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Inhaltsangabe Staatenbund Serbien und Montenegro Frühling 2003 - Pessach 5763

Editorial - April 2003
    • Editorial [pdf]

Pessach 5763
    • Identität und Dasein

Politik
    • Und dann?

Interview
    • Eine riesige Herausforderung

Wissenschaftliche Forschung
    • Vorzüglichkeit und Tradition
    • Das Geheimnis des Ribosoms

Judäa - Samaria - Gaza
    • Migron [pdf]

Shalom Tsedaka
    • Nichts ist mehr wert als ein Leben! [pdf]

Analyse
    • Politische Scheidung [pdf]
    • Machtlosigkeit oder Gleichgültigkeit?

Önologie
    • Le Chayim!

Reportage
    • Willenskraft – Ausdauer – Erfolg [pdf]

Polen
    • Versuch einer Wiedergutmachung
    • Erinnerung und Hoffnung [pdf]

Staatenbund Serbien und Montenegro
    • Jerusalem und Beograd
    • Savez jevrejskih opstina jugoslavije
    • Vier Todesfälle... und eine Hochzeit!
    • Serbien: Gestern - Heute - Morgen? [pdf]
    • Quo Vadis Serbia?
    • Jevrejski Istorijski Muzej [pdf]
    • Die Schoah in Serbien
    • Josip Erlih [pdf]

Ethik und Judentum
    • Haftpflicht der Kinder

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Quo Vadis Serbia?

Von Roland S. Süssmann
Eine der grossen Kontroversen, die Ende 2002 in der jugoslawischen Presse ausgetragen wurde, befasste sich mit der Suche nach der historischen Wahrheit und der Ermittlung der Verantwortlichen der Kriegsverbrechen, die von den Häschern Milosevic begangen wurden. Die von Präsident Kostunica eingesetzte Kommission für Versöhnung und Wahrheitsfindung hat ihre Arbeit immer noch nicht aufgenommen und der Premierminister Djindjic hat deutlich zum Ausdruck gebracht, dass die Lösung der wirtschaftlichen Probleme des Landes oberste Priorität besitze. Die Debatte, die in der Presse stattfand, besass erstaunliche Tiefe, da einige Historiker nicht zögerten, von einer "erschreckenden Gleichgültigkeit" zu sprechen, als die moralische und politische Kollektivschuld der Serben offen zur Sprache kam.
Die Grundlage für diese Anschuldigung ist in der Tatsache zu finden, dass Milosevic wieder gewählt und bejubelt worden war, obwohl ein grosser Teil der Bevölkerung über die Gräueltaten Bescheid wusste, welche die serbischen Streitkräfte anlässlich des blutigen Zusammenbruchs des ehemaligen Jugoslawiens in den verschiedenen Teilstaaten begangen hatte. Historiker mit einem nationalistischeren Hintergrund gehen hingegen davon aus, dass der Gerichtshof von Den Haag nur ein einziges Ziel verfolgt, nämlich die Verurteilung des gesamten serbischen Volkes anstelle der Bestrafung der eigentlichen Kriegsverbrecher, die leider auch tatsächlich gegeben hat. Für uns, die wir den letzten Balkankrieg mit einiger Gleichgültigkeit erlebt haben, scheint diese Diskussion ein wenig abstrakt zu sein und nur eine kleine Zahl von Spezialisten zu betreffen. Interessant ist aber die Frage, wie diese Periode auf intellektueller Ebene von der jüdischen Gemeinschaft erlebt und erfahren wurde. Um uns darüber zu informieren, haben wir in Belgrad einen der scharfsinnigsten Autoren des Landes getroffen, den Dramatiker FILIP DAVID, der 35 Jahre lang die Dramaturgie-Abteilung des jugoslawischen Fernsehens leitete, bevor er zu Beginn der 90er Jahre vom Regime Milosevic verabschiedet wurde. Heute lehrt Filip David Theaterwissenschaften an der Universität von Belgrad und widmet einen grossen Teil seiner Zeit der Schriftstellerei. Besonders gern befasst er sich mit der Analyse der ethischen, politischen und moralischen Situation des heutigen Serbiens. Daneben schreibt er Kurzgeschichten, die von der jüdischen Tradition, der jiddischen Literatur, der Kabbala, dem Chassidismus und der spaniolischen Kultur inspiriert sind. Seine Bücher wurden auf Spanisch, Albanisch und Ungarisch übersetzt, einige seiner Anthologien kamen auch auf Hebräisch in der israelischen Presse heraus. Filip David bereitet zurzeit ein neues Werk vor, das sich mit der Stellung der Juden im heutigen Serbien auseinandersetzt und dabei seine eigenen Erfahrungen mit einbezieht.

Wurde durch das Ende der Ära Tito nicht das Wiederaufflammen oder gar das Überhandnehmen des Nationalismus begünstigt?

Nach dem Sturz des Kommunismus, der eine Form des Totalitarismus darstellt, mussten Milosevic und seine Leute eine Ideologie finden, um die Kontrolle über die Bevölkerung zu behalten. Der Nationalismus, in Wirklichkeit nichts anderes als eine weitere totalitäre Ideologie, erwies sich als das ideale Instrument zur Erreichung ihrer Ziele. Milosevic war kein Nationalist, sondern ein Pragmatiker, und er hatte schnell begriffen, dass die Mehrheit der Bevölkerung sehr emotional auf den Nationalismus reagierte und dass er diese Gefühle zu seinen Zwecken ausnutzen konnte. Indem er den Nationalismus einsetzte, erhielt er sofort die Unterstützung der Intellektuellen, der Wissenschaftler und der Kirche. Zu diesem Zeitpunkt dachten alle, es sei nun der Moment gekommen, einen 150-jährigen Traum zu verwirklichen und "Gross-Serbien" zu gründen. Damals war dieser Traum eines "grossen Landes" auch in Kroatien und Albanien vorhanden. In den Balkanstaaten fällt jedoch die Umsetzung des Nationalismus immer blutiger aus als anderswo und führt zu einem übersteigerten Chauvinismus. Im letzten Krieg, den wie in unserer Region erlebt haben, gab es bezeichnenderweise keinen einzigen Kriegshelden, nur Kriegsverbrecher. Ganz zu Beginn gehören auch die nationalistischen oder religiösen Gefühle ein wenig zu den Auslösern des Kriegs, doch dieser verwandelte sich sehr rasch in ein riesiges Verbrechen, das eine Reihe von Privatinteressen schützen und vorantreiben sollte. Die paramilitärischen Milizen von Milosevic, die traurige Berühmtheit erlangten, waren nichts anderes als eine Gaunerbande. Bei den Kroaten sah es nicht besser aus, wo Tudjman mit der direkten Unterstützung der Ustascha (siehe SHALOM Vol. 37) die Gräueltaten seiner paramilitärischen Gruppen deckte, die ebenso verbrecherisch waren wie die Truppen von Milosevic. Aus diesem Grund behaupte ich, dass es auf beiden Seiten nur Kriegsverbrecher gab.

Glauben Sie, dass die Schuldfrage irgendwann geklärt werden muss?

Selbstverständlich. Nach einer Reihe derartiger Ereignisse drängt sich die Frage nach den Verantwortlichen geradezu auf. Hier will jedoch niemand aus der Vergangenheit lernen. Wenn wir aber zu Europa gehören und die begonnene Reform weiterführen wollen, müssen wir unterscheiden lernen zwischen den positiven Aspekten des Nationalismus, nämlich unserer Kultur, unseren Traditionen und unserer Sprache, und den negativen Elementen, die sich in Gewalt und Grausamkeit zeigen. Heute sind wir noch nicht bereit, eine strenge historische Analyse der im Namen Serbiens verübten Kriegsverbrechen durchzuführen.

Wie sehen Sie die Zukunft Ihres Landes?

Da wir bis heute nicht bereit sind, uns mutig unserer jüngsten Vergangenheit zu stellen, besitzen wir kein politisches Konzept und wissen nicht so genau, was wir eigentlich wollen. Jede der verschiedenen politischen Tendenzen versucht sich durchzusetzen, und dies ist recht gefährlich, denn alle gegenwärtigen Akteure bekennen sich zu einer nationalistischen, wenn nicht gar zu einer populistischen Ideologie. Man muss sich klar machen, dass sich heute in Serbien zwei Philosophien gegenüberstehen: die eine wehrt sich vehement gegen die Modernisierung und die Integration in Europa, die andere ist europafreundlich und spricht sich für eine Öffnung und einen höheren Lebensstandard aus. Leider gehört die amtierende politische Führung zur erstgenannten Gruppe, die zweite besitzt sozusagen keinen Einfluss. Die Regierung tendiert demnach zu einem patriarchalischen Gesellschaftstyp, was ausgesprochen gefährlich ist, da dies dem Faschismus Tür und Tor öffnet. Ich denke, dass wir uns gegenwärtig in einer Übergangsphase befinden, die stark von der Entwicklung der Lage im übrigen Europa abhängt. Ich glaube jedoch, dass eine Machtübernahme der Rechtsextremen aufgrund der schlechten Wirtschaftslage in Deutschland oder Russland dazu führen würde, dass auch Jugoslawien sofort gleichzöge.

Ihre Aussagen klingen eher unheilvoll für die jüdische Gemeinschaft. Denken Sie nicht, dass die Saat des Antisemitismus bereits im Boden steckt und nur darauf wartet, endlich aufzukeimen?

Es ist allgemein bekannt, dass jede Renaissance des Nationalismus mit einem Anstieg des Antisemitismus einhergeht. Bei uns basiert letzterer vor allem auf dem Mythos, es gebe eine internationale Verschwörung gegen das serbische Volk, die natürlich im Geheimen von den Juden angezettelt wird, welche die Welt regieren. Ausserdem unterstützen auch einige Juden den serbischen Nationalismus sehr aktiv. Es sind Juden, die unter dem pathopsychologischen Phänomen des Selbsthasses leiden, d.h. Menschen, die es nicht akzeptieren, dass sie sich nicht hundertprozentig in die Gesellschaft integrieren können, und die folglich noch viel nationalistischer sind als alle anderen Serben. Sie haben eine Gesellschaft für die serbisch-jüdische Freundschaft gegründet, welche den serbischen Nationalismus beim weltweiten jüdischen Establishment fördern will. Die jüdischen Mitglieder gehören dieser Gruppe an, um von der serbischen Gesellschaft besser akzeptiert zu werden, doch die Serben sind der Organisation beigetreten, weil sie davon überzeugt sind, dass es eine geheime jüdische Macht gibt, welche die Geschicke der Welt lenkt, und weil sie die Freundschaft der Menschen gewinnen möchten, die dieser Macht nahe stehen. Ziel dieser Bemühungen ist es auch, die jüdische Gesellschaft überall auf der Welt dazu zu nutzen, die Exzesse des Regimes von Milosevic zu unterstützen und zu rechtfertigen. In Wirklichkeit vertritt diese Organisation heimlich die Thesen der "Protokolle der Weisen von Zion". Die jüdische Gemeinschaft als solche hat sich von dieser Gruppe distanziert, auch wenn ihr einige unserer Mitglieder beigetreten sind. Meines Erachtens ist dieses Vorgehen als fatal zu bezeichnen. Darüber hinaus trägt die Organisation den viel sagenden Namen "für die serbisch-jüdische Freundschaft" und nicht "zwischen Serbien und Israel", wie dies in anderen Ländern der Fall ist. Dies hat seinen Grund und beweist eindeutig die antisemitische Grundeinstellung der Gruppierung. Durch ihren Namen allein wendet sie sich direkt an die "weltweite geheime jüdische Macht".
Wie ich bereits erwähnte, besitzt die heute amtierende Regierung keine klare politische Vision und stützt sich daher, wie bereits Milosevic, wenn auch in weniger bedeutendem Ausmass, auf die Ausnutzung der nationalistischen Gefühle. Daraus folgt, dass wir in Bezug auf den Antisemitismus zurzeit über keine solide moralische oder ethische Grundlage verfügen, die sich auf politischer Ebene wirksam dagegen einsetzen könnte. Somit kann sich die Tätigkeit dieser Art von Organisation nur gegen uns wenden, denn die Absichten der Beteiligten sind unlauter und zum Scheitern verurteilt. Was die Kirche betrifft, blickt sie auf eine eindrückliche Tradition der Unterstützung für den serbischen Nationalismus zurück. Sie ist allerdings im Hinblick auf Haltung und Stellungnahme keineswegs geeint, einige ältere, sehr einflussreiche Bischöfe bekennen sich offen zu ihrem Antisemitismus. Ich denke dabei insbesondere an Nikolaj Vladimirovitsch, dessen weit verbreitete Schriften noch viel aggressiver sind als die "Protokolle der Weisen von Zion". Dazu kommt noch, dass der Antisemitismus hier einen weiteren, nicht zu unterschätzenden Aspekt beinhaltet: ein Antisemit zeichnet sich in erster Linie dadurch aus, dass er ein anständiger serbischer Staatsbürger ist, der nationalistisch, anti-amerikanisch, gegen die Globalisierung und gegen die Demokratisierung des Landes eingestellt ist. Dies beunruhigt umso mehr, als wir in Jugoslawien eine ganz unbedeutende Gemeinschaft sind, die keinerlei politischen oder finanziellen Einfluss besitzt.

Neben Ihren politischen Analysen feiert man Sie in Ihrem Land auch als Schriftsteller, der zahlreiche bedeutende Literaturpreise gewonnen hat. Existiert Ihrer Meinung nach eine besondere Form der jüdischen Identität, die den jugoslawischen Schriftstellern im Allgemeinen und den serbischen im Besonderen eigen ist?

Ich möchte Ihnen mit einem Zitat von Sander L. Gilman antworten, einem berühmten amerikanischen Autor, mit dem ich mich voll und ganz identifiziere. In seinem 1996 in Baltimore veröffentlichten Buch "Jewish Self-Hatred" schreibt S. Gilman: "Der jüdische Schriftsteller befindet sich in einer ewigen Revolte gegen die Aussenseiterstellung, die ihm ständig auferlegt wird. Ein jüdischer Autor antwortet auf diese Zuordnung durch die Literatur, sein bevorzugtes Kampfwerkzeug, die sich in seinem Fall durch folgende Merkmale auszeichnet: eine Neigung, vom Jenseits zu sprechen, eine ganz besondere Form des Humors, eine Art überspitzte Fröhlichkeit, die in Wahrheit vielmehr den Wunsch ausdrückt, die Verzweiflung zu überwinden, als echte Lebensfreude. Alle diese Eigenschaften entspringen der jüdischen Kultur und dem Chassidismus." Auch ich arbeite in diesem Sinne.

Damit haben Sie aber nicht die Frage beantwortet, ob es Ihrer Ansicht nach eine Kunstform, eine geistige Einstellung und eine Denkweise gibt, die für die jüdischen Schriftsteller Ihres Landes typisch sind?

Es gibt keine homogene Denkweise. Ich glaube jedoch, dass die Werke der anderen jüdischen Autoren Zentraleuropas das Ergebnis eines heftigen Zusammenpralls zwischen der Phantasie, der Vernunft, der jüdischen Mystik, den Emotionen und dem Geist sind, wobei das alles vom Chassidismus und der Haskalah (Aufklärungsphilosophie) abstammt. Die Spuren dieses explosiven Gemischs sind sowohl bei Kafka als auch bei Freud, Gustav Mahler und Elias Canetti zu finden, um nur einige zu nennen. Ich denke, dass sie alle nachhaltig von ihrer Umgebung geprägt wurden, dass aber die Grundlage ihrer Kunst auf den oben genannten Elementen beruhte. Auf diese Weise drücke ich mich aus, so schreibe ich und so kämpfe ich mit meiner Feder, denn ich bin zwar im Innersten Jude, aber auch ein guter Serbe, der sein Land liebt. Der politische Kampf, den ich heute führe, hat vor allem damit zu tun, dass ich nicht mag, was heute passiert; ich fürchte, dass unsere Demokratie zu schwach ist und dass wir in eine Form von Faschismus zu verfallen drohen. Ich unternehme daher alles, um dieser Region eine erneute Katastrophe zu ersparen, denn die Bevölkerung hat bereits genug gelitten.

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