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Inhaltsangabe Strategie Herbst 2006 - Tischri 5767

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Der zweite Libanonkrieg

Von Roland S. Süssmann
Der jüngste arabische Angriff auf Israel endete mit zahlreichen Fragezeichen. Wie und warum ist es so weit gekommen? Was ist wirklich geschehen? Weshalb hat Israel die Hisbollah nicht völlig vernichtet? Wie hat der hebräische Staat diesen Krieg geführt? Welche Lehren kann man daraus ziehen? Um die Hintergründe dieses Konflikts besser zu verstehen, der trotz eines prekären Waffenstillstands noch lange nicht abgeschlossen ist, haben wir mit Generalfeldmarschall JACOB AMIDROR gesprochen, dem ehemaligen Chef der militärischen Nachrichtendienste von Tsahal.

Wie analysieren Sie den zweiten Libanonkrieg?

Seit der Staatsgründung hat es in Israel immer zwei Denkansätze in Bezug auf Verteidigungsfragen gegeben, und je nach Situation kam der eine oder eben der andere zur Anwendung. Gemäss der ersten Einstellung ist Israel immer bedroht und schlägt präventiv am richtigen Ort und im richtigen Moment zu, ohne auf eine Konkretisierung der Gefahr zu warten. Diese Vorgehensweise haben wir mindestens zwei Mal gewählt, zum ersten Mal, als David Ben Gurion 1956 den Sinai-Krieg auslöste (wir feiern heuer den 50. Jahrestag), und dann, als Menachem Begin 1981 die irakische Atomanlage Osirak zerstören liess. In beiden Fällen spürte Israel die Bedrohung und beschloss, es könne keine weitere Entwicklung dulden. Dies beweist auch, dass die Verteidigungstheorien im Allgemeinen unabhängig sind von der politischen Ausrichtung der amtierenden Regierung. Der zweite Ansatz besagt, dass Israel sich nicht von seinem direkten Umfeld beeinflussen lässt und jederzeit bereit sein muss, einen Krieg zu führen und zu gewinnen, dass es aber in seinem Interesse liegt, den Krieg so lange wie möglich aufzuschieben und möglichst nicht selbst die Initiative zu ergreifen. Je mehr Zeit zwischen zwei Kriegen vergeht, desto besser. Diese Meinung vertraten die verschiedenen israelischen Regierungen nach dem Rückzug aus dem Libanon 2000. Vor diesem Zeitpunkt wurden im Jahr noch ungefähr 15 Soldaten im Libanon getötet. Wir haben uns aus einem einzigen Grund zurückgezogen: wir wollten die internationale Legitimierung für unsere Nordgrenze erlangen. Wir dachten, wir könnten auf diese Weise den Krieg vermeiden, obwohl alle wussten, dass die Hisbollah massiv aufrüstete. Uns war genau bekannt, welche Arten von Waffen sie kauften, und die Nachrichtendienste haben unzählige Berichte dazu geschrieben. Nichts war eigentlich neu, überraschend oder geheim. Wir gingen davon aus, auf beiden Seiten der Grenze, die international anerkannt war, jeweils leben zu können, und so lange die Hisbollah uns nicht angriff, hatten wir keinen Grund, es selbst zu tun. Wir besassen keinerlei Interesse daran, im Libanon Krieg zu führen, und wir haben alles unternommen, um ihn so lange wie möglich aufzuschieben. Man muss sich allerdings schon klar machen, dass die Hisbollah sich unter dem Schutz der «internationalen Anerkennung» eine ganz ungewöhnlich starke Streitkraft aufgebaut hat. Es ist wahrscheinlich die einzige Terrororganisation der Welt (mit Ausnahme vielleicht der in Afghanistan stationierten amerikanischen Kräfte zur Guerillabekämpfung), die über ein militärisches Arsenal verfügt, zu dem auch Boden-Wasser-Raketen gehören. Die Hisbollah hat im Südlibanon eine wahre Maginot-Linie errichtet, eine eigentliche Terroristen-Armee mit militärischem Können. Sie verfügte dank Syrien über die weltweit modernsten Panzerabwehr-Raketen. Es handelt sich um die von Russland hergestellten NT-Missiles, obwohl uns Russland versicherte, es verkaufe sie nicht an die Hisbollah. Wir haben grosse Mengen von ihnen beschlagnahmt, die noch mit russischen Aufschriften versehen waren… Diese Terrororganisation besitzt Boden-Luft-Raketen, die gegen Flugzeuge eingesetzt werden können, und sogar einige Missiles mit einer Tragweite von 200 km. Welche andere Terrororganisation der Welt verfügt über ein derartiges Arsenal? Wir waren demnach mit einer Guerilla-Organisation konfrontiert, die im Libanon einen Staat im Staat geschaffen hatte, die eine Armee besass, die mindestens so stark war wie die libanesische. In dieser Hinsicht war es eine völlig absurde Situation. Der Libanon ist ein souveräner Staat und Mitglied der UNO, auch Syrien ist ein souveräner Staat und Mitglied der UNO, und da kommt Iran und beschliesst, Männer und ein Waffenarsenal durch Syrien zu schleusen und im Libanon zu stationieren, um dort nicht nur einen Staat im Staat zu schaffen, wie ich schon sagte, sondern auch eine mächtige Guerilla-Armee. Die UNO und die internationale Staatengemeinschaft liessen dies geschehen, obwohl es eindeutig gegen die UNO-Resolution 1559 verstösst, in der die Stationierung von bewaffneten Nichtregierungsorganisationen im Südlibanon strikt verboten ist.

Sie bezeichnen diese Situation als absurd auf internationaler Ebene. War sie es denn nicht auch in Bezug auf Israel?

Natürlich, denn wir wussten sehr genau und in allen Einzelheiten, worüber die Hisbollah verfügte: Tausende von Katjuschas, Bunker, die russischen NT-Panzerabwehrraketen und die Langstreckenraketen. In diesem Zusammenhang hat sich auf beiden Seiten der Grenze ein interessantes Phänomen entwickelt. Seit einigen Jahren war in Galiläa der Tourismus mit Unterkunft bei den Einheimischen beliebt geworden, die Leute bauten zusätzliche Zimmer in ihren Wohnungen und Gärten, um diese zu vermieten. Auch auf der anderen Seite der Grenze vergrösserten sich die Häuser in derselben Weise, um aber Katjuscha-Lager zu beherbergen! Man muss sich vor Augen führen, dass eine Zahl von rund 10'000 dieser Raketen ein Arsenal darstellt, das eines Staates würdig ist.
Die Hisbollah wiegte sich in immer grösserer Sicherheit, da Israel praktisch nichts zu ihrer Bekämpfung unternahm und die Situation dahinschlittern liess. Sie entführte drei Soldaten (2003), tötete Zivilpersonen, schoss auf die Grenze, ohne dass irgendeine der amtierenden Regierungen, sei es unter Barak oder Sharon, darauf reagiert hätte. Alle vertraten den oben erwähnten zweiten Denkansatz und hielten es für richtig, den Krieg so lange wie möglich aufzuschieben. Dann kam die Regierung Olmert an die Macht, und in dieser Hinsicht muss man den Hut vor ihm ziehen, denn er sagte: «Jetzt reicht es, mehr können wir nicht dulden». Dazu hörte ich den Kommentar eines Hisbollah-Anführers: «Die israelische Reaktion ist nicht logisch. Die Entführung eines Soldaten macht eine gemässigte Reaktion erforderlich, eventuell einige Bombardierungen, aber doch keinen Krieg!». Die Mitglieder der Hisbollah hatten sich an den Gedanken gewöhnt, sie könnten weiterhin unsere Soldaten entführen und töten, ohne dass wir entschlossen darauf reagieren würden, aus Angst, dass Katjuschas auf Haifa und andere Städte Nordisraels abgeschossen werden könnten. Aus dieser Perspektive hat die gegenwärtige Regierung etwas sehr Wichtiges für Israel begriffen: Sie hat der ganzen Welt und insbesondere allen Ländern der Region deutlich zu verstehen gegeben, dass es eine Grenze gibt, bei deren Überschreitung wir unverhältnismässig heftig reagieren. Natürlich wird uns diese Reaktion dann von der ganzen Welt vorgeworfen. Was die Guerilla-Truppen aber wollen, ist eben genau die Tatsache, dass wir als Staat angemessen auf ihre Provokationen reagieren, da sie auf diese Weise die Fäden in der Hand behalten. Man muss wissen, dass ein Staat eine Guerilla nur mit einer einzigen Methode bekämpfen kann: mit einer unverhältnismässigen Reaktion. Wie sah denn die «entsprechende» Antwort der USA nach dem 11. September aus? Haben sie sich damit begnügt, in Afghanistan zwei Gebäude zu zerstören? Nein, sie haben das Land vollständig besetzt, was keinesfalls «verhältnismässig» ist. Diese Vorgehensweise wird weltweit als normale Reaktion akzeptiert.

Niemand hat also die Hisbollah daran zu hindern versucht, einen militärischen Stützpunkt im Libanon zu schaffen, und plötzlich beschliesst die israelische Regierung unter Ehud Olmert, dass das Mass voll ist. Trotz allem herrscht in der israelischen Bevölkerung der Eindruck vor, dass sogar die Armee von der Entwicklung dieses Kriegs überrascht gewesen sei. Warum?

Ich persönlich war sehr verblüfft festzustellen, wie überrascht die Leute waren. Seit über drei Jahren sage ich doch, dass sich Israel ab dem Tag, wo es zurückzuschlagen beschliesst, in einem langen und schwierigen Krieg befinden würde, dass die Bombardierung von Haifa und der Einmarsch von Bodentruppen im Libanon unvermeidlich sein würden. Dazu möchte ich betonen, dass der Schlag unserer Luftwaffe gegen die Hisbollah am ersten Tag des Konflikts wirklich meisterhaft war. In den letzten Jahren haben wir in mühseliger Kleinarbeit eine äusserst präzise Datenbank zusammengetragen, dank der wir punktgenau vorgehen konnten. Wir haben die gesamte Infrastruktur vernichtet, welche die Hisbollah über Jahre errichtet hatte und es ihr ermöglicht hätte, Langstreckenraketen auf den Staat Israel abzuschiessen. Es ist uns nicht gelungen, die 220-mm- und 302-mm-Katjuschas zu zerstören, die in Syrien hergestellt und an die Hisbollah weitergeleitet wurden. Weniger als fünf Minuten nach dem Einschlag einer derartigen Rakete in Israel hat aber unsere Luftwaffe ihren Abschussort vollständig zerstört. Es ist wichtig zu wissen, dass keine andere Armee weltweit zu dieser Meisterleistung in der Lage ist.

Wie kommt es also, dass so viele Katjuschas auf Israel abgeschossen wurden und die Bevölkerung im Norden gezwungen war, während fast einem Monat in Schutzräumen zu leben?

Dies ist darauf zurückzuführen, dass 96 % der auf Israel abgeschossenen Raketen klein sind und in einer Küche, auf einem Dach oder in einem Garten gezündet werden können. Keine Technologie der Welt kann sie aufhalten, es gibt nur einen Weg: das Gebiet muss besetzt und jedes einzelne Haus gesäubert werden, d.h. man muss die Männer der Hisbollah töten und die Katjuschas vernichten. Und in genau diesem Punkt hat Israel in diesem Krieg einen Fehler gemacht.

Wie meinen Sie das?

Wir dachten, die Angriffe der Luftwaffe seien viel effizienter, denn wir wollten weder den Libanon zerstören noch der Zivilbevölkerung unermessliches Leid zufügen. Wir hatten uns geirrt in der Annahme, eine breit angelegte Landoffensive umgehen zu können, vor allem weil die Bevölkerung – und nicht die Armee – noch unter dem Trauma der letzten Libanon-Erfahrung zu leiden glaubte. Die israelische Entscheidung, die Bodentruppen nicht einzusetzen, erwies sich ganz einfach als falsch. Und als die Regierung sich schliesslich dazu entschloss, war es zu spät und die Armee konnte eigentlich nicht mehr viel ausrichten. Innerhalb der ersten 5 bis 7 km, in denen die Armee nach 14 Tagen Krieg einmarschieren konnte, gibt es heute allerdings fast keine Katjuschas mehr: es ist uns gelungen, über 95 % von ihnen zu vernichten. Was wir nicht geschafft haben, ist die Zerschlagung des grössten Teils der Hisbollah-Streitkräfte, die sich im Norden dieser Zone aufhalten. Erst zwei Tage vor dem Waffenstillstand gab die Regierung grünes Licht für ein vermehrtes Vorrücken der Armee in den Norden, und natürlich konnte sie in zwei Tagen nicht das ausrichten, wozu sie eine Woche gebraucht hätte. Und so stehen wir vor der grossen Frage, die noch nicht beantwortet werden kann: warum hat die Armee der Regierung nicht schon früher vorgeschlagen, eine breit angelegte Operation am Boden durchzuführen, und warum hat sie die Regierung nicht dazu aufgefordert? Dies werden wir erst in einiger Zeit erfahren.

Ich hatte Gelegenheit, mit zahlreichen Infanterie-Reservisten zu sprechen, die alle dasselbe sagten: die Entscheidungen der Armee waren nicht kohärent. So rückte ein Soldat z.B. acht Mal zu einem Einsatz mit seiner Einheit aus und wurde jedes Mal vor dem Kampf zurückgerufen; einem anderen passierte dies elf Mal usw. Wie erklären Sie sich diesen Sachverhalt?

Während der gesamten Zeit vor der Lancierung der eigentlichen Bodenoffensive, fielen die Befehle effektiv sehr unklar aus. An einem Tag schickte man eine Einheit an einen Ort, dann beorderte man sie zurück, bevor sie überhaupt am Ziel angelangt war; am nächsten Tag war eine andere Einheit an der Reihe, und so fort. So kann man natürlich keinen Krieg führen. In den ersten Lektionen einer jeden Militärakademie wird gelehrt, dass die Entscheidung, in den Krieg zu ziehen, keine einfache ist und vor dem Beginn der Kampfhandlungen reiflich erwogen werden muss. Sobald aber der Beschluss gefasst wurde, kann der Krieg nicht schrittweise von Tag zu Tag, von Woche zu Woche geführt werden. Ab diesem Zeitpunkt muss man mit allen verfügbaren Streitkräften angreifen und den Sieg anstreben. Diskussionen und Zweifel dürfen nur vor dem Kriegsausbruch stattfinden, nicht während des Kriegs. Auch da werden die späteren Untersuchungen mit der Zeit Aufschluss darüber verschaffen, auf welcher Ebene diese schweren Fehler begangen wurden: im politischen oder im militärischen Bereich; möglicherweise tragen beide einen Teil der Verantwortung. Lassen Sie mich aber betonen, dass die Armee überall dort, wo sie eingriff, die Hisbollah deutlich geschlagen hat. Es wurde aber nie beschlossen, korrekt und global zu handeln.

Angesichts Ihrer Aussagen drängt sich nun die Frage auf, ob wir den Krieg verloren oder gewonnen haben.

Aus rein militärischer Sicht besteht kein Zweifel daran, dass wir nicht verloren haben, da wir die Infrastruktur der Hisbollah zerstört und zahlreiche ihrer Kämpfer getötet haben. Dennoch hat diese Organisation den Krieg überstanden, existiert immer noch und ist handlungsfähig. Das haben wir am letzten Kriegstag festgestellt, als sie sich besonders darum bemühte, unzählige Raketen auf den Norden Israels abzufeuern. Es ist aber nicht möglich, den Kriegsausgang einzig über das Militärische zu beurteilen, man muss auch den politischen Aspekt berücksichtigen. Auch da fällt die Antwort nicht eindeutig schwarz oder weiss aus. Man muss sich im Klaren darüber sein, dass die ganze Welt bei einem klaren und deutlichen Sieg Israels applaudiert hätte und die jüdische Gemeinschaft in aller Welt noch stolzer auf uns gewesen wäre. Darüber hinaus kann die Hisbollah dank der Tatsache, dass wir sie auf militärischer Ebene nicht vollständig vernichtet haben, behaupten, sie habe den Krieg gewonnen, was absolut falsch ist.
Es ist der Regierung Olmert aber gelungen, allen Ländern der Region klar zu machen, dass wir extrem heftig reagieren, wenn die Grenzen des Erträglichen überschritten werden. Man muss sich vor Augen führen, dass unsere Nachbarn dies vergessen hatten, da wir seit vielen Jahren nicht mehr so entschlossen zurückgeschlagen hatten. In dieser Hinsicht haben wir mal wieder reinen Tisch gemacht. Leider könnten aufgrund der Tatsache, dass wir keinen überzeugenden Sieg errungen haben und dass die Hisbollah immer noch besteht, einige arabische Länder der Region denken, Tsahal sei nicht so stark wie von ihnen befürchtet. Diese Illusion ist extrem gefährlich, denn sie kann in den Köpfen einiger arabischer Anführer zu Trugschlüssen führen. Tsahal hat aber ihre gesamte Schlagkraft bei weitem nicht genutzt, die Luftwaffe hat rund 30% ihres Potenzials und die Bodentruppen kaum 20% eingesetzt. Dies lag in erster Linie an den jeweiligen Entscheidungen und nicht an fehlender Kraft oder Kapazität. Die Welt ausserhalb Israels empfindet und beurteilt die Situation jedoch nicht unbedingt auf diese Weise. In Bezug auf die Politik auf internationaler Ebene möchte ich zunächst sagen, dass die UNO-Resolution alles andere als eindeutig ist und eigentlich keine Lösung anbietet, z.B. betreffend die Frage, ob die internationale Streitmacht Syrien daran hindern muss oder kann, die Hisbollah mit Waffen zu versorgen. Auf politischer Ebene hat aber dieser Konflikt eine entscheidende Veränderung bewirkt. Vor dem Krieg erschien es niemandem sinnvoll, sich mit der Hisbollah zu befassen, obwohl sie eine unabhängige, in einem souveränen Land stationierte Armee besitzt. Heute reden alle von der Hisbollah, die Libanesen befassen sich damit, die libanesische Regierung kümmert sich um das Problem und die Hisbollah-Anführer begreifen sehr wohl, dass sie vor Schwierigkeiten stehen. Deswegen haben sie sich zunächst einmal gegen eine internationale Streitkraft ausgesprochen und erst später eingelenkt; deswegen wehrten sie sich zunächst gegen die Stationierung der libanesischen Armee im Südlibanon und akzeptierten schliesslich. Es ist natürlich zu bedauern, dass die UNO-Resolution nicht viel klarer und genauer ausfällt, doch andererseits gibt es heute im Libanon eine Situation, in der eine Reihe der hier zuständigen Streitkräfte, an erster Stelle die libanesische Armee, nicht mehr den Preis für einen Krieg zahlen wollen, den Iran auf ihrem Territorium führt. Sie möchten den iranischen Einfluss gern loswerden. Einer der negativsten Aspekte dieser Resolution besteht darin, dass sie dem UNO-Generalsekretär Kofi Annan untersteht, dem wir unter keinen Umständen trauen können und der sich erlaubt, Israel aufgrund einer Reihe von Klischees zu beurteilen. Wir müssen auch abwarten, welche Haltung die Libanesen, die Amerikaner und die Europäer annehmen werden. Natürlich wäre das Ganze für alle ganz anders und wesentlich einfacher gewesen, wenn wir 2/3 der Hisbollah zerstört hätten. Doch dies ist nicht der Fall und wir müssen uns an die gegenwärtigen Positionen im diplomatischen Schachspiel anpassen.

In den Medien wurden Bilder von der Zerstörung des Libanons und vor allem Beiruts durch Israel gezeigt. Wie sieht die Realität aus?

Die berüchtigte «Zerstörung des Libanon», an der wir angeblich schuld sind, entpuppt sich als Legende. Während wir das Quartier Dahya im Norden von Beirut bombardierten, begaben sich die Einwohner seelenruhig an den Strand, weil sie genau wussten, dass bei uns keine Gefahr bestand. Das einen Quadratkilometer umfassende Viertel von Dahya befindet sich vollständig in der Hand der Hisbollah, so dass sogar der libanesische Präsident eine Genehmigung von Nassrallah braucht, wenn er es aufsuchen möchte. Ausserdem haben wir ein Camp der libanesischen Armee bombardiert, das die Hisbollah mit Informationen versorgt hatte, damit sie eines unserer Schiffe beschiessen konnte, und auch ein wenig die Region um den Flughafen. In Beirut ging das Leben weiter, die Cafés waren geöffnet, wir haben weder die Wasser- noch die Stromversorgung beschädigt, und die Bevölkerung der Stadt hat sehr schnell begriffen, dass wir es nur auf die Hisbollah abgesehen hatten. Jeder, der behauptet, wir hätten Beirut oder den Libanon zerstört, ist ein Lügner. Durch die Zerstörung der Einrichtungen der Hisbollah haben wir gemäss der Genfer Konvention gehandelt, in der es eindeutig heisst, jede zivile Einrichtung, die dem Feind im Kampf dient, darf zerstört werden. Dies gilt auch in der unglücklichen Episode von Caana. Vom Hof des zerstörten Hauses aus waren 150 Katjuschas auf Israel abgeschossen worden. Wenn die zivilen Einwohner des Gebäudes es auf unsere Aufforderung hin verlassen hätten, wäre niemand getötet worden. Und übrigens, wo sind denn die Toten, wenn wir den Libanon wirklich zerstört haben sollen? Dieser Krieg hat im Libanon ungefähr tausend Todesopfer gefordert, davon sind 500 bekannte Hisbollah-Mitglieder, und wir wissen nicht, wie viele Terroristen sich unter den anderen 500 Opfern befinden. Die Zahl der zivilen Opfer fällt demnach sehr tief aus, wenn man weiss, dass die Hisbollah die meisten ihrer Aktionen von sehr dicht besiedelten Gebieten aus durchführt. Wir haben uns bemüht, um die Zivilbevölkerung zu verschonen, doch natürlich haben die Medien, manipulierte Fotos und Filme, die man am Computer zusammengeschnitten hat, usw. unserem Image geschadet. Ich bin überzeugt, dass Israel sich in dieser Angelegenheit völlig korrekt verhalten hat.

Heute beginnt sich die libanesische Armee im Südlibanon zu stationieren. Handelt es sich Ihrer Meinung nach um einen ernsthaften Schritt oder öffnet man damit dem erneuten Erstarken der Hisbollah die Tür und Tor?

Die libanesische Armee ist wesentlich stärker und grösser als die Hisbollah. Sie verfügt über eine solide, aber nicht aussergewöhnliche Ausrüstung. Wichtig bei diesem Punkt ist die Tatsache, dass die libanesische Regierung den politischen Beschluss gefasst hat, die Hisbollah aufzulösen. Erinnern wir uns daran, dass es im Libanon andere Milizen gab, die alle von der Bildfläche verschwunden sind: Amal, die Drusen, die Maroniten und andere. Es gibt folglich keinen Grund zur Annahme, dass die Hisbollah nicht entwaffnet werden könnte. Und genau dabei wird die internationale Streitkraft eine Rolle zu spielen haben. Diese Truppen muss mit einem ganz eindeutigen Auftrag in zweierlei Hinsicht entsandt werden: einerseits sollen sie die libanesische Armee bei der Erfüllung ihrer Aufgabe unterstützen, was bedeutet, dass die Soldaten der UNIFIL nach Absprache aktiv mit der libanesischen Armee zusammenarbeiten müssen (dies beweist, dass sie von der ganzen Welt und nicht nur von der libanesischen Regierung unterstützt wird); andererseits müssen sie einen sehr soliden Stützpunkt an der Grenze zwischen Syrien und dem Libanon einnehmen, damit Waffenlieferungen für die Hisbollah nicht mehr passieren können. Ich denke nicht, dass Syrien versuchen wird, den Durchgang mit Hilfe seiner Armee zu erzwingen, denn dazu müsste sie die UNIFIL militärisch angreifen. In diesem Zusammenhang möchte ich auch unterstreichen, dass Israel weiterhin ablehnen muss, dass Soldaten aus Ländern ohne diplomatische Beziehungen mit Israel, wie z.B. Malaysia oder Bangladesch, in diese internationalen Streitkräfte integriert werden. Was die Souveränität des Libanon betrifft, bin ich der Ansicht, dass die Europäische Union aufgrund der historischen Beziehungen des Landes zu Europa im Allgemeinen und zu Frankreich im Besonderen dafür verantwortlich ist, diese mit allen Kräften zu erhalten und zu verstärken. Bei dieser Gelegenheit könnte die EU beweisen, dass sie auch etwas anderes tun kann als Israel zu verurteilen.

Besteht die Gefahr, dass der Hamas eine militärische Festung errichtet, analog zum Stützpunkt der Hisbollah im Südlibanon?

Dies hängt von drei Elementen ab: von den Beziehungen zwischen der Hisbollah und dem Hamas, von den gemeinsamen ideologischen Auffassungen und schliesslich von der Zukunft des Hamas in Gaza. Zunächst muss man sich daran erinnern, dass beide Organisationen den radikalen Islam verkörpern, obwohl die eine schiitisch und die andere sunnitisch ist und sie sich im Irak gegenseitig bis aufs Blut bekämpfen. Sie vertreten aber dieselbe Ideologie, die der liberalen Demokratie in der ganzen Welt ein Ende setzen möchte. In diesem Sinne verkörpert Israel neben seiner Eigenschaft als jüdischer Staat die erste Bastion dieser Demokratie im Nahen Osten und muss daher verschwinden. In Bezug auf die Beziehungen zwischen beiden Gruppierungen muss man wissen, dass die libanesische und die iranische Hisbollah seit vielen Jahren den Hamas mit Waffen und Geld versorgen und dass Hamas-Mitglieder zwar Sunniten sind, aber in Iran trainieren. Dieses Dreieck Iran-Hamas-Hisbollah besitzt demnach enge und starke Verbindungen untereinander. Darüber hinaus wurden viele Attentate, die in Judäa und Samaria stattfanden, von den Leuten der Hisbollah und nicht des Hamas durchgeführt. Und was die Frage angeht, ob der Hamas das militärische Niveau der Hisbollah im Libanon erreichen kann, so muss man die bejahen – grundsätzlich. Von dem Moment an, da Israel die Kontrolle über die Grenze zwischen Hamas und Ägypten abgetreten hat, hängt das allein von diesem Land ab. Kürzlich teilte mir der Chef des israelischen Nachrichtendienstes mit, in der letzten Zeit seien riesige Mengen von Waffen aller Art nach Gaza eingeführt worden. Wenn nun aber kleine Katjuschas, nämlich diejenigen, die wir im Libanon nicht zerstören konnten, in Gaza positioniert werden, können sie Ziele treffen, die weiter liegen als Aschdod, und mit ihrer Tragweite von 40 km fast Beer Schewa erreichen. Israel ist sich dieser Realität wohl bewusst und wird in Kürze eine politische Entscheidung treffen müssen in Bezug auf eine der beiden zu Beginn des Gesprächs erwähnten philosophischen Ansätze. Die Tatsachen sprechen für sich: in Gaza, wo die Armee praktisch nicht präsent ist, schiesst der Hamas täglich Kassamraketen auf Israel ab; in Kalkilya, 700 m von Kfar Saba entfernt, wo wir stationiert sind, wird nie auch nur eine einzige Rakete gezündet. Wenn wir den Hamas daran hindern wollen, noch stärker zu werden, und beschliessen, dem Abschuss von Kassamraketen ein Ende zu setzen, müssen wir mit der Armee wieder nach Gaza einmarschieren.

Glauben Sie, dass der jüngste Krieg hätte umgangen werden können, wenn Israel sich nicht aus dem Libanon zurückgezogen hätte?

Die Hisbollah wäre so oder so mächtiger geworden, aber wir hätten ihre Infrastruktur viel früher zerschlagen können.


Es herrscht das Gefühl vor, dass der Waffenstillstand «vor vollendeter Arbeit» zustande kam. Meinen Sie, dass der nächste Krieg gegen die Hisbollah schon bald ausbrechen wird?

Die Hisbollah wurde zwar nicht vollständig zerstört, doch Tsahal hat ihr doch einen schweren Schlag zugefügt. Sie muss sich nun also wieder aufrappeln, neue Leute rekrutieren und ausbilden, die Waffen richten und eine militärische Infrastruktur schaffen. Meiner Ansicht nach dürfte ein neuer Konflikt nicht in den zwei bis drei kommenden Monaten ausgelöst werden. Diese Entwicklung hängt trotz allem von der Effizienz der multinationalen Streitkräfte, von der Einstellung Syriens und von den in Teheran gefällten Entscheidungen ab.

Wie hat sich dieser zweite Libanonkrieg auf die israelische Gesellschaft ausgewirkt?

Ich glaube, sie ist auf brutale Weise aufgerüttelt und aus ihren Illusionen gerissen worden. In der israelischen Gesellschaft herrschte der Mythos vor, dass all unser Leid einer einzigen Tatsache entspringe: unserer Präsenz in Judäa und Samaria, von der Linken «Besatzung» genannt, und dass es ausreichen würde, sich aus diesen Gebieten zurückzuziehen, damit alle unsere Probleme mit unseren Nachbarn beigelegt würden. Wir hatten aber den Libanon bis auf den letzten Meter verlassen. Es gibt übrigens in der Nähe des Kibbuz Manara ein Grabmal, an dem auf einer Seite ein israelischer Soldat, in der Mitte ein Angehöriger der UNIFIL und auf der anderen Seite ein Mitglied der Hisbollah Wache hält, weil die internationale Grenze genau über dieses Grab verläuft; an einer anderen Stelle führt die Grenze mitten durch ein Dorf usw. Trotz allem hat die Hisbollah unsere Existenz als Staat nie akzeptiert. Die Israelis haben allmählich gemerkt, dass unsere Existenzberechtigung als jüdischer Staat im Nahen Osten auf dem Spiel steht, ganz unabhängig vom Territorium, auf dem wir leben wollen. Die Israelis haben begriffen, dass unser Umfeld uns nicht akzeptiert und dass die Zeit noch nicht gekommen ist, die Waffen niederzulegen. In Wirklichkeit heisst dies, dass wir noch lange Zeit mit dem Schwert in der Hand werden leben müssen. Der jüngste Krieg hat auch deutlich gezeigt, dass die einseitigen Initiativen sinnlos sind. Was nicht ausschliesst, dass wir in Zukunft mit unserem direkten Umfeld verhandeln, wenn diese Gespräche zu vernünftigen, gegenseitigen und vor Ort realisierbaren Vereinbarungen führen. Abschliessend scheint mir, dass die Idee eines einseitigen Rückzugs im Sinne von «wir hier – sie dort» heute vom grössten Teil der israelischen Bevölkerung nicht mehr akzeptiert wird.

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