K. ist heute 45 Jahre alt und hat zwanzig Jahre seines Lebens der Gründung und Führung eines Unternehmens für Spitzentechnologie gewidmet, das er zu einem recht rentablen Geschäft entwickelt hat. Aufgrund der gegenwärtigen weltweiten Rezession ist jedoch die Nachfrage nach den von ihm entwickelten Produkten jedoch dramatisch zurückgegangen und K. setzt zusammen mit seiner Frau zahlreiche Arbeitsstunden für den Fortbestand seiner Gesellschaft ein.
Zu Beginn nahmen K. und seine Frau diese neue Herausforderung mit nie erlahmendem Mut und grosser Hartnäckigkeit in Angriff: sie strengten sich enorm an und widmeten ihre ganze Zeit der Büroarbeit oder den Geschäftsreisen ins Ausland. Bis K.s Vater den ersten Hirnschlag erlitt. Der 75-jährige Witwer, ein gebildeter, humorvoller und sehr charmanter Herr, hatte bis zu diesem Zeitpunkt vollkommen unabhängig gelebt. Auf einmal kam er allein nicht mehr zurecht. Er litt unter regelmässig wiederkehrenden Schwindelanfällen und wurde teilweise zum Aphasiker. Die Diagnose fiel nicht sehr positiv aus: der Vater von K. wird nie mehr seine frühere Gesundheit zurückgewinnen, ganz im Gegenteil, sein Zustand wird sich noch verschlechtern.
K. und seine jüngere Schwester haben lange über diese neue Situation diskutiert und sehen nun verschiedene Lösungen: entweder kommt der Vater in ein Altersheim, oder er kann zu Hause wohnen bleiben, wenn sie für ihn eine Pflegerin beschäftigen, die sich rund um die Uhr um ihn kümmert. Da der Vater nicht sehr wohlhabend ist, würde die Finanzierung qualitativ hoch stehender Pflege die Geschwister teuer zu stehen kommen. K. könnte seinen Vater aber auch bei sich daheim aufnehmen, doch in diesem Fall müsste das Ehepaar die Arbeitsstunden ausser Haus deutlich einschränken, was die Zukunft ihres Technologieunternehmens gefährden könnte. Falls die Schwester von K., die zusammen mit ihrem Mann und den fünf Kindern in einer kleinen Wohnung lebt, den Vater bei sich aufnimmt, sind Probleme mit ihrer Familie unausweichlich. Die einzige Lösung, die erschwinglich erscheint und beide Familien nicht zu sehr belasten würde, bestünde darin, den Vater in ein Altersheim der unteren Klasse einzuweisen, das nicht ganz so teuer ist. Als aber K. und seine Schwester das Heim besuchen, das sie ausgewählt haben, wird ihnen klar, dass ihr Vater, dessen Wohnung immer ordentlich und gepflegt war, hier zutiefst unglücklich wäre. In welchem Ausmass sind sie verpflichtet, ihre Zeit und ihr Geld zu opfern, um ihrem Vater in seinen letzten Jahren ein möglichst angenehmes und zufriedenes Lebens zu ermöglichen ?
Gemäss den Weisen bedeutet das fünfte der zehn Gebote "Du sollst Vater und Mutter ehren" (Exodus 20, 12; Deut. 5, 16), dass der Sohn für die physischen Bedürfnisse seines Vaters aufkommen muss. "Ehren" heisst, dass er ihn ernähren, unterbringen, kleiden und bei der Erledigung seiner Angelegenheiten unterstützen muss (Abhandlung Kidduschin 31b). Da man unter dem Begriff "ehren" die Pflicht versteht, für alle Bedürfnisse der Eltern zu sorgen, scheint es sich dabei nicht um minimale Unterstützung zu handeln, dank der der Vater einfach am Leben erhalten wird, sondern um eine weiter gehende Versorgung, die sich zweifellos eher am Lebensstandard orientiert, den der Elternteil früher gewohnt war.
Im Talmud gehen die Meinungen darüber auseinander, wer denn für die Betreuung des Elternteils zuständig ist. "Die Weisen fragen sich: Wer kommt (für seine Ernährung) auf ? Raw Yehuda sagt: Der Sohn. Raw Nachman ben Oschaya sagt: Der Vater. Die Rabbiner haben sich in Übereinstimmung mit dieser Meinung ausgesprochen und halten fest, dass für diese Betreuung der Vater aufkommen muss." (ibid.) Einige Gelehrte, die im Kommentar des Tossafot zitiert werden, gehen allerdings davon aus, dass der Sohn die Kosten übernehmen muss, wenn der jeweilige Elternteil seinen Lebensunterhalt nicht selbst bestreiten kann; Grund dafür ist die allgemeine Wohltätigkeitspflicht, die jeden Juden dazu anhält, die Armen zu unterstützen.
Im Schulchan Aruch (Yore De'ah 240, 5) hält Rabbi Yossef Karo fest: "Die Pflicht, die Eltern zu ernähren, muss auf Kosten der Eltern erfüllt werden, wenn sie über die notwendigen Mittel verfügen. Falls dies nicht der Fall ist und der Sohn wohlhabend genug ist, zwingt es (das Gericht) ihn, gemäss seinen Möglichkeiten für die Bedürfnisse des betroffenen Elternteils aufzukommen. Sollte der Sohn über diese Mittel nicht verfügen, ist er nicht verpflichtet, zu betteln (Wohltätigkeit zu verlangen), um für seine Eltern aufzukommen..." Hier setzt Rabbi Mosche Isserles (der Rema) an, Kommentator des Schulchan Aruch im 16. Jh.: "Einige Fachleute haben bestimmt, dass er (der Sohn) nicht gezwungen ist, seinem Vater mehr zu geben, als er für wohltätige Zwecke zu geben verpflichtet ist." Diese Bemerkung weist darauf hin, dass der Rema mit der weiter oben aufgeführten Regel nicht einverstanden ist. Rabbi Schabtai Ha'Kohen (der Schach), berühmter Kommentator des Schulchan Aruch im 17. Jh., hinterfragt diese scheinbare Uneinigkeit. Auch nach Ansicht von Rabbi Yosef Karo entspringt die Pflicht des Sohnes letztendlich der allgemeinen Wohltätigkeitspflicht, was die Anmerkung "gemäss seinen Möglichkeiten" erklärt. Worauf fusst in diesem Fall der Kommentar des Rema, der auf eine Diskrepanz zwischen diesen Gelehrten - welche die Pflicht des Sohnes durch die Wohltätigkeitspflicht beschränkt sehen - und der im Schulchan Aruch festgelegten Regel schliessen lässt?
Rabbi Mosche Feinstein, Halacha-Koryphäe im 20. Jh., bereinigt diese Uneinigkeit (Dibrot Mosche, Baba Kama, Bd. I, 26). Die Wohltätigkeitspflicht ist eine limitierte Verpflichtung, die im Verhältnis zum Besitz und zum Einkommen jedes Menschen zu erfüllen ist. Im Idealfall müsste jeder einen Fünftel seines Einkommens für wohltätige Zwecke einsetzen, in keinem Fall weniger als einen Zehntel (Schulchan Aruch, Yore De'ah 249, I). Diese Einschränkung ist jedoch nur dann gültig, wenn der Spender keine besonderen Verpflichtungen gegenüber dem Bedürftigen besitzt; sobald er seinen Beitrag geleistet hat, kann er es den anderen überlassen, durch ihre Spenden den Betrag, der zur Deckung der Bedürfnisse eines Armen notwendig ist, zu vervollständigen. Ist jedoch eine spezifische Pflicht vorhanden und gibt es keine anderen Menschen, die sich vom Schicksal dieses einen Bedürftigen betroffen fühlen, muss der Spender für alles aufkommen, ausser wenn er dadurch so arm wird, dass er selber betteln müsste.
Gemäss der vom Rema angeführten Meinung entspricht die Verpflichtung des Sohnes, auf eigene Kosten für die Bedürfnisse seines Vaters aufzukommen, der einfachen Pflicht zur Wohltätigkeit und ist demnach auf einen Fünftel oder Zehntel des Einkommens des Sohnes beschränkt; folglich "ist der Sohn nicht gehalten, dem Vater mehr zu geben als er (im Allgemeinen) der Wohltätigkeit zu spenden verpflichtet ist". Doch gemäss dem Schulchan Aruch schliesst das Gebot "Du sollst Vater und Mutter ehren" die besondere Verpflichtung ein, für die Eltern zu sorgen. Die Wohltätigkeitspflicht zwingt den Sohn dazu, dies auf eigene Kosten zu tun, falls der betreffende Elternteil arm ist. Demnach gilt hier die Beschränkung auf einen Fünftel oder einen Zehntel des Einkommens nicht. Die Fähigkeit des Sohnes, weiterhin auch seinen eigenen Lebensunterhalt zu bestreiten, stellt die einzige Einschränkung dar. "Falls der Sohn finanziell dazu nicht in der Lage ist, muss er nicht betteln gehen, um für seine Eltern zu sorgen"; laut Rabbi Mosche Feinstein bedeutet dieser Vorbehalt, dass der Sohn nicht verpflichtet ist, sein letztes Geld herzugeben und dann zum Betteln gezwungen zu sein, um selbst zu überleben.
Es existiert eine ähnliche Wohltätigkeitspflicht, bei der das Eingreifen der "anderen" nicht berücksichtigt wird und die folglich keiner Einschränkung durch das Einkommen unterliegt, über das man verfügt: es geht um die Pflicht der Gemeinschaft, sich um ihre Bedürftigen zu kümmern. Diese Verpflichtung ist bedingungslos und nicht vom Einkommen der Gemeinschaft abhängig. Die Halacha sieht jedoch keine unbeschränkte Verpflichtung vor. Im Gegensatz zur individuellen Wohltätigkeit, von der man verlangt, dass sie für alle Ausgaben des Armen aufkommt, muss die Wohltätigkeit der Gemeinde nur die Grundbedürfnisse abdecken (Schulchan Aruch, Yore De'ah 256, I). Logischerweise scheint also der Sohn selbst nach Ansicht des Schulchan Aruch verpflichtet zu sein, die vorgeschriebene Einschränkung - ein Fünftel oder ein Zehntel seines Einkommens - zu überschreiten, wenn die Grundversorgung des Elternteils gesichert werden soll. Er wäre allerdings gezwungen, für sämtliche Bedürfnisse des Elternteils im Rahmen des ihm vertrauten Lebensstandards aufzukommen, wenn die damit verbundenen Ausgaben im Rahmen dieser Einschränkung liegen.
Im Shulchan Aruch heisst es weiter: "Der Sohn muss den Elternteil persönlich ehren (ihm dienen, sich um ihn kümmern), auch wenn er aufgrund dieser Betreuung der Arbeit fernbleiben muss, die er zur Sicherung seines eigenen Lebensunterhalts ausführt, und wenn er dadurch unter Umständen zum Betteln gezwungen wird. Dies gilt nur dann, wenn der Sohn über die Mittel verfügt, um sich an diesem Tag sein Essen zu kaufen; ist dies nicht der Fall, muss er der Arbeit nicht fernbleiben und muss nicht betteln gehen. Rabbi Mosche Feinstein erklärt, dass dieser Entscheid (Dibrot Mosche, Nedarim 11,1) ausschliesslich den Fall eines Sohnes betrifft, der Tagelöhner ist: er ist verpflichtet, einen Arbeitstag auszulassen, um sich um seinen Vater zu kümmern, unter der Voraussetzung, dass er genug Geld besitzt um an diesem Tag seinen eigenen Lebensunterhalt zu bestreiten, auch wenn er dabei Gefahr läuft, später in Not zu geraten. Geht der Sohn aber einem regelmässigen Broterwerb nach und droht er diesen zu verlieren, weil er die Zeit damit verbringt, sich um den Vater zu kümmern, wird er von seiner Pflicht entbunden. Wie weiter oben bereits ausgeführt wurde, bezieht sich diese Befreiung nicht auf die Grundbedürfnisse des Elternteils, für die der Sohn nach Ansicht des Schulchan Aruch unter allen Umständen aufkommen muss, ausser wenn er dazu betteln gehen müsste.
Gemäss der Halacha ist eine verheiratete Frau von dieser Pflicht befreit, wenn die Tatsache, Vater und Mutter zu ehren (und für ihren Unterhalt aufzukommen), zu Schwierigkeiten in ihrer eigenen Familie führt (Schulchan Aruch, Yore De'ah 240, 17). Demnach ist K.s Schwester nicht verpflichtet, den Vater in ihrer kleinen Wohnung aufzunehmen. K. selbst ist gehalten, für die Grundbedürfnisse seines Vaters aufzukommen, doch braucht er nicht mehr zu tun, wenn dies seinem Unternehmen schaden könnte. K. muss jedoch alles tun, damit sein Vater möglichst glücklich ist und sich wohl fühlt, auch wenn dies über die engen Grenzen der Sohnespflicht hinausgeht.
* Rabbiner Shabtai A. Rappoport leitet die Yeschiwah "Schwut Israel" in Efrat (Gusch Etzion). Er hat vor kurzem die letzten beiden Bände der Responsen herausgegeben, die von Rabbiner Mosche Feinstein, s.A., geschrieben wurden. Er entwickelt gegenwärtig eine Datenbank, die alle aktuellen Themen der Halacha umfasst. Richten Sie Ihre Fragen oder Kommentare an folgende E-Mail-Adresse: shrap@bezeqint.net.
|