fertig zu werden; und schliesslich kam es nach dem Rückzug aus Gaza zur Wahl des Hamas und zum massiven Beschuss des Süden Israels mit Kassam-Raketen. Da stellt sich doch die Frage, ob Israel jedes Mal, wenn es sich grosszügig, wirklich äusserst grosszügig zeigt, nur Gewalt erntet. Ich möchte an dieser Stelle an Ariel Sharons Wunsch erinnern, dass zwei Staaten nebeneinander auf diesem Land leben können, und dass dieser Gedanke in denselben Worten auch von Ehud Olmert ausgedrückt wurde. Als einzige Reaktion darauf durfte Israel nun die Entführung von Soldaten verbuchen. Man muss sich klar machen, dass diese feige und unehrenhafte Tat eine Verletzung der nationalen Würde darstellt. Wie kann ein Land ein Minimum an Würde bewahren, wenn es einfach tatenlos zulässt, dass seine Soldaten, die es doch schützen sollten, entführt werden? Diese Kidnappings sind eine Provokation und Israel hat entsprechend reagiert.
Welche Botschaft würden Sie an die Jugend richten?
Sie muss dem jüdischen Schicksal mehr Aufmerksamkeit schenken. Es ist nicht jedermann gegeben, Geschichte zu schreiben, doch uns wurde die Pflicht auferlegt, daran mitzuwirken. Vergessen wir nie, dass wir Juden sind, weil wir Menschen sind, und menschlich, weil wir Juden sind.
Haben Sie abschliessend noch eine Botschaft anlässlich von Rosch Haschanah für die Leser von Shalom?
Ich wünsche mir, dass unsere Gebete erhört werden. Diejenigen, die uns persönlich betreffen, und diejenigen, die unsere Liebsten, die auch uns lieben, betreffen. Und dass diejenigen, in deren Mitte wir leben, uns vermehrt und verstärkt respektieren. Angesichts der gegenwärtigen tragischen Ereignisse kann man sich also fragen, mit welcher Einstellung wir das neue Jahr in Angriff nehmen sollen. Ich glaube, die Antwort liegt in diesem wunderbaren Satz: «Möge das scheidende Jahr sein Unheil mitnehmen – und möge das neue Jahr mit seinen Segnungen anbrechen.»
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