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Inhaltsangabe Staatenbund Serbien und Montenegro Frühling 2003 - Pessach 5763

Editorial - April 2003
    • Editorial [pdf]

Pessach 5763
    • Identität und Dasein

Politik
    • Und dann?

Interview
    • Eine riesige Herausforderung

Wissenschaftliche Forschung
    • Vorzüglichkeit und Tradition
    • Das Geheimnis des Ribosoms

Judäa - Samaria - Gaza
    • Migron [pdf]

Shalom Tsedaka
    • Nichts ist mehr wert als ein Leben! [pdf]

Analyse
    • Politische Scheidung [pdf]
    • Machtlosigkeit oder Gleichgültigkeit?

Önologie
    • Le Chayim!

Reportage
    • Willenskraft – Ausdauer – Erfolg [pdf]

Polen
    • Versuch einer Wiedergutmachung
    • Erinnerung und Hoffnung [pdf]

Staatenbund Serbien und Montenegro
    • Jerusalem und Beograd
    • Savez jevrejskih opstina jugoslavije
    • Vier Todesfälle... und eine Hochzeit!
    • Serbien: Gestern - Heute - Morgen? [pdf]
    • Quo Vadis Serbia?
    • Jevrejski Istorijski Muzej [pdf]
    • Die Schoah in Serbien
    • Josip Erlih [pdf]

Ethik und Judentum
    • Haftpflicht der Kinder

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Die Schoah in Serbien

Von Dr. Efraim Zuroff *
Nirgendwo sonst in Europa hat die Beziehung zwischen Geografie und Politik während der Schoah eine so entscheidende Bedeutung für die jüdischen Gemeinschaften besessen wie in den Balkanstaaten. Die meisten west- und nordeuropäischen Länder haben - mit Ausnahme Frankreichs - unter der Besetzung durch die Nazis im Verlauf des Kriegs keine territoriale Veränderung hinnehmen müssen; in gewisser Hinsicht trifft dies auch auf Osteuropa zu. Hingegen hat praktisch jede Nation im Balkan bedeutende Veränderungen in Bezug auf ihre Grenzen hinnehmen müssen, einschliesslich von Massnahmen wie der Abtretung von Gebieten an andere Länder und der Annektierung neuer Territorien, die sich verheerend auf die ansässigen jüdischen Gemeinschaften auswirkten.
Jugoslawien dient sicher als das dramatischste Beispiel: während der Schoah wurden die hier lebenden jüdischen Gemeinden auseinander gerissen und auf fünf verschiedene Länder oder Besatzungszonen unter fünf unterschiedlichen Verwaltungen verteilt. Das Schicksal der serbischen Juden, die einen wichtigen Teil des jugoslawischen Judentums ausmachten, lässt sich wie folgt zusammenfassen. Vor der Schoah lebten fast 80'000 Juden in Jugoslawien, darunter ca. 60% Aschkenasim und 40% Sepharden.
Am 6. April 1941 griff Nazi-Deutschland mit ihren italienischen, ungarischen und bulgarischen Verbündeten Jugoslawien an und teilte das Land in fünf Besatzungszonen. Serbien und die Region Banat blieben unter deutscher Militärbesatzung; Kroatien, Bosnien und Srem wurden der Ustascha ausgeliefert, die kroatischen Faschistenbewegung schuf den unabhängigen Staat Kroatien (NDH), während ein grosser Teil der dalmatinischen Küste, die adriatischen Inseln und ein Teil von Kosovo unter militärischer Okkupation der Italiener verblieben; Mazedonien kam zu Bulgarien, Backa wurde von Ungarn annektiert. Von diesem Moment an schlugen die Schicksale der verschiedenen jüdischen Gemeinschaften im ehemaligen Jugoslawien andere Wege ein, jede von ihnen wurde mit anderen geopolitischen Bedingungen konfrontiert. Die Tragödie der Juden in Serbien gehört in der Schoah zu den brutalsten und gnadenlosesten überhaupt.
Nach der Besetzung Serbiens führten die Deutschen eine Militäradministration ein: die gesamte Region wurde unter den Befehl von Feldmarschall Wilhelm List gestellt, Befehlshaber der deutschen Streitkräfte im Südosten. Zur Regelung nichtmilitärischer Fragen wurde eine Zivilverwaltung unter der Leitung von Gruppenführer Harald Turner geschaffen. Die Polizei wurde der Rechtsprechung einer speziellen Einsatzgruppe der Sicherheitspolizei und der SD unterstellt, die hauptsächlich aus Angestellten des Reichssicherheitshauptamtes bestand (RSHA), unter dem Befehl von Standardführer Wilhelm Fuchs, der früher als Adjutant von Heinrich Himmler diente. Diese Einheit fungierte als Sicherheitspolizei für das gesamte Serbien und besass deshalb ausgedehnte juristische und anderweitige Befugnisse betreffend das serbische Judentum. Es war nämlich eine besondere Sektion für jüdische Angelegenheiten ins Leben gerufen worden, die Teil der Division 4 (Gestapo) war und von Untersturmführer Stracke befehligt wurde.
Neben der Militäradministration hatten die Deutschen eine Regierung Quisling eingeführt, der General Milan Nedic vorstand, die später den serbischen Widerstand brutal unterdrücken und die antijüdischen Massnahmen rigoros durchsetzen sollte. Die Schergen des Generals nahmen an den Judenpogromen in ganz Serbien teil, sie dienten als Wächter in den Lagern der Nazis, erfüllten aber auch diverse andere Funktionen. Die lokale Polizei von Belgrad beteiligte sich zusammen mit ihrem Chef Dragomir Jovanovic und vor allem der "Sonderpolizei" übrigens auch äusserst aktiv an den Ausschreitungen der Nazis gegenüber den Juden.
Drei Tage nach ihrem Einmarsch in Belgrad befahlen die Nazis allen Juden, sich am 19. April beim Hauptquartier der Feuerwehr in Belgrad zur Immatrikulation zu melden. Fast 8'500 Menschen leisteten dieser Aufforderung Folge, sie alle erhielten gelbe Armbinden mit der Aufschrift "Jude" in serbischer und in deutscher Sprache. (Vor dem Zweiten Weltkrieg waren in Belgrad knapp 11'500 Juden in der jüdischen Gemeinschaft registriert.) Doch diese Massnahme war erst das Vorspiel zur Veröffentlichung am 30. Mai 1941 der Dekrete, in denen der Begriff "Jude" definiert und sozusagen jeder Aspekt des jüdischen Lebens festgelegt wurde.
Gemäss den Nazis galt jeder Mensch als Jude, der drei jüdische Grosseltern besass, oder aber ein oder zwei jüdische Grosseltern hatte und am 5. April 1941 Mitglied einer jüdischen Gemeinde und/oder mit einem Juden verheiratet war. Die Dekrete vom 30. Mai 1941 zwangen alle Juden zwischen 14 und 60 neben anderen Restriktionen dazu, Zwangsarbeit auszuführen, wobei die Tätigkeit der jüdischen Berufsleute sehr streng eingeschränkt wurde; ausserdem verbot man den Juden den Zugang zu den meisten öffentlichen Orten und erlegte ihnen ein spezielles Ausgehverbot zwischen 8 Uhr abends und 6 Uhr morgens auf.
Vor der Veröffentlichung der Dekrete vom 30. Mai waren die Juden bereits verpflichtet, ab 6 Uhr morgens bis 5 Uhr nachmittags extrem schwere und oft auch gefährliche Arbeiten auszuführen, die natürlich nicht bezahlt wurde. Die Ausbeutung der jüdischen Arbeitskraft ging einher mit der Beschlagnahmung möglichst vieler jüdischer Besitztümer durch die Nazis. Hunderte von jüdischen Geschäften wurden geplündert, Wohnungen zwangsgepfändet, ganz zu schweigen vom Diebstahl kultureller Schätze der Juden durch das Sonderkommando Rosenberg.
Als am 7. Juli 1941 ein bewaffneter serbischer Aufstand ausbrach, machten sich dies die Nazis zu Nutze, um in Serbien die Endlösung einzuführen, und zwar unter dem Deckmantel einer Aktion, mit der man die Gewalt gegen die Deutschen unterbinden wollte. Gleichzeitig zu diesem Vorgehen fand auch eine antisemitische Kampagne statt, die in einer Ausstellung über die Freimaurer (d.h. die Juden) in Belgrad gipfelte und von fast hunderttausend Menschen besucht wurde.
In Wirklichkeit begannen die gross angelegten Razzien gegen jüdische Männer in Serbien Ende August 1941; innerhalb von zwei Monaten wurden über 3000 jüdische Männer aus Belgrad nach Topovske-Supa geschickt, wo sie unter der Aufsicht von lokalen Volksdeutschen zu Zwangsarbeit verpflichtet wurden. (Vor ihnen hatten 1000 Juden aus dem Banat dasselbe Schicksal erlitten.) Im September 1941 fingen die Deutschen an, einige Insassen des Lagers umzubringen; im Oktober ging man zu massenhaften Erschiessungen über und gegen Ende November lebten nur noch 300 Juden im Lager. Man schickte sie los, um das Lager in Sajmiste (Zemlin) vorzubereiten, das auf einem Messegelände in einem Vorort von Belgrad auf dem Gebiet des unabhängigen Staates Kroatien errichtet wurde; dieses Lager war für die noch übrig bleibenden jüdischen Frauen und Kinder in Serbien bestimmt.
Mitte Dezember 1941 schaffte man alle jüdischen Frauen und Kinder, die noch in Belgrad lebten nach Sajmiste, wo kurze Zeit später auch die jüdischen Frauen und Kinder aus Sabac (19. Januar 1942), aus Nis (Ende Februar 1942), und dann aus Kosovska-Mitrovica, Novi-Pazar und Pristina (Mitte März 1942) eintrafen. Die Lebensbedingungen im Lager waren entsetzlich, die tägliche Brotration betrug gerade mal 200 Gramm pro Insasse.
Am 17. und 19. Februar 1942 wurden die jüdischen Männer von Nis erschossen; sie waren die letzten jüdischen Männer aus Serbien, alle anderen waren bereits ermordet worden, ebenfalls durch Erschiessen. Die einzigen überlebenden Juden waren, mit Ausnahme einiger Männer, denen es gelang sich zu verstecken, was fast unmöglich war, die in Sajmiste gefangen gehaltenen Frauen und Kinder. Mitte März 1942 begannen die Nazis sie in speziell hergerichteten, aus Deutschland stammenden Lastwagen umzubringen; diese Vernichtungsgefährte wurden ausserhalb von Osteuropa nur hier eingesetzt. Am 10. Mai 1942 wurden alle Insassen von Sajmiste (insgesamt zwischen 7000 und 8000 Juden) getötet, darunter auch die Kranken und die Pfleger im jüdischen Spital sowie ihre Familien. Turner konnte folglich bestätigen, Serbien sei das einzige Land, in dem die Judenfrage endgültig gelöst worden sei.
Dieser Bericht hat nun die Reaktion des serbischen Judentums ganz ausser Acht gelassen, weil die Mitglieder der Gemeinschaft fast keine Möglichkeit besassen, sich in Sicherheit zu bringen. Fast 90% der Juden in Serbien wurden ermordet, der ganze Prozess erfolgte innerhalb von dreizehn Monaten - von Anfang April 1941 bis Mitte Mai 1942. Die Verantwortlichen versuchten wohl, um die Leiden der Mitglieder der Gemeinschaft zu lindern, doch das Zusammenspiel verschiedener Faktoren besiegelte rasch das Schicksal der jüdischen Serben: die Härte des deutschen Durchgreifens in Serbien, die recht frühe Durchsetzung der Endlösung und die Schnelligkeit der Ausführung, und schliesslich das Fehlen irgendeines Zufluchtsortes, an den sie sich hätten zurückziehen oder wo sie sich hätten verstecken können; ausserdem kam von der einheimischen Bevölkerung kaum Unterstützung.
Die beste Aussicht auf Rettung während des Zweiten Weltkriegs bot sich den serbischen Juden eigentlich in der Flucht in die italienische Zone; diese Lösung war allerdings nur in den ersten drei Monaten der deutschen Besatzung möglich. Zu diesem Zeitpunkt konnte aber noch niemand das Ende des serbischen Judentums voraussehen. Überlebt haben letztendlich nur eine Handvoll Juden, die einen, weil sie sich in ihrer Gemeinde oder anderswo verstecken konnten, die anderen, weil sie sich zu den Partisanen von Tito gesellten. Man geht davon aus, dass nur 1900 Juden in Serbien und in der Region Banat überlebt haben, obwohl vor dem Krieg etwas mehr als 17'000 Juden hier lebten.
Wenn man sich mit der Geschichte der Juden in Serbien während der Schoah befasst, erstaunt einen die Anonymität dieser Gemeinschaft und der Schleier des Unwissens und des Vergessens, der über ihr Schicksal gebreitet wurde. Trotz einiger einzigartiger Merkmale sind ihre Geschichte, ihre Leiden und ihr Elend nur einigen wenigen Fachleuten wirklich bekannt und gelangten nie an die breite Öffentlichkeit. Dies ist leider das Los dieser kleinen jüdischen Gemeinden, die vor der Schoah die jüdische Welt nicht entscheidend mitgeprägt hatten und deshalb auch bei ihrem Tod im Hintergrund geblieben sind.


*Dr. Efraim Zuroff, Nazi-Jäger, Historiker, Fachmann der Schoah und Leiter des Büros in Jerusalem des Simon Wiesenthal Center von Los Angeles. Hauptquelle für diese Untersuchung ist der Artikel über Serbien von Menachem Schelah (Redakteur) in Toldot Ha-Schoah: Yugoslavia, Jerusalem, 5750 (1990)


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