Itzchak Schamir, der frühere Premierminister des israelischen Staates, pflegte jedem, der es hören wollte, zu sagen: "Die Polen saugen den Antisemitismus mit der Muttermilch ein". Dieser Ausspruch veranschaulicht deutlich die komplexen Beziehungen zwischen Juden und Polen, die sowohl auf nationaler, menschlicher, historischer und emotionaler Ebene tief und unentwirrbar sind. In Warschau war ich verwundert angesichts der Höhe der israelischen Investitionen in den Bereichen Immobilien und Handel. In einem kurzen Gespräch hat uns S.E. Professor SCHEVACH WEISS, israelischer Botschafter in Polen, selbst polnischer Abstammung, Überlebender der Schoah und ehemaliger Präsident der Knesset, von den Beziehungen zwischen Israel und Polen berichtet.
Können Sie uns wenigen Worten den gegenwärtigen Stand der Beziehungen zwischen Israel und Polen schildern?
Stellt man einem Diplomaten diese Frage, antwortet er im Allgemeinen immer, dass zwischen den beiden Ländern alles zum Besten steht. Was Polen betrifft, ist dies nicht nur tatsächlich zutreffend, sondern unsere Beziehungen verbessern sich überdies von Tag zu Tag und sind positiver als diejenigen, die wir zu den meisten europäischen Ländern unterhalten. Der Präsident Aleksander Kwasniewski setzt sich persönlich dafür ein, den Austausch zwischen den beiden Ländern besonders zu fördern, und zwar auf allen Ebenen, seien sie nun formeller oder informeller, öffentlicher oder geheimer Art. Ich denke, dass die neue polnische Demokratie, die vor ca. zehn Jahren entstanden ist, sich in gewissem Sinne bemüht, die verlorene Zeit einzuholen und wieder gut zu machen, in deren Verlauf die beiden Länder wegen des zwei Generationen dauernden kommunistischen Regimes sozusagen völlig voneinander abgeschnitten waren. Auf politischer Ebene könnte man die Haltung der politischen Klasse, der Regierung, des Präsidenten und der Elite gegenüber Israel mit derjenigen von Joschka Fischer vergleichen, dem deutschen Aussenminister, der für seine positive Einstellung uns gegenüber bekannt ist. Man muss sich klar machen, dass die Beziehungen auf zwei völlig verschiedenen Ebenen unabhängig voneinander stattfinden, nämlich auf derjenigen zwischen den Regierungen und derjenigen der Nationen untereinander.
Glauben Sie, dass diese grundsätzlich recht positive Haltung auf Schuldgefühlen der Polen beruht, die zugelassen hatten, dass ihre gesamte jüdische Gemeinschaft, d.h. drei Millionen Menschen, auf ihrem Staatsgebiet vernichtet und ermordet wurde?
Es ist eine Kombination von Elementen, bestehend aus den Ereignissen während und nach der Schoah, aus einer gewissen Form der Ablehnung des traditionellen Antisemitismus, dem Eingestehen der Schuld der polnischen Mörder und einer Art von "gutem Ton in der Politik", die in jeder Demokratie vorhanden ist. Grund für diese Einstellung ist der Wunsch, als vollwertiges Mitglied in der Europäischen Union anerkannt zu werden. In Wirklichkeit handelt es sich hierbei um eine recht komplexe Kombination verschiedener Elemente, die jedoch erfolgreich ist. Man muss sich vor Augen führen, dass Polen in gewisser Weise nie wirklich mit den Nazis zusammengearbeitet hat, ich würde sogar behaupten, dass die Bevölkerung, die Nation und das Land vielmehr Opfer des Nationalsozialismus und Russlands waren. (Anm. d.Red. Da die Deutschen die Polen als unfähige Untermenschen ansahen, liessen sie nicht zu, dass sie die Juden selbst umbrachten. Es gab jedoch vereinzelte Massaker an den Juden, die während des Kriegs von den Polen selbst ausgeführt wurden.) Dadurch kann man natürlich weder die Vernichtung der Juden in Polen, die sogar noch nach der Schoah stattfand, noch die unverblümt antisemitischen Äusserungen von Gomulka ungeschehen machen. Doch man muss heute klar sehen, dass das moderne Polen als vollwertiges Mitglied in Europa anerkannt werden möchte und dass dies selbstverständlich eine extrem positive Änderung der Einstellung gegenüber Israel sowie gegenüber dem jüdischen Volk an sich bewirkt.
Es weist alles darauf hin, dass es sich dabei um ein rein politisches Vorgehen mit eindeutigen Zielen handelt. Wie erleben Sie aber die Entwicklung in Bezug auf das Verhältnis zwischen der jüdischen und der polnischen Nation?
Die meisten polnischen Juden und Überlebenden der Schoah werden die düstere und tragische antisemitische Atmosphäre nie vergessen, die vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg in Polen vorherrschte. Trotz aller grundlegenden und positiven Änderungen, die ich oben erwähnt habe, glaube ich, dass die Wiederherstellung normaler Beziehungen zwischen den beiden Nationen sehr viel Zeit beanspruchen wird: es ist ein harter und dorniger Weg.
Glauben Sie, dass der Grund für die schwierige Pflege dieser Beziehungen in der intensiven Zusammenarbeit der polnischen Bevölkerung mit den Deutschen beim Mord an den Juden liegt?
Diese Kollaboration war nicht schlimmer als in anderen Ländern, in denen einige Regierungen direkt mit den Deutschen zusammenwirkten, wie z.B. in Vichy und Rom, ganz zu schweigen von der Tatsache, dass die Einwohner der baltischen Staaten und zahlreicher anderer Regionen Europas ihre Juden eigenhändig und in enger Zusammenarbeit mit den Deutschen umbrachten. In Yad Vaschem existiert eine Liste mit den Namen der Menschen, die sich aktiv für die Rettung von Juden einsetzten, die "Gerechten der Welt", auf der 18'000 Namen stehen, von denen 35%, d.h. über 6'000, Polen sind. Betrachtet man die Ereignisse in Polen in Bezug auf das Verhalten der Bevölkerung während des Kriegs von einer höheren Warte aus, stellen wir fest, dass es einerseits zu schrecklichen, dramatischen und blutigen Situationen kam, dass es aber andererseits eine umfangreiche Gruppe von ehrenwerten Menschen gab.
Kommen wir zur Frage nach der Politik zurück: Polen ist dabei in die EU aufgenommen zu werden, die im Grossen und Ganzen eine eindeutig israelfeindliche Politik vertritt. Denken Sie, dass Polen sich dieser Politik anschliessen oder eher einen eigenen Weg gehen wird?
Wir hoffen, dass Polen auch in Zukunft damit fortfahren kann, die einzigartige Beziehung zu fördern und zu entwickeln, die es zu Israel und zum jüdischen Volk pflegt - ich bestehe auf diesen Begriff - und unterhält. Wir sind dabei, eine vielversprechende, positivere Zukunft gemeinsam aufzubauen, und wir versuchen die Wunden der Vergangenheit heilen zu lassen, natürlich ohne sie zu vergessen. In diesem Stadium und aufgrund der verschiedenen Gespräche, die ich mit polnischen Verantwortlichen führte, habe ich allen Anlass zu glauben, dass wir uns auf ausreichend solide Fakten stützen können und annehmen dürfen, dass Polen nicht plötzlich sein Mäntelchen nach dem Wind hängen wird. Präsident Kwasnieski ist schon zwei Mal nach Israel gereist, mehrere Minister waren in Jerusalem, ähnliche Besuche sind für das Jahr 2003 geplant. Im Verlauf des letzten Jahrzehnts haben verschiedene offizielle Besuche von israelischen Politikern in allen Bereichen stattgefunden, sie alle haben sich unter ausgesprochen guten Bedingungen abgespielt. Der nächste Marsch der Lebenden wird übrigens von den Präsidenten Katsav und Kwasnieski angeführt werden.
Wie steht es um den arabischen Einfluss in der polnischen Politik gegenüber Israel?
Es gibt ihn tatsächlich, denn Polen besitzt ein spezielles Verhältnis zu den arabischen Ländern, das noch aus der Zeit des kommunistischen Regimes stammt und bis heute nicht geändert wurde. Doch meiner Ansicht nach verfügen die Araber nicht über genug Einfluss, um die positive Entwicklung der Beziehungen zwischen Israel und Polen nachhaltig verhindern zu können.
Können Sie uns kurz die hiesige jüdische Gemeinschaft beschreiben?
Vor der Schoah lebten dreieinhalb Millionen Juden in Polen. Heute sind es noch ca. zehntausend, von denen drei- bis viertausend am Gemeinschaftsleben teilnehmen. Im ganzen Land gibt es insgesamt zwölf kleine Gemeinden, die Überalterung nimmt zu und es werden zahlreiche gesellschaftliche Aktivitäten angeboten. Ungefähr die Hälfte des jüdischen Grundbesitzes wurde den Institutionen der Gemeinden zurückerstattet.
Sie haben selbst die Schoah in Polen überlebt. Was löst es für Gefühle in Ihnen aus, wenn Sie sich in Polen aufhalten?
Ich muss gestehen, dass es mir alles andere als leicht fällt, ganz im Gegenteil. Ich bin aber der Ansicht, dass dies keine herkömmliche diplomatische Einstellung sein kann. Nach einer bedeutenden Karriere in Israel als Präsident der Knesset, kann man nicht behaupten, dass die Ernennung zum Botschafter in Polen wirklich einer Beförderung entspricht, denn Warschau ist weder Washington noch Moskau, Paris oder London. Ich denke aber, dass ich mich in meiner Eigenschaft als Überlebender der Schoah, der in Polen geboren wurde, und als Jude nicht darauf beschränke, einfach meinen täglichen Aufgaben als Diplomat nachzugehen, sondern auch eine historische Pflicht zu erfüllen habe. Kurz, ich habe meiner Ansicht nach eine persönliche Rolle bei der Schaffung einer neuen und positiven Atmosphäre zu spielen, die langsam zwischen unseren beiden Ländern entsteht.
S.E. Professor Schevach Weiss hat uns erklärt, wie ausserordentlich positiv die Beziehungen zwischen den beiden Ländern sind, doch nach einer etwas gründlicheren Untersuchung haben wir erfahren, dass Polen, wie die anderen Länder des ehemaligen Ostblocks, aus einem einzigen Grund ein gutes Verhältnis zu Israel und den jüdischen Organisationen weltweit pflegt: es erhofft sich dadurch die Gunst - vor allem finanzieller Art - der Vereinigten Staaten dank eines angeblich jüdischen Einflusses.
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