Ein bekanntes Schlagwort lautet: «Wo Coca Cola ist, ist auch Chabad nicht weit». Ganz falsch ist dies nicht, vor allem nicht im modernen Polen, das sich immer mehr verwestlicht. Folglich hat auch Chabad hier seinen Platz, und es war Rabbi Shalom Dov Stambler, ein junger Gesandter der chassidischen Bewegung in Warschau, der ein Zentrum namens «Chabad-Lubawitsch of Poland – ein Haus für jeden Juden» eröffnete. Die Einrichtung als solche ist dank der Vielfalt der angebotenen Dienstleistungen recht eindrücklich: Studierzentrum für Erwachsene, Jugendliche und Kinder, koscheres Restaurant, Kinderklub, Businessclub mit Internetanschluss, Fax, Telefonkonferenzen, Kopiergerät, Konferenzsaal, Übersetzungs- und Dolmetschdienstleistungen usw. Während eines kurzen Gesprächs haben wir Rabbi Stambler gebeten, uns darzulegen, weshalb er in Polen ist.
Aus welchem Grund haben Sie in Warschau ein Lubawitsch-Zentrum eröffnet?
Für uns ist jeder Jude, sei er nun fromm oder nicht, ein guter Jude. Unser Ziel besteht darin, die jüdische Identität durch Wissen und Kenntnisse, aber vor allem durch eine Politik der allgemeinen Offenheit zu stärken. Wir haben uns vor rund anderthalb Jahren hier eingerichtet. Dazu muss man wissen, dass es in Polen noch viele Menschen gibt, die zwar wissen, dass sie Juden sind, sich aber wegen der antisemitischen Einstellung ihrer Nachbarn fürchten, offen dazu zu stehen. Sie leiden oft unter einem Trauma infolge der Schoah oder des Kommunismus. Im Hinblick auf die Stärkung der jüdischen Identität setzen wir in erster Linie Kurse, Vorträge, kulturelle Aktivitäten, Seniorenklubs, Begegnungsstätten für junge Leute und Kinder ein. Einige Menschen kommen nur zu uns, um zu reden, jemanden zu sehen oder sich auszutauschen. Wir besitzen auch einen Talmud Torah, wo wir jeden Sonntag zahlreiche israelische Kinder empfangen, die sonst amerikanische oder britische Schulen besuchen und deren Eltern aus beruflichen Gründen in Polen leben. Wenn diese Kinder zu uns kommen, kennen sie oft nicht einmal die Buchstaben des Alphabets, obwohl ihre Eltern Israelis sind. Wir haben dieses Angebot nun auf ganz Polen ausgeweitet.
Was bedeutet es, wenn Sie davon sprechen, «die jüdische Identität zu stärken»? Wenden Sie sich dabei ausschliesslich an Personen, die gemäss den Vorschriften der Gesetzgebung (Halachah) echt jüdisch sind?
Ja, das ist so. Wir haben nicht die Absicht, Leute zu bekehren oder die Konvertierung von Menschen zu fördern, bei denen z.B. nur der Vater Jude ist. Wenn ich einem Kandidaten begegne, der ernsthaft an einer Konvertierung interessiert ist, bringe ich ihn in Kontakt mit Rabbinern, die sich um solche Dinge kümmern, doch meist handelt es sich dabei um Ausnahmen.
Wer sind die Lehrpersonen?
Da ist eine Gruppe von zehn jungen Jeschiwah-Studenten aus Montreal. Während der Woche geben sie Unterricht in Warschau, am Wochenende fahren sie von einer jüdischen Gemeinde Polens zur anderen, um bei der Organisation eines Mynian, eines Kurses oder irgendeiner sonstigen jüdische Aktivität zu helfen, dank denen sich die Mitglieder dieser oft isolierten Gemeinden als Juden fühlen und ihre Identität stärken können.
Weshalb aus Montreal?
Zehn Jahre vor dem Zweiten Weltkrieg kam der frühere Rabbi von Lubawitsch aus Riga nach Warschau, um dort eine Jeschiwah zu gründen. Diese zählte sehr bald Hunderte von Studenten. Doch nach der Invasion durch die Deutschen reiste die Jeschiwah ins Exil nach Shanghai, wo Lebensmittel extrem knapp waren. Der Rabbi wanderte mit seinen Studenten erneut aus, diesmal nach New York, von wo er eine kleine Delegation aussandte, um die erste Jeschiwah in Montreal zu eröffnen. Heute sind es die Enkel der ersten Schüler in dieser Jeschiwah, die in gewisser Weise nach Warschau «zurückkommen».
Durch die «Stärkung der jüdischen Identität» ermutigen Sie die Juden in gewisser Weise, in Polen gemäss ihrer Religion zu leben. Irgendwann hatte aber der letzte Rabbi von Lubawitsch (der Rebbe) erklärt, es solle in Polen kein Chabad-Zentrum eingerichtet werden. Wieso haben Sie sich dennoch in Warschau niedergelassen?
Ich werde zunächst den zweiten Teil Ihrer Frage beantworten. Der «Rebbe» ging davon aus, es gebe in Polen langfristig kein Potenzial für ein jüdisches Leben. Daher müssen unsere Abgesandten in erster Linie Kontakt zur Jugend suchen, um diese davon zu überzeugen, sich in den grossen jüdischen Zentren in Israel, den USA usw. niederzulassen. Wir entwickeln unsere Tätigkeit vor Ort und vermitteln die sehr deutliche Botschaft, dass Polen kein Ort für Juden ist. Es ist uns übrigens bereits gelungen, einige Menschen zur Auswanderung nach Israel zu überzeugen, entweder um dort zu studieren oder endgültig dort zu leben.
Glauben Sie, dass Sie bei den zahlreichen Ausländern, insbesondere den Israelis, die aus beruflichen Gründen nach Polen kommen und sehr isoliert leben, eine Aufgabe zu erfüllen haben?
Es kommen viele Israelis zu uns, die regelmässig oder ab und zu an der einen oder anderen der von uns angebotenen Aktivität teilnehmen, sei dies nun ein Abendessen am Schabbat, die Begehung eines religiösen Feiertags oder einfach ein Kurs oder ein Vortrag.
Wie sehen Ihre Beziehungen zum Verband der jüdischen Kultusgemeinden in Polen aus, dem Organ, das die Juden des Landes offiziell vertritt?
Rabbiner Michael Schudrich ist ein Freund und wir studieren ein bis zwei Mal pro Woche zusammen. Es hat sehr wohl begriffen, dass wir keine Konkurrenz darstellen, weder für ihn, noch für die Gemeinde von Warschau, von der wir keine einzige Dienstleistung wie z.B. Friedhof, Konvertierungen usw. übernommen haben. Wir unterstützen einander, sooft sich die Gelegenheit bietet.
Sie haben den Seniorenklub erwähnt. Von wem wird er besucht und weshalb haben diese Menschen ihr Leben in Polen verbracht?
Dazu kann ich sagen, dass 95% unserer Besucher ehemalige Kommunisten sind, die effektiv ihr Leben lang davon überzeugt waren, auf diese Weise eine bessere Welt aufzubauen, ausgeglichener und sicherer. Sie gingen im polnischen Leben, in der polnischen Kultur und Mentalität völlig auf. Als sie älter wurden, haben viele von ihnen gemerkt, dass ihnen letztendlich nur ihre jüdische Identität und ihre Religion geblieben sind und dass alle anderen Ideen, an die sie so fest geglaubt und für die sie so eifrig gekämpft hatten, nur eine Illusion waren. Jeder von ihnen hat eine persönliche Geschichte, doch im Grunde gleichen sich die Beweggründe von allen. Zur Veranschaulichung meiner Worte möchte ich Ihnen das Beispiel eines 87-jährigen Herrn anführen, der regelmässig zu uns kommt. Er hatte vor und nach der Schoah ein schreckliches Leben. Er stammte aus Lublin und erinnerte sich, dass er Jude war und im Alter von 16 Jahren von seinem Vater aus dem Elternhaus gejagt worden war, weil er unfromm gewesen war und in schlechten Kreisen verkehrte. Als er zu uns kam, hatte er alles vergessen, was er als junger Mann gelernt hatte, er wusste gerade noch, dass er seine Bar-Mitzwah gefeiert hatte. Zu Beginn nahm er als Zuhörer an den Gottesdiensten teil. Ich zeigte ihm Gebetsbücher, die meisten von ihnen in Transkription, und plötzlich fiel ihm wie durch ein Wunder alles wieder ein, was er als Kind gelernt hatte, die Gebete, die Bibel, der Talmud – alles. Seither verbringt er jeden Schabbat bei uns.
Planen Sie, eine jüdische Schule zu eröffnen?
Im Moment verfüge ich nicht über ausreichend Schüler, um ein derartiges Projekt zu verwirklichen. Sollte es aber eines Tages so weit sein, würde ich nur authentisch jüdische Kinder aufnehmen.
Wie kommunizieren Sie mit den Menschen, die an Ihren Aktivitäten teilnehmen, sprechen Sie Polnisch?
Ich habe im Alltag ein wenig Polnisch gelernt. Die älteren Menschen sprechen jedoch Jiddisch, die Jungen fliessend Englisch. Es gibt demnach keinerlei Kommunikationsprobleme.
Der Rabbiner Stambler erfüllt seine Mission mit Pragmatismus und ganz ohne Illusionen. Die ultramodernen, hellen, sauberen und einladenden Räumlichkeiten sind für zahlreiche Personen ein Anreiz, an den Aktivitäten teilzunehmen, die gemäss seinen Angaben die von der jüdischen Gemeinschaft von Warschau angebotenen Programme perfekt ergänzen.
|