«Das Gegenteil von Liebe ist nicht der Hass, es ist die Gleichgültigkeit. Das Gegenteil von Kunst ist nicht die Hässlichkeit, es ist die Gleichgültigkeit. Das Gegenteil von Glauben ist nicht die Häresie, es ist die Gleichgültigkeit. Das Gegenteil von Leben ist nicht der Tod, es ist die Gleichgültigkeit». Dieser berühmte Satz von Elie Wiesel fasst in einigen Worten die geistige Haltung zusammen, die hinter der gesamten Tätigkeit der Zentren Beit Tzipora steht, ein Projekt, das vom bekannten Schriftsteller und seiner Frau Marion gegründet wurde.
Anlässlich einer kurzen Begegnung mit MARION WIESEL in Jerusalem haben wir sie gebeten, uns einige zusätzliche Informationen zur Aktion zu geben, dank der es jede Woche tausend äthiopischen Kindern ermöglicht wird, einen weiteren Schritt auf ihre vollständige Integration ins israelische Leben zuzugehen.
Wann und wie haben Sie begonnen, sich für die äthiopischen Kinder in Israel zu interessieren?
Vor rund 15 Jahren machte mich eine israelische Freundin auf einen Zeitungsartikel aufmerksam, in dem die Integrationsprobleme dieser Kinder angesprochen wurden. Ich war sehr berührt und beschloss, vor Ort zu ermitteln, welches Ausmass die Probleme aufweisen, und zu fragen, ob ich irgendwie helfen könne. Meine Freundin und ich besuchten ein kleines Aufnahmezentrum in der Nähe von Akko, wo wir Kinder antrafen, die dort mit ihren Familien in Wohnwagen lebten. Ihre Eltern besassen nicht genug Geld, um ihnen Bücher, Hefte oder Stifte zu kaufen, d.h. alles, was die Schule ihnen nicht zur Verfügung stellen konnte. Ich fragte den Direktor dieser benachteiligten Schule, was er brauche, um das Problem innert kürzester Zeit zu lösen, und übergab ihm eine verhältnismässig geringe Summe. Auf diese Weise fing ich an, mich näher mit der Frage der äthiopischen Kinder zu befassen und Aufnahmezentren überall in Israel zu besuchen. Ich begriff, dass diese schönen, würdevollen und sehr intelligenten Kinder, die so zu sagen von einem anderen Stern, aus einem früheren Jahrhundert stammten, für die Schule nicht auf die Unterstützung ihrer Eltern zählen konnten, da diese in den meisten Fällen keinerlei Bildung aufwiesen. Mir schien, dies sei eine Situation, in der konkretes Handeln Not täte. 1987 hatten wir nun nach der Verleihung des Nobelpreises an meinen Mann eine Stiftung gegründet, mit deren Hilfe wir zahlreiche grosse internationale Konferenzen veranstalteten, u.a. zusammen mit der Nobel-Stiftung und der Französischen Republik.
Ich persönlich wollte nun aber, bei allem Respekt vor den Intellektuellen, die an diesen Veranstaltungen zusammenkamen, etwas tun, was konkret greifbare Resultate bewirken würde. Ich wollte mir beispielsweise sagen können, dass wir jeden Tag einem Kind zum Erfolg verholfen hatten. Ich schlug also meinem Mann vor, ein Programm für die äthiopischen Kinder ins Leben zu rufen, und reiste nach Israel, wo ich unter Mithilfe von Freunden unser erstes kleines Zentrum einrichtete. Der Bürgermeister von Aschkelon stellte uns eine ehemalige Schule zur Verfügung, in der wir zunächst einige Kinder versammelten. Wir versuchten, ihnen das zu geben, was ihnen am meisten fehlte: eine vertrauensvolle Atmosphäre mit tatkräftiger Unterstützung, dank der sie allmählich ihre Schulresultate verbessern konnten. Anfangs waren die Eltern skeptisch, als sie aber nicht nur das hohe Niveau unserer Unterstützung für ihre Sprösslinge, sondern auch die Begeisterung der Kinder feststellten, bildeten sich lange Schlangen vor unserem Zentrum. Alle wollten plötzlich zu uns kommen. Unsere anfänglichen zwei Klassen erwiesen sich rasch als zu klein.
Aber es gibt doch in Israel bereits Programme für Lernhilfe. Weshalb erschien es Ihnen notwendig, ein eigenes System zu schaffen?
Es stimmt, es gibt schon viele derartige Programme, doch in den meisten Fällen handelt es sich um zusätzliche Kurse, die von den Schulen selbst nach dem Unterricht angeboten werden. Als ich mich entschied, mich ernsthaft mit diesem Problem auseinanderzusetzen, brachte ich in New York eine Gruppe von Fachleuten aus dem Bildungswesen zusammen und bat sie, mir bei der Erarbeitung eines kreativen und effizienten Programms zu helfen. Wir sprachen lange über die Wichtigkeit des Ziels, den Kindern einen «Sinn für Eigentum» zu geben. Dieses Zentrum sollte «ihr» Zentrum werden, ein Ort, an dem sie sich geborgen fühlen. Dieses Ziel haben wir tatsächlich erreicht. Ausserdem wissen unsere Kinder, dass sie bei ihrer Ankunft eine warme Mahlzeit erwartet, oft die einzige des Tages. Unsere Lehrkräfte sind alles erstklassige Profis, die Dossiers zu allen unseren Schülern führen, so dass wir sie über längere Zeit individuell betreuen, ihre Schwächen erkennen und ihre Begabungen fördern können. Jedes Trimester führen wir Tests durch und stellen anhand von ihnen zufrieden eine unglaubliche Entwicklung fest. Unsere ersten Schützlinge haben übrigens die Matura glänzend bestanden.
Indem die Kinder auf diese Weise unterstützt wurden, tat sich automatisch ein Graben zwischen ihnen und ihren Eltern auf. Haben Sie etwas dagegen unternommen?
Wenn die Kinder morgens in der Schule sind und unser Zentrum folglich frei steht, bieten wir Kurse für die Eltern an, in denen sie Hebräisch oder einfach lesen lernen oder auch erfahren, wie man mit den administrativen Pflichten in Israel umgeht. Wir bringen ihnen z.B. bei, wie man bei der Arbeitssuche einen Lebenslauf verfasst oder wie man einen Antrag auf Arbeitslosengeld ausfüllt. Wir führen auch ein interessantes Experiment durch: eine gemischte Klasse Eltern-Kinder, in der die Kinder den Eltern den Umgang mit dem Computer beibringen.
Sie besuchen diese Zentren Tzipora regelmässig und unterhalten sich mit den Kindern. Können Sie uns eine Geschichte erzählen, die Sie anlässlich eines Ihrer Besuche besonders berührt hat?
Davon gibt es viele, doch ich denke insbesondere an das kleine Mädchen, das mich fragte: «Sag, warum hilfst du uns?». Ich antwortete: «Weil auch ich von zu Hause fort musste. Ich kam als kleines Mädchen in ein Land, wo ich niemanden kannte, und ich hatte das Glück Leute anzutreffen, die sich um mich gekümmert haben, die mir geholfen haben».
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