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Inhaltsangabe Reportage Frühling 2003 - Pessach 5763

Editorial - April 2003
    • Editorial [pdf]

Pessach 5763
    • Identität und Dasein

Politik
    • Und dann?

Interview
    • Eine riesige Herausforderung

Wissenschaftliche Forschung
    • Vorzüglichkeit und Tradition
    • Das Geheimnis des Ribosoms

Judäa - Samaria - Gaza
    • Migron [pdf]

Shalom Tsedaka
    • Nichts ist mehr wert als ein Leben! [pdf]

Analyse
    • Politische Scheidung [pdf]
    • Machtlosigkeit oder Gleichgültigkeit?

Önologie
    • Le Chayim!

Reportage
    • Willenskraft – Ausdauer – Erfolg [pdf]

Polen
    • Versuch einer Wiedergutmachung
    • Erinnerung und Hoffnung [pdf]

Staatenbund Serbien und Montenegro
    • Jerusalem und Beograd
    • Savez jevrejskih opstina jugoslavije
    • Vier Todesfälle... und eine Hochzeit!
    • Serbien: Gestern - Heute - Morgen? [pdf]
    • Quo Vadis Serbia?
    • Jevrejski Istorijski Muzej [pdf]
    • Die Schoah in Serbien
    • Josip Erlih [pdf]

Ethik und Judentum
    • Haftpflicht der Kinder

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Willenskraft – Ausdauer – Erfolg

Von Roland S. Süssmann
Die weiss-blaue Flagge mit dem Davidstern steigt langsam, majestätisch in einen strahlenden Himmel, etwas höher als die Fahnen der beiden anderen Länder. Alle jüdischen und israelischen Fans stimmen in die Hatikwah ein, die das Orchester spielt, und die Schwimmerin Keren Leibovitch schwenkt mit Tränen in den Augen ihre dritte Goldmedaille. Wir befinden uns in Sydney bei den Olympischen Spielen für Behinderte, den berühmten «Paralympic Games 2000».

Dieses aussergewöhnliche Ereignis fand am Rand eines olympischen Schwimmbeckens und im Beisein von 60'000 Personen statt, die stehend einer behinderten jungen Israelin applaudierten: es war der verdiente Lohn für jahrelange Anstrengungen der Athletin und all jener, die im Rahmen von Beit Halochem, einer Organisation der behinderten Veteranen der Armee, an diesem Erfolg mitgewirkt hatten. Bevor wir uns aber näher mit dieser Organisation befassen, drängt sich ein kurzer Überblick über die Geschichte des Behindertensports auf, da diese Bewegung auf eine jüdische Initiative zurückgeht.

Der Vater dieser eigentlichen Revolution ist Professor Ludwig Gutmann, ein deutscher Jude und sehr bekannter Neurochirurg, der mit seiner Frau und den beiden kleinen Kindern kurz vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs nach England geflüchtet war. 1942 übertrug ihm die britische Regierung die Aufgabe, ein nationales Zentrum für die Verwundeten mit Rückgratverletzungen zu gründen, das sich rasch einen weltweiten Ruf erwarb. Professor Gutmann führte als Erster den Sport als Therapie und festen Bestandteil des Rehabilitationsprozesses ein. Mit der Zeit wurde aus dieser Disziplin ein Wettkampfsport. Er war es auch, der die Idee hatte, internationale Wettkämpfe zu schaffen und zu organisieren; die erste internationale Sportprüfung im Rollstuhl fand 1948 in Stoke Manderville in Grossbritannien statt, an der vor über einem halben Jahrhundert eine israelische Delegation mit zwei behinderten Veteranen teilnahm. Bei diesem ersten internationalen Wettkampf traten Sportler mit allen möglichen Behinderungen im Rollstuhl gegeneinander an: unter ihnen waren Amputierte, motorisch Behinderte, Blinde (Goalball) usw. Im Jahr 1952 beschloss das Internationale Olympische Komitee auf Vorschlag von Professor Gutmann, die Paralympics ins Leben zu rufen. Sie sollten alle vier Jahre an demselben Ort wie die Olympischen Spiele abgehalten werden. Schliesslich fanden die ersten Spiele 1960 in Rom statt, wo die israelischen Athleten 4 Goldmedaillen, 3 Silbermedaillen und 4 Bronzemedaillen errangen. Seit über 40 Jahren haben die behinderten Sportler aus Israel viele Erfolge gefeiert und sich durch das hohe Niveau ihrer Leistung und ihre zahlreichen Siege hervorgetan. Ihr Triumph ist auch derjenige Israels, und die Zahl der von ihnen gewonnenen Auszeichnungen bestätigt nur ihre Leistungsstärke. Natürlich können die Namen an dieser Stelle nicht alle genannt werden, doch es ist interessant zu wissen, dass sie an den Spielen von Montreal, die in Wirklichkeit 1976 in Toronto stattfanden, insgesamt 40 Mal Gold, 27 Mal Silber und 8 Mal Bronze nach Hause brachten! 1960 wurde Ludwig Gutmann, der kleine jüdische Flüchtling aus Deutschland, von der englischen Königin in den Adelsstand erhoben: er bekam den Titel eines Sirs und wurde zum Mitglied der Royal Academy gewählt. Dank ihm sind die Paralympics, die von Teilnehmern aus 140 Ländern bestritten werden, zum weltweit zweitwichtigsten sportlichen Ereignis nach den Olympischen Spielen geworden. Das Ausmass dieses aussergewöhnlichen Unterfangens kann man nur ermessen, wenn man bedenkt, dass an den Spielen für gesunde Athleten ca. 6500 Menschen teilnehmen und dass bei den Paralympics immerhin ungefähr 5500 Elitesportler selektioniert werden! Die originelle Idee des Professors Ludwig Gutmann, den Sport als Rehabilitationstherapie einzusetzen, ist heute aktueller denn je, sie führt zu hervorragenden Resultaten, insbesondere bei Kindern und Jugendlichen. In Beit Halochem werden behinderte Spitzensportler in 15 Disziplinen trainiert – in Einzelsportarten und Gruppensport: Schiessen mit Feuerwaffe oder Bogen, Gewichtheben, Segeln, Tennis, Basketball, Volleyball und Fechten im Rollstuhl, Schwimmen, Badminton, Tischtennis, Ballspiele mit Glöckchen an den Bällen für Blinde usw. Die Organisation Beit Halochem ist vor allem den Veteranen vorbehalten, doch sie bildet auch behinderte Athleten aus, die nicht aus der Armee stammen. Es ist eine interessante Tatsache, dass das gesamte sportliche Training in einem wunderschönen Rehabilitationssportzentrum in einem Vorort von Tel Aviv stattfindet, das aber auch Zweigstellen in Jerusalem und in Haifa besitzt.

Doch was bietet dieses berühmte Zentrum nun genau an? Es handelt sich um einen riesigen, 1974 eröffneten Komplex auf einem Grundstück von 10'000 m2, der mit Einrichtungen für Sport, Rehabilitation und gesellschaftliche Aktivitäten ausgestattet ist. Die Gebäude umfassen eine Mehrzweck-Turnhalle, Studiensäle, Behandlungskabinen, Ruheräume, eine Cafeteria, ein Auditorium mit 350 Plätzen, ein Hallenbad mit olympischem Schwimmbecken für Behinderte, Zimmer für Massage und Hydrotherapie, Sportplätze usw. Da sie durch ihr Handicap eingeschränkt sind, fällt es vielen Behinderten schwer, sich wieder in den normalen Alltag zu integrieren, der durch seine Regelmässigkeit so wichtig ist für ihr körperliches und seelisches Wohlbefinden. Die oberste Priorität von Beit Halochem besteht darin, ihnen die Hilfe anzubieten, die sie brauchen, damit sie wieder ein möglichst ausgewogenes Familien- und Berufsleben führen können. Zu diesem Zweck wurde eine ganze Reihe von Sportprogrammen entwickelt, die an jeden individuell unterschiedlichen Behinderungstyp angepasst sind. Sie spielen nicht nur beim Prozess der Rehabilitierung eine wichtige Rolle, sondern ermöglichen den Behinderten auch, fit zu bleiben und auf ihre Gesundheit zu achten. Parallel dazu bietet das Zentrum eine weite Palette von kulturellen, gesellschaftlichen und kreativen Aktivitäten an und fördert auf diese Weise Hobbys und Freizeitbeschäftigungen. Dadurch wird das Leben der Behinderten vielfältiger, sie integrieren sich wieder in die Gesellschaft und verlassen ihre Isolation, die sich sehr oft einstellt, wenn ein verletzter Mensch auf die tägliche Routine verzichten muss. Auch die psychologische Betreuung ist in Beit Halochem sehr gut entwickelt, eine Besonderheit des Zentrums besteht aus den Treffen zwischen den «Generationen». Menschen, die schon seit langem mit ihrer Behinderung leben, teilen ihre Erfahrungen mit denjenigen, die eben erst davon betroffen sind und nun lernen müssen, damit umzugehen und sich an die schwierige und komplizierte Welt der Behinderten anzupassen. Die Veteranen sind das lebende Beispiel dafür, dass das Leben mit einer schweren Behinderung keine «Mission impossible» ist und dass es trotz aller Schwierigkeiten, die zu Beginn unüberwindlich scheinen, möglich ist, wieder ein erfülltes und produktives Dasein zu führen. Die besonderen Dienstleistungen, die Vielfalt der Programme, die modernen Ausrüstungen und natürlich die hervorragenden Fähigkeiten all jener, die hier arbeiten, haben Beit Halochem zu einem einzigartigen Zentrum gemacht, das überall auf der Welt als Vorbild gilt. Alle Einrichtungen wurden nämlich auf die besonderen Bedürfnisse aller möglichen Behinderungen abgestimmt, man hat sich auch besonders darum bemüht, dass Blinde und an den Rollstuhl gefesselte Menschen an möglichst vielen Aktivitäten teilnehmen können. Dank dem Zusammenführen von Behinderungen aller Art konnte auch die Forschung auf dem Gebiet der Rehabilitation, der Medizin und der Psychologie vorangetrieben werden. Die so entwickelten neuen Methoden werden meist im Rahmen der Institution direkt angewendet. Ausserdem findet die Behandlung von schwerstbehinderten Menschen, Blinden, Paraplegikern, Amputierten usw., die eine individuelle Betreuung erfordern, in einem speziell dafür eingerichteten Flügel für Rehabilitation statt. Beit Halochem steht in beständigem Kontakt mit den Abteilungen der Spitäler, in denen verletzte Soldaten gepflegt werden, so dass diese so rasch wie möglich in die Rehabilitationsprogramme von Beit Halochem integriert werden können.

Wie funktioniert die Organisation? Um mehr darüber zu erfahren, haben wir mit Moshe Mutz Matalon gesprochen, dem nationalen Präsidenten der «Zahal Disabled Veterans Organisation»; er erklärte uns die Haltung, die Ziele und den Aufbau von Beit Halochem. «Unsere Organisation wurde nach dem Unabhängigkeitskrieg gegründet. David Ben Gurion war der Ansicht, es müsse dringend alles unternommen werden, um den 6000 Behinderten dieses Kriegs zu helfen, eine Lösung für ihre schrecklichen Probleme zu finden. Seither musste der Staat Israel noch oft um seine Souveränität kämpfen, so dass unsere Organisation leider sehr schnell gewachsen ist. Wir haben täglich immer mehr Mitglieder, die bei der Verteidigung ihrer Heimat schwer verletzt wurden. Uns gehören heute über 48'000 Menschen an! Wir sind keine medizinische Institution, unser Hauptziel ist es, unseren Mitgliedern in der schwierigen Zeit der Rehabilitation zur Seite zu stehen, bis sie sowohl auf körperlicher, als auch auf moralischer und gesellschaftlicher Ebene wieder so normal wie möglich leben können. Jeder von ihnen zahlt einen symbolischen Beitrag, was Beit Halochem ein wenig die Aura eines Country Clubs verleiht. Mein aufrichtigster Wunsch ist es, einmal eine Zeit zu erleben, in der es in meinem Land keinen Krieg und keine Gewalt mehr gibt, so dass unsere Organisation nicht mehr weiter wächst. In der Erwartung dieses Augenblicks tun wir alles, um denjenigen, die an körperlichen Beeinträchtigungen leiden, die Unterstützung zu geben, die sie verdienen, ganz einfach, weil sie ihre Bürgerpflicht erfüllt haben. Seit einiger Zeit nehmen wir auch Behinderte auf, die Opfer des Terrorismus sind, obwohl unsere Organisation eigentlich nur für verletzte Veteranen der Armee gedacht war.»

EINE FRAU AUS GOLD

«Als ich in Sydney meine erste Goldmedaille entgegen nahm, war ich sehr aufgeregt, als ich die zweite bekam, war ich ausgesprochen glücklich, doch als ich die dritte gewann, war ich völlig erschöpft…» In diesen einfachen und handfesten Worten fasst KEREN LEIBOVITCH, die israelische Schwimmerin, ihre phantastischen Siege in Sydney zusammen. Auch wenn sie immer noch an Sydney denkt, liegt dies nun weit zurück und sie hat seither andere Siege und Auszeichnungen in internationalen Wettkämpfen errungen, insbesondere bei den Weltmeisterschaften im Behindertenschwimmen, die anfangs Dezember 2002 in Argentinien stattfanden. Dazu muss man wissen, dass die Paralympischen Spiele in Sydney für Keren sowohl einen Traum als auch eine Herausforderungen darstellten. Sie bereitete sich auf ihre Siege vor, indem sie fünf Jahre lang jede Woche zwölf bis fünfzehn Mal je zwei Stunden Training absolvierte. Neben der persönlichen Herausforderung trug Keren sämtliche Hoffnungen des israelischen Sports auf ihren Schultern, was für sie einem zusätzlichen Druck entsprach.

Keren war schon immer ein sportliches Mädchen gewesen: sie fuhr Rad, spielte Tennis, ritt, betrieb Leichtathletik und besass sogar einen braunen Gürtel im Karate und Judo. Ihre Mutter verbot ihr das Schwimmen, denn sie fürchtete, sie würde durch diesen Sport Schultern wie ein «Wandschrank» bekommen und dadurch ihre natürliche Anmut verlieren. Doch trotz dieses Verbots schwamm die kleine Keren täglich zehn Kilometer. Doch dann trug sie eines Tages in der Armee eine viel zu schwere Last und brach sich fünf Rückenwirbel. Drei Jahre lang war Keren teilweise gelähmt, musste mehrere Spitalaufenthalte und zwei Rückenoperationen über sich ergehen lassen. Nach drei Jahren begann sie an der Hebräischen Universität von Jerusalem Medizin zu studieren, gab aber nach einem Jahr auf. «Ich musste mein Studium beenden, denn ich hatte noch nicht gelernt, behindert zu sein. Es ist ein langer und harter Weg», sagt Keren ganz nüchtern und realistisch. Heute geht sie wieder an die Universität, sie studiert Chemie, um ihr Medizinstudium wieder aufnehmen zu können, wenn sie aus dem Wettkampfsport zurücktritt. Wegen ihrer Behinderung konnte Keren nur noch eine einzige Sportart ausüben, das Schwimmen. Als sie damit begann, beschloss sie nicht nur, dass sie für die Paralympics in Sydney selektioniert würde, sondern auch, dass sie dort gewinnen würde!

Kerens Kampf ist noch lange nicht zu Ende. Nach Sydney ist sie ein Jahr lang nicht geschwommen, sie ging danach wieder nach Australien und begann dort erneut mit dem Training. Seither hat sie an zahlreichen internationalen Wettkämpfen teilgenommen, bei denen sie immer unter den ersten im Final lag, Siege und Medaillen errang, wie beispielsweise an den Weltmeisterschaften 2002 in Argentinien, wo sie vier Goldmedaillen «abräumte»! Als ich Keren nach ihren Zukunftsplänen fragte, antwortete sie: «Zunächst hoffe ich, dass ich keine weitere Rückenoperation brauche. Ich trainiere heute mit normalen, gesunden Schwimmern, was ich sowohl als Ermutigung als auch als Herausforderung ansehe. Ich weiss, was ich kann und was ich nicht kann, doch gleichzeitig lege ich, auch wenn dies paradox klingen mag, meine Grenzen selbst fest. Meine nächste grosse Herausforderung? Die Paralympics 2004 in Athen gewinnen!».
Doch Keren Leibovitch kämpft auch noch an einer ganz anderen Front: sie strebt nach der Anerkennung der Frau im israelischen Spitzensport und nach einem würdigen Platz für den Behindertensport in diesem Land. Sie ist der Ansicht, die Leistungen der Frauen würden nicht entsprechend gewürdigt und junge Mädchen nicht ausreichend gefördert, sich im Wettkampfsport zu engagieren. Was den Behindertensport angeht, findet sie, dass er in Israel nicht denselben Stellenwert besitzt wie der Sport der gesunden Athleten, und zwar sowohl in Bezug auf Anerkennung als auch im Hinblick auf die staatliche Finanzierung und Subventionierung. «Sehen Sie, mein Sieg in Sydney war ein Phänomen, denn er stellte für die israelische Bevölkerung, die unter dem Schock der neuen Intifada stand, eine Quelle der Freude und des Stolzes dar. Ich denke, dass die Wirkung noch sehr viel stärker gewesen wäre, wenn meine Medaillen von einem Mann, und noch dazu einem gesunden, errungen worden wären.»
Heute geht Keren Leibovitch auf die jungen Behinderten in Israel zu und erklärt ihnen, wie sie mit einer schweren Behinderung leben und erfolgreich sein können. Ihre Erfolge, ihre Willenskraft und Entschlossenheit dienen auch zahlreichen jungen, gesunden Israelis als lebendes Vorbild. Für die jungen Behinderten wiederum verkörpert sie einen enormen Ansporn.


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