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Inhaltsangabe Staatenbund Serbien und Montenegro Frühling 2003 - Pessach 5763

Editorial - April 2003
    • Editorial [pdf]

Pessach 5763
    • Identität und Dasein

Politik
    • Und dann?

Interview
    • Eine riesige Herausforderung

Wissenschaftliche Forschung
    • Vorzüglichkeit und Tradition
    • Das Geheimnis des Ribosoms

Judäa - Samaria - Gaza
    • Migron [pdf]

Shalom Tsedaka
    • Nichts ist mehr wert als ein Leben! [pdf]

Analyse
    • Politische Scheidung [pdf]
    • Machtlosigkeit oder Gleichgültigkeit?

Önologie
    • Le Chayim!

Reportage
    • Willenskraft – Ausdauer – Erfolg [pdf]

Polen
    • Versuch einer Wiedergutmachung
    • Erinnerung und Hoffnung [pdf]

Staatenbund Serbien und Montenegro
    • Jerusalem und Beograd
    • Savez jevrejskih opstina jugoslavije
    • Vier Todesfälle... und eine Hochzeit!
    • Serbien: Gestern - Heute - Morgen? [pdf]
    • Quo Vadis Serbia?
    • Jevrejski Istorijski Muzej [pdf]
    • Die Schoah in Serbien
    • Josip Erlih [pdf]

Ethik und Judentum
    • Haftpflicht der Kinder

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Vier Todesfälle... und eine Hochzeit!

Von Roland S. Süssmann
Das jüdische Leben in Jugoslawien steht in gewissem Sinne am Scheideweg in seiner Geschichte irgendwo zwischen einer bewegten jüngeren Vergangenheit, einer insgesamt eher laizistischen Tradition und einem zaghaften religiösen Neubeginn. Zu diesen Themen wollten wir ISAAK ASSIEL befragen, den Oberrabbiner von Jugoslawien und Mazedonien. Rabbi Assiel wurde in Belgrad geboren und ist daher sehr gut mit der hiesigen Mentalität vertraut; später erhielt er während sieben Jahren an der Jeschiwah Alon Schwut in Gusch Etzion in Israel eine fundierte Ausbildung zum Rabbiner. 1995 trat er sein Amt als Stellvertreter des Grossrabbiners Tsadik Danon an und als dieser 1997 in Pension ging, wurde Rabbi Assiel zum Grossrabbiner ernannt. Er trat diese Funktion in einer Zeit an, als die Lage des Landes besonders schwierig war. Es herrschte ein verheerender Krieg, und da machte es sich Rabbi Assiel zur Aufgabe, alle Gemeinden in Bosnien, im Kosovo sowie in anderen, nur wenige Kilometer von der Front entfernten Regionen aufzusuchen, die mit Schwierigkeiten zu kämpfen hatten. An einigen Schabbat-Feiern, die des öfteren ohne Wasser- und Stromversorgung stattfinden mussten, brachte seine Anwesenheit den vom Leid geplagten Gemeinschaften wenigstens etwas Trost.

Sie werden uns gleich über das religiöse Leben im Jugoslawien von heute berichten. Könnten Sie uns zuvor in wenigen Worten erzählen, wie dieses während des Balkankriegs aussah?

Merkwürdigerweise muss ich zugeben, dass die Situation mir in gewissem Sinne einen guten Dienst erwiesen hat. Zahlreiche Menschen strebten nämlich in ihrer Verwirrung danach, die Nähe ihrer Leidensgenossen zu suchen, mit denen sie eine Gemeinsamkeit verband. Sie erinnerten sich daran, dass sie Juden waren, und meldeten sich deshalb bei der Gemeinde und in der Synagoge. Während des Kriegs, d.h. von 1995 bis zu Beginn der Bombenangriffe durch die NATO im März 1999, erlebten wir eine sehr intensive und aktive Phase. In dieser Zeit habe ich 1300 Kurse über das Judentum gegeben, d.h. fast 330 pro Jahr. Der Graben, der zwischen unseren ungläubigen Mitgliedern und der eigentlichen Religion klaffte, war in jenen Tagen sozusagen verschwunden. Die Menschen stellten sich viele Fragen über G'tt, über das Leben, über das Gebet, und besassen nur eine einzige Quelle für die Antwort: das Judentum. Die Gemeinschaft bildete eine geschlossenere Einheit als heute, für unzählige Juden war sie der einzige Ort, an dem sie ihre Ängste und Sorgen mit jemandem teilen konnten. Uns umgab daher eine ganz besondere Atmosphäre der Zusammengehörigkeit.
Ich persönlich habe eine ganz spezielle Erfahrung gemacht, da ich irrtümlicherweise in die jugoslawische Armee einberufen wurde. Nach mehreren Interventionen durch das Rabbinat in Israel und sogar durch den Patriarchen der orthodoxen Kirche Jugoslawiens erhielt ich immerhin einen 11-tägigen Urlaub für Pessach. Als ich in der Synagoge ankam, war ich ungemein gerührt und überrascht zu sehen, dass sie bis auf den letzten Platz besetzt war. Dies war umso bewegender, als die Bombardierungen durch die NATO bereits begonnen hatten; trotzdem hatten die Gläubigen darauf bestanden zur Synagoge zu kommen. Während der gesamten Periode der Bombenangriffe hielten wir an jedem Schabbat einen Gottesdienst ab, obwohl es infolge der Angriffe nicht selten vorkam, dass der Strom ausfiel und wir im Dunkeln beten mussten. Leider musste ich während des Kriegs viele Glaubensbrüder zu Grabe tragen, vor allem in Novi Sad. Zu Beginn war ich, wie Sie sich denken können, nicht besonders glücklich über diese Einberufung. Es zeigte sich aber, dass die Tatsache, eine Uniform und gleichzeitig eine Kippa zu tragen, sich durchaus positiv auswirkte. Man muss sich klar machen, dass die Serben im Allgemeinen nicht judenfeindlich sind. Während den NATO-Bombardierungen beeilten sich aber die serbischen Nationalisten, im Fernsehen zu verkünden, dass amerikanische Spitzenpolitiker wie Madeleine Albright oder der damalige Verteidigungssekretär William Kohen ein jüdisches Komplott gegen das serbische Volk ausgeheckt hätten. Da haben der serbische Patriarch, der Mufti, der Bischof der römisch-katholischen Kirche und ich selbst einen Aufruf zum Frieden unterzeichnet. Die gemeinsame Unterzeichnung dieser Erklärung wurde im nationalen Fernsehen und auf CNN übertragen. Die Tatsache, dass ich in der Uniform der jugoslawischen Armee erschien, liess augenblicklich sämtliche Theorien bezüglich eines "antiserbischen Komplotts der Juden" gegenstandslos werden: sie wurden im Zusammenhang mit den Bombenangriffen nie wieder erwähnt. Ich hatte den Beweis erbracht, dass die Juden Patrioten sind, und es hat sich niemand mehr gegen unsere Gemeinschaft erhoben, jedenfalls nicht offiziell und in aller Öffentlichkeit. Bei dieser Gelegenheit möchte ich erwähnen, dass sich Milosevic jederzeit sehr korrekt uns gegenüber verhalten hat. Ich muss auch die Tatsache betonen, dass viele der Juden, die wir aus Bosnien einreisen liessen, um sie aus dem Kriegsgebiet fortzubringen, keinen Pass besassen. Dennoch gab ihnen die Polizei von Milosevic anstandslos die erforderlichen Niederlassungsbewilligungen. Ich würde auch gern daran erinnern, dass sich meine Frau, eine Amerikanerin, während dieser ganzen Zeit in Belgrad aufhielt und dort nie mit Feindseligkeiten bedacht wurde, obwohl jeder über ihre Nationalität im Bilde war. Ich kann Ihnen versichern, dass es in Kriegszeiten sehr viel schwieriger ist ein Rabbiner zu sein als in Friedenszeiten: jedes Wort wird auf die Goldwaage gelegt und kann gegen die jüdische Gemeinschaft verwendet werden.

Wie beurteilen Sie das heutige jüdische Leben in Jugoslawien und Mazedonien?

Lassen Sie mich mit Mazedonien anfangen, wo nur noch 200 Juden leben. Ich verbringe im Schnitt einen Schabbat pro Monat in dieser Region und versuche den Frommen ein Mindestmass an jüdischem Leben zu vermitteln und ihnen eine Stütze zu sein. In Skopje gibt es immer noch eine Synagoge. Die Juden, die heute in Belgrad wohnen, sind in der Regel recht betagt, ich würde gar sagen, dass die Rentner über 70% unserer Gemeinde ausmachen. Ein grosser Teil unserer tatkräftigen Jugend ist ausgereist, die meisten leben in Israel. Ich verbringe viel Zeit damit, religiöse Bücher herauszugeben und zu übersetzen, um sie möglichst vielen Menschen zugänglich zu machen. Es handelt sich nicht nur um Gebetsbücher, sondern um Werke über die jüdische Lebensart, ihren philosophischen Hintergrund usw. Fast alle Kurse, die ich gebe, finden am Schabbat statt. Mein Team, dazu gehören der Vorsänger und der Schamasch (Küster), sind junge Leute, die ich ausgebildet habe. Seit ich im Amt bin, habe ich eine eindrückliche Zahl von Beerdigungen zelebriert und leider nur drei oder vier Eheschliessungen und zwei oder drei Bar-Mizwoth gefeiert.

Welche Beziehungen unterhalten Sie zum Mufti und zur Kirche?

Sie sind überraschenderweise ausgezeichnet. Anlässlich des Besuchs von Kofi Annan in Belgrad wurden wir gemeinsam vom Uno-Generalsekretär empfangen, der über unser gutes Einvernehmen ausserordentlich erstaunt war. Angesichts seiner Überraschung sagte ich zu ihm: "Dies gehört schon zur lokalen Tradition". Ich denke, dass uns im Grunde der Krieg zusammengebracht hat. Wir sind übrigens dabei, ein ökumenisches Konzert zu organisieren, an dem traditionelle christliche, islamische und jüdische Lieder auf dem Programm stehen. Unsere Vertrautheit mag in einem Land wie dem unsrigen merkwürdig erscheinen, doch wir setzen alles daran, damit die Kontakte zwischen den Gemeinschaften in einer möglichst positiven Atmosphäre stattfinden können.
Interessanterweise kann man feststellen, dass die geistlichen Führer seit dem Ende des Kriegs immer öfter Aufgaben im diplomatischen Bereich erfüllen sollen, und zwar sowohl auf nationaler als auch auf internationaler Ebene. Ich weiss nicht, ob wir uns dabei wirklich nützlich machen können, doch wir erhalten die Möglichkeit, unser Image zu verstärken und unsere Beziehungen zur politischen Klasse des Landes zu verbessern.

Wie sehen Sie die Zukunft Ihrer Gemeinschaft?

Die Situation hier ist ziemlich unberechenbar. Wir haben zwar während des Kriegs eine gewisse Wiederbelebung unserer Tätigkeit und gar der Frömmigkeit beobachtet, doch nach Beendigung der Feindseligkeiten hat sich die Entwicklung wieder verlangsamt. Vor den Bombenangriffen hatte ich ein richtiger Talmud Torah eingerichtet, der ganz gut lief. Doch aufgrund der massiven Ausreise der jüdischen Jugend zur Zeit der Bombardierungen, existiert mein Talmud Torah heute nicht mehr und ich habe ihn nicht zu neuem Leben erwecken können. Was die Zukunft angeht, hoffe ich, bald einen jüdischen Kindergarten eröffnen zu können. Ich glaube, dass unsere grundlegenden Bedürfnisse gegenwärtig im Bereich der Gemeinde-Infrastrukturen liegen; ich tue mein Möglichstes, um den Mitgliedern Aktivitäten in einem angenehmen Rahmen anzubieten. Daher bemühe ich mich um die Einrichtung eines Mehrzweckraumes mit zwei echten koscheren Küchen (milchig und fleischig) unter der Synagoge, denn ich bin überzeugt, dass sich die Gläubigen dank der Schaffung einer gemütlichen Begegnungsstätte wieder der Gemeinde annähern werden. Dies wird es mir ermöglichen, mit der Zeit eine Reihe von Programmen im Zusammenhang mit dem Schabbat, den Feiertagen und der jüdischen Erziehung einzuführen. Da ich auch "Schochet" (ritueller Schächter) bin, verfügen wir über koscheres Fleisch, so dass alle Veranstaltungen der Gemeinde koscher sind. Rund 15 Familien ernähren sich ausschliesslich auf diese Weise. Die Gottesdienste werden je nach Jahreszeit unterschiedlich besucht. Im Sommer begrüssen wir zwischen 50-100 Menschen, im Winter sind es nur 10-20. Dies ist darauf zurückzuführen, dass die Leute bei grosser Kälte nur ungern ihre Wohnung verlassen und dass es in der Synagoge nicht sehr warm ist... wenn sie überhaupt geheizt wird! Die Zukunft ist also, wie überall, ungewiss, doch ich unternehme alles, damit die Juden in Jugoslawien ein religiöses Leben führen können, das an die Bedürfnisse und Umstände unseres Landes angepasst ist.
DIE JÜDISCHE JUGEND
"Bei den Blinden ist der Einäugige König". Diese alte Redewendung trifft besonders gut auf die Verantwortlichen der jüdischen Jugend in Jugoslawien zu. Die gesamte jüdische Erziehung liegt nämlich in den Händen einiger Betreuer, die zwar motiviert sind, jedoch nur über ein beschränktes jüdisches Wissen verfügen. Daran sind sie natürlich nicht selbst schuld, da sie nie eine korrekte Ausbildung erhalten haben. Sie nehmen ab und zu an Seminaren in Ungarn oder Israel teil, so dass sie gewisse, wenn auch eindeutig unzureichende Grundlagen besitzen. Wegen des Kriegs und vor allem wegen der Tatsache, dass die jüdische Gemeinschaft sich in erster Linie als "laizistisch" empfindet, gibt es in Jugoslawien keine einzige jüdische Schule, keinen Kindergarten und auch kein Talmud Torah. Die jüdische Erziehung erfolgt ausschliesslich im Rahmen von "Klubs", die den Altersgruppen von 6 bis 26 Jahren entsprechen. Bei diesen im Grossen und Ganzen spielerischen Aktivitäten befasst man sich mit Themen wie insbesondere mit der Bedeutung der jüdischen Feiertage, ein wenig Geschichte, dem Antisemitismus und den Möglichkeiten, ihn zu bekämpfen und seine jüdische Identität in einer nicht jüdischen Gesellschaft auszuleben, ohne sich wie ein "Sonderfall" zu fühlen. Interessanterweise sind den Verantwortlichen der Jugendarbeit Fragen im Zusammenhang mit der Schoah völlig gleichgültig. Dieses Phänomen ist vielleicht auf eine Art Trauma infolge des Balkankriegs zurückzuführen, den sie in ihrer Jugend erlebt haben.
Anlässlich unserer Gespräche mit einigen Jugendbetreuern und Studenten, unter ihnen Dunja Pasajlic und Dimitrije Gaon, haben uns diese verraten, dass sie ein grosses Bedürfnis empfinden, den Kontakt mit anderen jungen Juden in ganz Europa zu pflegen und als vollwertige Mitglieder in die grossen Familie der jüdischen Studenten aufgenommen zu werden. Sie versuchen nicht nur neue Bekanntschaften zu machen und Informationen auszutauschen, sie möchten auch einen Lebenspartner finden, denn die Zahl der möglichen jüdischen Anwärter in Jugoslawien ist beschränkt. Alle jungen Leute fühlen sich von Israel angezogen, insbesondere auf der Ebene der intellektuellen Neugier.
Die jüdische Jugend steht, wie die gesamte jüdische Gesellschaft von Jugoslawien, am Scheideweg. Es liegt eine verwirrende Zeit hinter ihr, sie sucht ihre Identität und wird mit der entsprechenden Unterstützung der jüdischen Organisationen, die sich rühmen, die jüdische Erziehung fördern zu wollen, einen Weg finden können, welcher der jüdischen Gemeinschaft in Jugoslawien morgen das Überleben sichern wird. Diese Gemeinschaft hat das Glück, einen jungen, aus diesem Land stammenden Rabbiner zu besitzen, der über eine bemerkenswert fundierte Ausbildung verfügt, der dynamisch und unternehmungsfreudig ist und dessen Anwesenheit und Tätigkeit eine Quelle der Hoffnung für die Zukunft darstellen.

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