Während des jüngsten Krieges hat die politische Opposition in Israel unter der Leitung des früheren Premierministers BENJAMIN NETANJAHU grosse Loyalität gegenüber dem Staat und der Regierung an den Tag gelegt. Im Bewusstsein um die Bedeutung des Einsatzes stellte sich letzterer in den Dienst des Staates und enthielt sich für die Dauer der Kampfhandlungen jeglichen negativen Kommentars gegenüber der Regierung oder der Armee. Gleich nach dem Inkrafttreten des Waffenstillstands haben wir ihn getroffen und ersucht, uns seinen Standpunkt zu den politischen Konsequenzen der Operation «Richtungswechsel» darzulegen.
Nun stellen sich alle die Frage, ob Israel denn den Krieg gewonnen oder verloren hat. Wie sehen Sie das?
Das ist die falsche Frage. Wichtig ist doch heute nur, wie wir unsere Zukunft vor einer Gefahr schützen können, die ganz konkret geworden ist, dem Iran. Einige von uns haben uns schon lange gewarnt und vorausgesehen, dass der einseitige Rückzug aus dem Libanon und aus Gaza zur Schaffung iranischer Stützpunkte vor den Toren Israels führen würde. Uns war auch bekannt, dass Iran Atomwaffen baut, um Israel zu vernichten. Doch bis zu dem Zeitpunkt, da der iranische Präsident Mahmud Ahadinejad, der neue Hitler unserer Zeit, in der Lage ist, von dort aus anzugreifen, führt er seinen Krieg gegen Israel über die Zwischenstationen Hisbollah und Hamas. Dies ist die wesentliche Information, die dank diesem Krieg der ganzen Welt, oder zumindest jenen, die es sehen wollen, vor Augen geführt wurde. In Israel selbst besteht kein Zweifel mehr daran, und ein präziser Vorgehensplan in fünf Schritten drängt sich auf.
Handelt es sich um fünf nationale Prioritäten, die sehr schnell umgesetzt werden sollten?
An oberster Stelle steht die Schaffung einer internationalen Koalition, dank deren Kooperation wir verhindern können, dass Iran sich Nuklearwaffen beschafft. Zweitens sollten wir unsere Verteidigungsdoktrin so umstellen, dass Tsahal, gesetzt den Fall, ein neuer Krieg wird uns aufgezwungen, in der Lage ist, jeden Feind blitzschnell zu schlagen, ganz egal, woher die im Feld auftretenden Männer und Waffen stammen. Drittens müssen wir den von den Katjuschas der Hisbollah getroffenen Norden und die Siedlungen im westlichen Negev, wo die Kassamraketen des Hamas einschlugen, wieder aufbauen und die Organisationsweise des Hinterlandes an der Front völlig neu überdenken. Viertens muss unsere Wirtschaft mit voller Kraft angekurbelt werden, damit sie alle oben erwähnten Punkte finanzieren kann. Und schliesslich sollten wir uns an fünfter Stelle vergewissern, eine «saubere» Regierung zu haben. Das heisst, wir haben dafür zu sorgen, dass keine Korruption auftritt, und uns vor allem der endemischen Bürokratie zu entledigen, die alles lähmt und Ursache für so viel Ineffizienz, Doppelarbeit und Liegenbleiben wichtiger Aufgaben ist. So sieht der Plan aus, den meine Kollegen im Likud und ich persönlich vorlegen und verwirklichen werden. Denken wir daran, dass in Israel die Regierungen nicht wegen politischer oder parlamentarischer Ränkespiele fallen, sondern weil die Öffentlichkeit es wünscht.
Sind Sie – falls Sie an die Macht zurückkehren – in der Lage, mit den Arabern zu verhandeln, und wenn ja, auf welcher Basis, da sich doch die Einseitigkeit als Reinfall erwiesen hat?
Ich glaube, bevor wir von Verhandlungen sprechen, müssen wir unser Abschreckungspotenzial wieder aufbauen, das im Verlauf dieses letzten Krieges schwer gelitten hat. Vergessen wir nicht, dass der jüdische Staat von der Abschreckung lebt. Dank ihr ist es uns seit 1948 gelungen, die Araber und die muslimische Welt davon zu überzeugen, dass wir uns hier für immer und ewig niedergelassen haben. Während des Unabhängigkeitskriegs standen uns übrigens 5 arabische Armeen gegenüber; 1967 waren es drei; 1973 zwei; 1982 im Libanonkrieg eine einzige; und heute sind wir als militärische Supermacht in den Krieg gezogen. Leider ist unser Abschreckungspotenzial (ohne Beeinträchtigung unserer eigentlichen militärischen Schlagkraft) so sehr in Mitleidenschaft gezogen, dass Syrien sich der Illusion hingibt, den Golan mit Gewalt wieder einnehmen zu können; dass Iran offen von unserer vollständigen Vernichtung spricht und dass die Hisbollah und der Hamas behaupten, die Juden seien Feiglinge, die mit reiner Willenskraft der militanten islamischen Welt eliminiert werden können. Heute stellt sich demnach nicht die Frage, ob wir im Rahmen eventueller Verhandlungen zu Konzessionen bereit sind, sondern wie wir unsere Politik der Schwäche in eine Politik der Stärke und der Abschreckung verwandeln. Wir werden nicht auf der Grundlage von unterzeichneten Vereinbarungen überleben, die kaum das Papier wert sind, auf dem sie stehen. Wir können uns nur mit Hilfe unserer militärischen, politischen, wirtschaftlichen, kulturellen und geistigen Stärke erfolgreich durchsetzen, die unserem Glauben als jüdischer Staat basiert. Wir müssen die Welt daran erinnern, warum wir hier sind und nicht anderswo und welches unsere historischen Beziehungen als Nation zu diesem Land sind, untermauert durch das Fundament unseres Glaubens und die von uns verteidigten moralischen Werte der Juden. Die Welt im Allgemeinen und unsere Nachbarn im Besonderen müssen begreifen und akzeptieren, dass wir bereit sind, für das Recht der Juden auf ein Leben hier zu kämpfen. Leider zählt in Bezug auf die Abschreckung nicht die Art, wie wir uns selbst wahrnehmen, wie wir fühlen und die Dinge sehen, sondern die Art, wie wir von unseren Feinden wahrgenommen werden.
Weshalb glauben Sie, dass die israelische Öffentlichkeit bereit sein wird, die von Ihnen vorgeschlagene radikale politische Umstellung zu unterstützen?
Im Gegensatz zu dem, was unsere Feinde annehmen mögen, wurde unser Abschreckungspotenzial zwar erschüttert, doch noch lange nicht gebrochen, und ich habe mehrere Gründe für diese Vermutung. Zunächst habe ich bei meinen Begegnungen mit der Bevölkerung im Norden, die sich in Schutzräume zurückziehen musste, regelmässig Folgendes gehört: «Wir sind bereit, monatelang in unseren Schutzräumen auszuharren und unter dieser Situation zu leiden, aber führt eure Arbeit zu Ende». Ich möchte an dieser Stelle meinen Hut ziehen vor dem Mut, der Opferbereitschaft und der Entschlossenheit unserer Soldaten, die unter extrem schwierigen Umständen nie nachliessen oder die Hoffnung verloren. Sie haben jederzeit Tapferkeit an den Tag gelegt und unerschütterlichen Durchhaltewillen bewiesen. Abschliessend möchte ich an dieser Stelle an die unglaubliche Welle der Solidarität erinnern, die sehr rasch überall im Land zu beobachten war. Ich denke an die Tausenden von Menschen, die in einem Aufschwung nationaler Einigkeit ihr Herz, ihre Wohnungen und ihr Portemonnaie geöffnet haben. Jeder hat bewiesen, dass er sich für seinen Bruder im Norden verantwortlich fühlt. Wir haben der ganzen Welt gezeigt, dass wir eine einzige und im Leid vereinte Nation sind und dass der berühmte Satz «Ganz Israel ist füreinander verantwortlich» keine leere Phrase ist, sondern seine ganze, konkrete Bedeutung entfaltet hat. Es gibt natürlich zahlreiche Beispiele, doch ich möchte die Psychologen erwähnen, die von einem Tag auf den andern ihre Praxis schlossen, um in den Norden zu reisen und den unter Schock stehenden Personen zu helfen, oder auch die Geschäftsleute, die ihre Büros verliessen, um den Gemeinden im Norden ihre Dienste anzubieten. Heute verstehen in Israel alle, dass wir von einer existenziellen Gefahr bedroht werden und dass der Zeitpunkt gekommen ist zusammenzuhalten. Anlässlich der Dreyfus-Affäre vor 110 Jahren hatten die Juden im Allgemeinen nicht erfasst, in welch gefährlicher Situation sie sich befanden, und verhielten sich sogar recht selbstgefällig, da sie die Augen verschlossen vor der Katastrophe, die sich für sie und ihre Nachkommen anbahnte. Ein einziger Mann erkannte die Gefahr, Theodor Herzl, der einerseits warnte, aber auch sagte, das jüdische Volk besitze eine unglaubliche innere Kraft und vereint in seiner Heimat wäre es unschlagbar. Es ist also Sache der politischen Führung, das Risiko zu erkennen, und heute müssen und können wir zur Sicherung unserer Zukunft den neuen Brand bekämpfen, den Mahmud Ahadinejad gelegt hat, und zwar indem wir die fünf Forderungen umsetzen, die ich vorhin erwähnt habe.
Sind Sie der Ansicht, in näherer Zukunft sei ein Krieg mit Syrien denkbar?
Ich glaube nicht, dass Syrien ein ernsthaftes Problem für uns darstellt, die Hisbollah übrigens auch nicht. Die Gefahrenquelle befindet sich in Iran, denn die Vernichtung Israels stellt hier nur einen ersten Schritt zur Zerstörung des Westens dar. Die westlichen Länder müssen unbedingt Allianzen eingehen, um sich gegen Iran zu wehren. Ich behaupte sogar, dass auch die USA ungeachtet ihrer Macht Alliierte brauchen und dass die Europäer, obwohl einige Länder dieses Kontinents es noch nicht begriffen haben, gezwungen sind Bündnisse mit jenen einzugehen, die dieselben Werte vertreten. Deshalb poche ich so hartnäckig auf die Tatsache, dass Israel in jeder Hinsicht stark sein muss, da niemand sich mit einem schwachen Partner zusammentun will. Es ist unsere Pflicht, nicht nur wirklich stark zu sein, sondern auch das Bild von Stärke zu vermitteln.
Vor 30 Jahren erstaunte Israel die Welt, als es die Geiseln von Entebbe befreite. Ist in Ihren Augen der Kampfgeist der Armee heute mit derjenigen von damals zu vergleichen?
Ich zweifle keine Sekunde daran, dass er identisch ist. Sofort nach Ausbruch der Kampfhandlungen haben sich effektiv sehr viele Reservisten freiwillig bei ihren Stützpunkten gemeldet. Die Reserveeinheiten waren übrigens so schnell völlig überfordert, dass es zu Verwaltungs- und Versorgungsproblemen kam, die zum Glück rasch geregelt werden konnten. Leider wurden weder die Entschlossenheit, der Kampfgeist und die Moral der Truppen noch der Mut, den die Bevölkerung im Norden gezeigt hat, von den Verantwortlichen in eine entscheidende Aktion umgewandelt.
Wie hat Ihrer Ansicht nach dieser Krieg das Denken der israelischen Bevölkerung beeinflusst?
Wir sind brutal aus dem Schlaf erwacht. Wir wurden mit einer Realität konfrontiert, die wir eigentlich «loswerden» wollten, die uns aber nicht «freigegeben» hat, ganz im Gegenteil. Wir haben nun die Gelegenheit, uns auf unsere Grundwerte zu besinnen, die unsere Existenz garantieren, die Werte der realistischen Einschätzung, der Lebenskraft, des Verantwortungsgefühls und der Ethik. Wenn wir dies nicht tun, ermutigen wir unsere Feinde uns anzugreifen. Ich möchte an dieser Stelle daran erinnern, dass unser Rückzug aus dem Libanon ohne vorherige Einrichtung eines Sicherheitskonzepts der Hisbollah erlaubt hat, die heute bekannten Stützpunkte zu errichten, aber vor allem die Araber dazu ermutigte, die zweite Intifada vom Zaun zu brechen. Diese hat wiederum zum zweiten einseitigen Rückzug aus Gaza geführt, was die Entschlossenheit der Hisbollah noch verstärkte. Wir müssen diesen Kreislauf unbedingt durchbrechen. Andererseits hat der Chef der allgemeinen Nachrichtendienste Israels letzthin erklärt, dass der Hamas, wenn wir in Gaza nicht eingreifen, in weniger als zwei Jahren dort dieselbe Infrastruktur geschaffen haben wird wie die Hisbollah im Libanon. Meiner Meinung nach ist die Politik des einseitigen Rückzugs gestorben. Ihr muss unbedingt ein Riegel vorgeschoben werden, denn diese Politik der Schwäche kann mit der Zeit zu unserer Vernichtung führen. Wir haben mit unseren Nachbarn Friedensverträge unterzeichnet, doch sie beruhten alle immer auf unserer Stärke und auf Gegenseitigkeit. Es ist undenkbar, dass wir uns angesichts des Terrorismus zurückziehen, denn auf Dauer würde dies bedeuten, dass wir uns auch aus Tel Aviv und Jerusalem «zurückziehen». Die Israelis haben sehr wohl verstanden, dass bei diesem Konflikt nicht die territoriale Frage auf dem Spiel steht, sondern unsere eigentliche Existenz. Zu Beginn des Krieges hat Nasrallah übrigens erklärt, er wolle Raketen auf die «Kolonien des besetzten Palästinas, d.h. Tiberias, Safed, Akko und Haifa» abwerfen. Die Tatsachen sprechen für sich: wir haben den Libanon verlassen und die Raketenabwürfe wurden fortgesetzt; wir haben uns aus Gaza zurückgezogen und der Beschuss durch Kassamraketen verdoppelte sich. Man kann sich folglich unschwer vorstellen, wie heftig Israel angegriffen würde, wenn wir uns aus Judäa und Samaria zurückzögen.
Denken Sie, dass die Idee eines «Palästinenserstaates» ad acta gelegt wurde?
Alle Welt versteht, dass es undenkbar wäre, einen Hamas-Staat oder einen Hisbollah-Staat vor den Toren von Tel Aviv zu haben. Sollte eines Tages eine verantwortungsbewusste Führung aus der in Judäa-Samaria und Gaza lebenden arabischen Gesellschaft hervorgehen, könnte dieses Projekt wieder aufs Tapet kommen. Doch zurzeit geschieht genau das Gegenteil, und wir sind mit einem militanten islamischen Regime konfrontiert, das unsere Vernichtung propagiert. Es war schon immer offensichtlich, dass man nur dann mit seinem Nachbarn in Frieden leben kann, wenn er es wirklich will, und dass dies unmöglich ist, wenn er unsere vollständige Zerstörung wünscht. Der soeben abgeschlossene Krieg lässt zahlreiche Fragezeichen stehen und hat viele Menschen verunsichert. Doch eine positive Sache hat sich bestimmt daraus ergeben: eine klare Wahrnehmung der Realität und unserer Situation. Zugegeben, der Preis dafür ist hoch, doch Iran hat durch seine Voreiligkeit einen Fehler gemacht, denn nun haben wir Gelegenheit, uns aufzurappeln, unsere Kräfte zu sammeln und uns von den Illusionen zu befreien, die durch die Osloer Verträge und die einseitigen Rückzüge aus dem Libanon und aus Gaza entstanden sind.
|