Wenn ein Jude in Europa, insbesondere in den osteuropäischen Ländern, unterwegs ist, stehen ihm zwei Möglichkeiten offen: entweder er verdrängt die Vergangenheit völlig – oder er lässt sich von der Ungeheuerlichkeit des Horrors überwältigen, den die Juden in diesen Regionen erdulden mussten, und zwar nicht nur im Verlauf mehrerer Jahrhunderte, sondern vor nur noch 60 Jahren. Der Boden dieser Nationen ist überall mit jüdischem Blut getränkt; dieser Tatsache wird man sich umso deutlicher bewusst, wenn man einem Überlebenden begegnet und seiner Geschichte lauscht.
Leider geht die Zeit nicht spurlos vorüber, es sind immer weniger dieser Opfer noch am Leben und es wird aus diesem Grund immer wichtiger, dass ihre Zeugenberichte festgehalten und verbreitet werden.
In Belgrad haben wir JOSIP ERLIH kennen gelernt, den Belastungszeugen im Prozess gegen Dino Sakic, den letzten Kommandanten des unheilvollen Lagers von Jasenovac (siehe SHALOM Vol. 37); Josip wurde von seiner Familie getrennt und am 1. September 1942 deportiert, als er gerade eben 14 Jahre alt war. Die Geschichte dieses Jungen gleicht derjenigen von Tausenden von Kindern im selben Alter, von denen die meisten nicht überlebt haben. Was einen in den Erzählungen der Überlebenden in dieser Region besonders schockiert, ist das Ausmass der Unterstützung, das die Ustascha, die ihre Macht mit sadistischer Freude missbrauchte, von der einheimischen Bevölkerung erhielt, und die Erleichterung, welche diese Kooperation den Deutschen bei der Ausführung ihres Tuns verschaffte. Darüber hinaus wurde der Teufelskreis Einschüchterung - Erniedrigung - Enteignung - Lagereinweisung - Ermordung sehr raffiniert aufgebaut, es war praktisch unmöglich, den Häschern zu entkommen. Das von den Deutschen entwickelte Vorgehen hatte sich bewährt, und natürlich dienten die Enteignung des jüdischen Eigentums (das im heutigen Jugoslawien noch nicht zurückerstattet wurde), die Erniedrigungen und Einschüchterungen nur dazu, die Durchführung der Massenmorde am Schluss vorzubereiten.
Die Eltern von Erlih wurden in der Nacht verhaftet, sein Vater wurde sofort ins Lager von Jasenovac deportiert, wo er Ende 1941 starb. Der junge Josip fand Unterschlupf bei einer Familie Kon in einem Dorf nahe bei Koska, wo er miterlebte, wie jüdische und serbische Zivilpersonen dazu gezwungen wurden, auf den Knien liegend die Strassen zu reinigen und dabei von der Menge verspottet und bespuckt wurden, um schliesslich nach Jasenovac geschafft und in den meisten Fällen sofort nach ihrer Ankunft ermordet zu werden. Er sah auch während seiner Flucht, vor seiner eigenen Deportation in das Arbeits- und Vernichtungslager Stara Gradiska, wie das Eigentum aus den Wohnungen der Juden immer wieder geplündert und Kultusgegenstände, Sifre Torah und fromme Bücher dann auf öffentlichen Plätzen verbrannt wurden. Das Lager Stara Gadiska besass einen schrecklichen Ruf wegen der Gräueltaten, Folterungen und anschliessenden Morde, die dort geschahen. «Die meisten Menschen gingen durch das grosse Tor hinein und durch die kleine Tür hinaus, nämlich diejenige zum Friedhof», berichtet Erlih. Sobald die Häftlinge im Lager eintrafen, mussten sie ihr Gepäck abgeben, man liess ihnen bloss einige Kleidungsstücke und ein wenig Wäsche, der Rest wurde ihnen weggenommen. Familienfotos wurden systematisch zerstört. In Zellen zusammengepfercht und unterernährt, mussten sie Zwangsarbeit leisten. Täglich fanden grausame Ausschreitungen statt, und zur Veranschaulichung der sinnlosen Bosheit der Ustascha-Wärter erzählt uns Erlih die Geschichte einer Frau, der eine Ustascha- Wache ein Handzeichen gab. Als sie ihm antwortete, tötete er sie ohne mit der Wimper zu zucken durch einen Revolverschuss und ging weiter, als ob nichts geschehen wäre und ohne sich umzudrehen. An einem anderen Tag kamen ungefähr 50 Bauern im Lager an. Nach einigen Tagen wurden sie aneinandergekettet, auf ein Feld gebracht, auf dem Schiessübungen stattfanden, und vor den Augen der anderen Gefangenen ermordet, die dem Massaker beiwohnen mussten. Die Ustascha befahl anschliessend, sie alle zu vergraben… auch diejenigen, die noch Lebenszeichen von sich gaben und darum flehten, nicht lebendigen Leibes beerdigt zu werden! Neben diesen Gräueltaten, den Exekutionen durch Hängen, den Schiessereien und den Folterungen war auch das Leben an sich im Lager von Stara Gradiska entsetzlich mühselig. Es gingen Krankheiten um und zahlreiche Häftlinge starben aus Erschöpfung, da der Arbeitsrhythmus, im Schnitt über zehn Stunden pro Tag, unerträglich hart war. Die hygienischen Bedingungen waren grässlich, die Körper waren bedeckt von Läusen und Flöhen. Bei Winteranfang brach eine Typhusepidemie aus, doch um zu vermeiden, dass das Lager «aufgelöst» wurde, was zur Ermordung sämtlicher Insassen geführt hätte, erklärten die Ärzte, es handle sich um eine besondere Krankheit, die «Gradiska-Grippe». Josip Erlih war ebenfalls von der Epidemie erfasst worden. Er begab sich also ins Spital des Lagers, das aus einigen winzigen, überfüllten Räumen bestand, in denen die Kränksten gepflegt wurden. Um Platz zu gewinnen, führten die Wächter regelmässig «Transporte» durch, d.h. sie schafften eine Reihe von Patienten weg und brachten sie um. Josip hatte von dieser Methode gehört und bat seinen Wächter «Cici» darum, ihn zu warnen und ihn wegzubringen, bevor eine derartige Aktion stattfände, was dieser «gute Kerl» auch tat, ungeachtet des schlechten Gesundheitszustands des jungen Mannes. Dank seiner jugendlichen Lebenskraft wurde er langsam wieder gesund. Doch die Gefangenen wurden so konditioniert, dass sie durch die physische und moralische Erschöpfung, die schlechte Behandlung (sie wurden oft geschlagen), die Beleidigungen, die kollektiven Strafen und den Hunger völlig apathisch wurden und sich dem Willen ihrer Folterknechte bedingungslos unterwarfen.
Im Frühjahr 1943, drei Monate vor seinem 16. Geburtstag, sollte Josip Erlih nach Jasenovac geschafft werden, unter dem Vorwand, er sei noch kräftig genug für die Heuernte. Dazu muss man wissen, dass das Lager von Jasenovac das grösste und grausamste von allen war. Die Juden wurden in fast ritueller Art am Ufer der Sava ermordet, in Bunker eingesperrt, bis sie Hungers starben, oder in aller Öffentlichkeit mit der blanken Waffe zu Tode gefoltert. Die Kinder hingegen wurden ohne grosse Umstände erwürgt oder in einen Raum gesperrt, wo sie an Giftgas erstickten. Gemäss den vorhandenen Dokumenten sind in Jasenovac ca. 800'000 Häftlinge ermordet worden, unter ihnen rund 20'000 Juden. Die Opfer waren Juden, Serben, Zigeuner oder fortschrittlich gesinnte Kroaten. Die Geschichte des von der Ustascha verübten Völkermords ist sehr umfangreich und komplex und kann nicht auf wenige Zeilen in einem Artikel gekürzt werden.
Nach seiner Ankunft wurde Josip Erlih der Ziegelfabrik zugeteilt, wo die Arbeit nicht nur extrem anstrengend war, sondern wo auch ein sehr hohes tägliches Produktionssoll verlangt wurde. Wenn jemand diese Anforderungen nicht erfüllen konnte, wurde er oft erschossen oder erhängt, oft geschah dies aber auch grundlos und nur zum Vergnügen der Ustascha-Angehörigen. «Im Nachhinein glaube ich, dass das Schlimmste die Tatsache war, das wir gegenüber Ermordungen oder den Schrecken, die sich vor unseren Augen abspielten, fast gleichgültig geworden waren», sagt Josip Erlih. In Jasenovac traf der junge Josip zufällig auf seinen Onkel aus Zagreb, Marko Polak. Von ihm erfuhr er, wie seine Eltern gestorben waren: sein Vater nach schrecklichen Qualen Ende 1941, seine Mutter wiederum war sofort nach ihrem Eintreffen im Lager Anfang 1942 ermordet worden, zur gleichen Zeit wie einige seiner Cousinen, die sich im selben Transport befanden.
Im Herbst 1943, als sich mit fortschreitendem Krieg die Niederlage der Deutschen und Italiener immer deutlicher abzeichnete, begann die Ustascha damit, die Lager systematisch zu leeren, in erster Linie indem sie die Häftlinge umbrachten. Als erste kamen diejenigen dran, die in der Ziegelfabrik arbeiteten. Josip Erlih hatte davon Wind bekommen und seinen Vorgesetzten, einen gewissen Viner, gebeten, ihn in die Werkstatt zu versetzen, wo Ketten hergestellt wurden. Er kam in die Blechverarbeitung. Doch der Horror des Lagerlebens beschränkte sich nicht auf die Ermordungen und die Ausschreitungen der Wärter. Die Leute von der Ustascha drangen oft nachts in die Baracken ein, um sich Gefangene auszusuchen, auf die sie brutal einprügelten, oft bis zu deren Tod. Ihre Leidensgefährten sammelten sie hinterher auf, versuchten sie zu pflegen oder ihnen das Leben zu retten, was oft aussichtslos war.
Zu Beginn des Jahres 1944 wurde Sakic zum Leiter des Lagers von Jasenovac ernannt, seiner Frau, die noch grausamer war als er, wurde die Direktion des Lagers von Stara Gradiska übertragen. Die beiden legten einen Sadismus und eine schreckliche Bosheit an den Tag, vor allem nachdem die Flugzeuge der Alliierten das Lager zu überfliegen begannen. Von Zeit zu Zeit warfen diese kleinere Bomben ab, und wenn Gefangene bei den Explosionen ums Leben kamen, sagte die Ustascha: «Eure Kameraden wurden von den Partisanen getötet». Gleichzeitig trafen Transporte mit serbischen und jüdischen Häftlingen aus allen Regionen des unabhängigen Kroatien im Lager von Jasenovac ein, und nach einem bestimmten Zeitpunkt wurden auch einige jüdische Überlebende aus dem Lager von Stara Gradiska, das aufgelöst worden war, nach Janesovac verlegt. Da die Ustascha sich vor den Partisanen fürchtete, die immer mehr Macht und vor allem die Kontrolle über die Strassen erlangten, wurden die Gefangenen zu Fuss den Fluss Sava entlang getrieben. Diejenigen, die nicht mehr rennen konnten, wurden umgebracht und in den Fluss geworfen. In dieser Zeit schmachteten im Lager selbst eine Reihe von kroatischen Verbrechern und eingekerkerten Ustascha-Angehörigen. Sie wollten ihr Leben retten und verrieten jeden Tag einige serbische oder jüdische Insassen, indem sie behaupteten, sie würden ihre Flucht vorbereiten. Die auf diese Weise angeblich Verratenen wurden noch am selben Tag getötet.
Da sie das Ende nahen fühlte, hatte die Ustascha beschlossen, einerseits keinen ihrer Gefangenen überleben zu lassen, und andererseits die Spuren ihrer Verbrechen zu verwischen. Die Lebensbedingungen im Lager wurden dadurch immer brutaler, täglich wurden Männer auf das gegenüber liegende Ufer der Sava gebracht und dort lebend in mehrere Dutzend Meter tiefe Schächte gestossen. Im April 1945, als die Kämpfe sich immer mehr dem Lager näherten, fassten die Verantwortlichen den Beschluss, die Eisenbahnschienen, die nahe an Jasenovac vorbei führten, abzureissen. Sie transportierten die Schienen ab und legten sie neben dem Fluss gitterförmig über einen riesigen Graben, den sie mit Öl und Holz füllten. Anschliessend gaben sie bekannt, ein Teil der Gefangenen, nämlich 700 Frauen und Kinder, würde nach Sisak gebracht, sie sollten sich auf die Abreise vorbereiten und den Fluss überqueren. Als sie auf der Höhe des besagten Grabens anlangten, setzte die Ustascha seinen Inhalt in Brand und stürzte einen grossen Teil der Unglücklichen hinab. «Wir standen auf den Dächern und sahen, was passierte. Da wir unbequeme Zeugen waren, sollten wir in einem zweiten Durchgang ebenfalls vernichtet werden. Das war zuviel. Wir beschlossen zu fliehen». Diese Flucht war kein einfaches Unterfangen, doch mit Hilfe einiger Freunde gelang sie Josip Erlih, der es nach zahlreichen Irrwegen und Gefahren, trotz Hunger und Durst schaffte, sich zu den Partisanen zu gesellen.
Man kann nicht von der Tragödie der jüdischen Gemeinschaften in Jugoslawien sprechen, ohne die Tatsache zu erwähnen, dass die Juden dieses Landes beschlossen hatten, nicht untätig zu bleiben. Trotz der antisemitischen Gesetze und aller damit verbundenen Einschränkungen ihrer Bewegungsfreiheit griffen viele von ihnen zu den Waffen und kämpften gegen die Verbrechen der Besatzer und ihrer einheimischen Komplizen, um den Befreiungskrieg zum Sieg zu verhelfen. Josip Erlih schloss sich den Partisanen an, machte danach Karriere in der Berufsarmee und wurde letztendlich mit dem Rang eines Obersts pensioniert.
Als wir uns von Josip Erlih verabschiedeten, sagte er uns mit Tränen in den Augen: «Das, was wir während unserer Inhaftierung in Stara Gradiska und Jasenovac erlebt haben, wird man nie genau nacherzählen können. Mein Bericht erwähnt nur einen Bruchteil der unvorstellbaren Verbrechen, die dort begangen wurden. Ich weiss nicht, ob ich alle meine Leiden mit Glück oder aus Zufall überlebt habe, doch ich weiss, dass ich nur überlebt habe, um heute durch meine Erzählung dafür zu sorgen, dass so etwas nie wieder passiert. Ich war fünf Stunden lang als Zeuge am Prozess von Sakic. Meiner Ansicht nach können die Verbrechen, die er sich hat zuschulden kommen lassen, nie ausreichend bestraft werden. Ich bin schockiert über die Tatsache, dass seine Frau, die noch schlimmer wütete als er und zahlreiche Gefangene umbrachte, von den kroatischen Gerichten freigesprochen wurde. Sie reist unbehelligt zwischen Argentinien und Kroatien hin und her. Ich habe aber meinen Zeugenbericht ohne Feindseligkeit und nur zu dem Zweck abgegeben, dass meine Geschichte und diejenige meiner Leidensgenossen nie in Vergessenheit gerät.»
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