Es ist ein schweigsamer Zug. Ungefähr 5'000 aus der ganzen Welt angereiste junge Juden, die zum ersten Mal in ihrem Leben mit der Realität der Konzentrations- und Vernichtungslager konfrontiert werden, stehen in Reihen vor dem Eingangstor von Auschwitz, über dem die berühmt-berüchigte Inschrift zu lesen ist: "Arbeit macht frei". Die meisten von ihnen tragen die blau-weisse Flagge. Sie warten. Plötzlich ertönt ein endloser Schofar-Klang, die Tekiah Gedolah! Das ist das Signal zum Aufbruch. Langsam setzen sich die Fahnenträger der israelischen Armee, gefolgt von den offiziellen Delegationen aus Israel und Polen, welche die Parade der Erinnerung und der Hoffnung anführen, in Bewegung. Der MARSCH DER LEBENDEN, der von Auschwitz nach Birkenau führt, hat begonnen.
Auf dieser 3 Kilometer langen Strecke wird jeder Teilnehmer von der Bedeutung des Orts und des Moments überwältigt. Der Weg führt über die Eisenbahnbrücke, welche eine beeindruckende Zahl von Schienen überquert, auf denen einst die unheilvollen Todeszüge aus allen Ecken Europas eintrafen. Dann die Ankunft in Birkenau, wo über Lautsprecher die Namen, das Alter und die Herkunft der Deportierten verkündet werden, bis man am Ort angelangt ist, wo die bewegende Gedenkfeier stattfindet, vor den Ruinen der Gaskammern.
Doch was ist denn nun der "Marsch der Lebenden" wirklich?
Der Bericht eines jungen Juden aus Kanada, der an einem der ersten "Märsche der Lebenden" 1990 teilnahm, fasst in wenigen Worten die Atmosphäre, in der dieses Ereignis ins Leben gerufen wurde, sowie das Warum und Wie des Ablaufs zusammen.
"Als wir nach Birkenau marschierten, trug ich die israelische Flagge, die man mir gegeben hatte, und ich hatte tatsächlich das Gefühl, einer der Wächter der jüdischen Erinnerung an die Ereignisse zu sein, die sich an diesem Ort abgespielt hatten. Ich fragte mich, was in den Köpfen der Opfer dieser Lager vorgegangen sein mochte. Konnten sie sich vorstellen, dass es nach ihrem Tod noch ein jüdisches Volk geben würde? Ich begriff den tieferen Sinn unserer Rückkehr an diesen Ort, die Bedeutung unserer Erinnerung an jene, die hier gelitten und ihr Leben gelassen hatten, und dass man ihnen auf diese Weise die Würde zurückerstattete, die sie verdienten. Die Tatsache, die Fahne Israels an diesem Ort zu tragen, war für mich und für sie der eindeutige Beweis, dass diese Tragödie nicht das Ende des jüdischen Volkes bedeutet hatte".
Wir wollten die tieferen Gründe für den Erfolg dieser bedeutenden Veranstaltung besser verstehen und trafen daher mit ABRAHAM HIRSCHSON zusammen, dem Knessetabgeordneten, aber vor allem dem Gründer und Präsidenten des "Center for the Study of Jewish Heroism - March of the Living".
Wie ist Ihnen ursprünglich die Idee gekommen, einen "Marsch der Lebenden" zu veranstalten?
Bevor ich Ihnen auf diese Frage antworte, möchte ich die Worte zitieren, die Elie Wiesel in Auschwitz anlässlich eines Marsches der Lebenden aussprach und die auch heute - mehr denn je - nichts von ihrer Bedeutung eingebüsst haben: "Wie kann man hier und heute nicht erschüttert sein vom gegenwärtigen Angriff auf die jüdische Erinnerung? Einige Personen leugnen die Tatsachen und die historischen Fakten, andere sagen, dass wir schuldig waren. Wieder andere benutzen in ihrer Aggressivität, wenn sie Israel attackieren, das Vokabular, das wir brauchen, um die Taten unserer Henker zu bezeichnen. Wir waren überzeugt, der Antisemitismus sei hier gestorben. Er ist aber nicht versiegt... nur die Opfer haben ihr Leben gelassen".
1986 veröffentlichte ein gewisser Professor Henri Roch an der Universität von Nantes ein Papier, in dem er sich nicht damit begnügte, die Schoah zu leugnen, sondern in dem er behauptete, es handle sich um eine jüdische Erfindung. Als ich von dieser Gemeinheit erfuhr, erschien es mir notwendig, sofort zu reagieren. Es ging nicht darum, sich auf eine einfache Verurteilung dieser Publikation zu beschränken, sondern etwas Gewichtiges zu unternehmen, an dem sich die gesamte jüdische Welt in grossem Ausmass beteiligen würde. Eine zugleich nachhaltige und moderne Antwort drängte sich auf, mit welcher man die Juden überall auf der Welt aufrütteln konnte. Mich beflügelte ebenfalls der Gedanke, dass in gewisser Weise unsere "Uhr ablief", da die Überlebenden, die darüber berichten konnten, nicht mehr lange unter uns weilen würden. Nach ihrem Tod würde die Epoche der Schoah trotz ihres Ausmasses unweigerlich auf ein historisches Ereignis reduziert werden, das gegen die Theorien und Untersuchungen der Geschichtswissenschaftler würde kämpfen müssen, zu denen bestimmt auch Negationisten gehörten; diese würden ihr Gift verspritzen, indem sie die Realität des Völkermordes an den Juden leugneten. Und plötzlich kam mir die Idee, den "Marsch der Lebenden" ins Leben zu rufen. Damals war ich noch nicht Knessetabgeordneter und vertrat keine einzige jüdische Organisation. Ich packte meinen Koffer und nahm den Pilgerstab und begann mich in der jüdischen Welt umzutun, um die finanziellen Mittel und die Unterstützung zur Verwirklichung meiner Idee aufzutreiben. Doch neben diesen beiden Elementen erwies sich auch ein drittes als sehr wichtig: ich musste die Eltern davon überzeugen, mir ihre Kinder zwischen 16 und 18 Jahren für eine Reise nach Polen anzuvertrauen, das zu jener Zeit natürlich noch kommunistisch war. 1988, d.h. anderthalb Jahre nach meinem Einfall, fand der erste "Marsch der Lebenden" statt, 1500 Jugendliche aus Delegationen, die aus 22 Ländern angereist waren, nahmen daran teil. Ich hatte keine Ahnung, wie die jungen Leute reagieren würden, bis einer von ihnen die Gefühle aller in folgende Worte fasste: "Fünf Minuten in Auschwitz-Birkenau haben mir mehr gebracht als zehn Jahre Studium." Dieser Gedanke beweist, wie richtig die These ist: "Es ist sinnvoller, die Schule an den Ort der Schoah zu bringen als die Schoah in der Schule zu besprechen". Dies bedeutet natürlich nicht, dass dieser schreckliche Abschnitt unserer Geschichte nicht gelehrt werden soll. Als ich sah, wie erfolgreich diese erste Reise gewesen war, beschlossen wir, diese Veranstaltung alle zwei Jahre durchzuführen, was bis 1994 der Fall war. Wir stellten aber fest, dass einerseits die Nachfrage immer grösser wurde, und dass es andererseits unmöglich war, mehr als 6'000 Menschen aufs Mal teilnehmen zu lassen. Da fassten wir den Entschluss, den Marsch jedes Jahr zu organisieren, und zwar am Tag von Jom Haschoah. Ende April dieses Jahres wird der 13. Marsch der Lebenden stattfinden. Man darf nicht vergessen, dass von den 5- bis 6000 Teilnehmern nur etwa 1200 Israelis sind und dass die anderen aus 48 verschiedenen Ländern anreisen, darunter auch aus Marokko und Indien.
Weshalb der Name "Marsch der Lebenden"?
Ich wollte, dass Tausende von jungen Juden zusammen die Strecke zurücklegen, auf der Tausende von Juden zum "Todesmarsch" gezwungen wurden, um in den Gaskammern von Birkenau getötet zu werden. Ich wollte, dass diese Strecke ein Mal pro Jahr in ein Meer von israelischen Flaggen in weiss und blau verwandelt würde und dass junge Juden aus aller Welt gemeinsam dem ganzen Erdkreis verkünden: "Am Israel Chai" - Das jüdische Volk lebt und kämpft! Auf organisatorischer Ebene ist es ein sehr umfangreiches Unterfangen, das zum grössten Teil von Freiwilligen aus allen betroffenen Ländern realisiert wird. Hier ein kleiner Einblick in die Tragweite der Arbeit: wir schicken jedes Mal hundert Tonnen koschere Nahrung nach Polen. In Bezug auf die Sicherheit können wir uns auf eine ausgezeichnete Kooperation mit den polnischen Behörden stützen.
Glauben Sie, dass die Teilnahme am "Marsch der Lebenden" neben dem rein pädagogischen Aspekt auch andere positive Auswirkungen auf die Mitwirkenden hat?
Eine Studie hat uns gezeigt, dass diese jungen Leute, die nach Polen kommen um auf den Spuren einer verschwundenen Welt zu wandeln und zu begreifen, wie eine ganze Generation von Juden auf diese Weise vernichtet werden konnte, mit ganz anderen Eindrücken nach Hause zurückkehren, als sie zunächst erwartet hatten. Viele von ihnen fühlen sich in ihrer jüdischen Identität gestärkt, empfinden sich als noch jüdischer, nehmen (z. T. wieder) am Gemeinschaftsleben teil, studieren in Israel oder lassen sich gar dort nieder.
Welche anderen Folgen haben Sie festgestellt?
Davon gibt es mehrere. Einer der Hauptziele dieser Aktion besteht darin, eine Beziehung zwischen den Überlebenden, die leider langsam von uns gehen, und den zukünftigen Generationen herzustellen. Es ist natürlich unmöglich, alle Juden der Welt nach Auschwitz zu bringen. Die ersten Teilnehmer an den Märschen haben nun aber Familien gegründet und Kinder bekommen. Sie alle haben verstanden, wie wichtig es ist, die Flamme der Erinnerung am Leben zu erhalten und weiterzugeben. Sie alle haben ihren Freunden und in ihren Gemeinschaften von ihren Erlebnissen berichtet, und diese Erzählungen haben sehr viel ausgelöst und bewirkt. Das ganze Jahr über werden Reisen nach Polen, in die Lager und an die Orte organisiert, wo die heute verschwundenen Gemeinschaften gelebt haben. Es gibt nicht nur den Marsch. Die israelischen Schulen veranstalten zahlreiche Reisen nach Polen, und dies ist umso wichtiger, als wir in einer Zeit leben, in der die Existenz des jüdischen Staates selbstverständlich erscheint. Es ist wesentlich, dass die jungen Israelis wissen, wie das jüdische Volk aussah und was ihm vor der Gründung des Staates zugestossen ist. Die Flagge Israels und die Nationalhymne, die "Hatikwah", besitzen eine ganz andere Bedeutung, als wenn sie in Israel selbst getragen oder angestimmt werden. Viele Jugendliche schleppen die Flagge, bis ihnen die Handgelenke wehtun, und singen die Hatikwah, bis sie heiser sind. Für die Israelis verkörpert dies eine Quelle zur Stärkung ihrer jüdischen und auch nationalen Identität, obwohl einige behaupten, sie hätten eine derartige Erfahrung nicht nötig, um patriotische Gefühle zu entwickeln. Ausserdem klafft trotz allem ein psychologischer Graben zwischen den Israelis und den Juden der Diaspora. Beim "Marsch der Lebenden" entsteht ein Gefühl der Zusammengehörigkeit. Plötzlich verstehen die aus Südamerika, Marokko und Israel angereisten jungen Juden, dass sie ein gemeinsames Schicksal teilen und dass die Nazis keinen Unterschied machten: sie ermordeten keine Aschkenasim oder Sepharden, sondern einfach Juden. Zur Veranschaulichung dieser Worte erinnere ich an die Geschichte des jungen Israelis äthiopischer Abstammung, der nach dem Marsch der Lebenden zu mir kam und sagte: "Ich habe zum ersten Mal gespürt, dass ich zum jüdischen Volk gehöre". Diese Erlebnisse verstärken die Verbindung zwischen den Überlebenden und den neuen Generationen, von der ich gesprochen habe.
Wir haben begonnen, das pädagogische Ausmass unseres Vorgehens auszudehnen, indem wir nichtjüdische Studenten am Marsch teilnehmen lassen. Im Verlauf der letzten Jahre haben uns im Schnitt 500 junge Leute aus 22 Ländern, darunter auch aus Deutschland, nach Auschwitz begleitet. Ich denke, dass es in einer Zeit, in der die Verleugnung der Schoah in den weltweit besten Universitäten zum intellektuellen Lehrplan gehört, sehr wichtig ist, dass sich Juden und Nichtjuden zusammentun, um gegen diese unheilvolle Entwicklung anzukämpfen. Letztere kann man nur dann für diesen Kampf an unserer Seite begeistern, wenn sie begreifen und wissen, worum es geht. Ich habe auch israelische Araber teilnehmen lassen, unter ihnen auch einige Abgeordnete. Nach der Reise sagten sie mir, sie verstünden nun besser, was Israel wirklich für uns bedeute, und sie hätten erfasst, wie viel uns an einem unabhängigen Staat liege.
Abschliessend möchte ich hinzufügen, dass jeder Teilnehmer am Marsch der Lebenden eine unvergessliche und ganz besondere persönliche Erfahrung macht. Es gibt unzählige Beispiele und Berichte, doch jeder Einzelne erlebt sowohl als Individuum als auch als Teil einer Gemeinschaft einen einzigartigen Moment. Vergessen wir nicht, dass der Marsch der Lebenden nicht nur von Auschwitz nach Birkenau führt, sondern auch von Polen nach Israel, da die jungen Juden aus aller Welt ihre Reise in Jerusalem beenden, um dort Jom Haatsmauth zu feiern, das Unabhängigkeitsfest.
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