K. ist eine wichtige Stütze der lokalen jüdischen Gemeinschaft. Der vermögende Industrielle ist für seine Ehrlichkeit in geschäftlichen Angelegenheiten und für seine philanthropischen Bemühungen bekannt. Er hat Kontakte zu bedeutenden Persönlichkeiten der lokalen Regierung sowie zu Vertretern der Justiz. Die Gattin eines der herausragendsten Gemeindemitglieder hat sich vor kurzem an ihn gewandt und bat ihn um ein Gespräch unter vier Augen. Es ging das Gerücht um, in der Ehe dieses Paares würde es kriseln, doch die Freunde und Bekannten der beiden hüteten sich, aus Respekt vor dem Privatleben dieser angesehenen Familie, hier einzugreifen. Während des Gesprächs erfährt K. von der Ehefrau, dass sie seit langem von ihrem Mann misshandelt wird.
K. hörte sich diesen erschütternden Bericht an, der zweifelsfrei der Wahrheit entsprach, obwohl er in jeder Hinsicht das Bild widerlegte, das er von diesem, ihm seit langem bekannten Mann besass. Die ganze Nacht tat er kein Auge zu. Sollte er sich in diese Ehegeschichte einmischen? Ging ihn dieser private Konflikt etwas an? Seine erste Reaktion bestand darin, die Bitte der Ehefrau zu ignorieren, sich zu sagen, in diesen Situationen seien immer beide Beteiligten ein wenig schuld, beide Parteien hätten wohl Fehler gemacht; der Streit musste innerhalb der Familie beigelegt werden, vielleicht konnte ein Paartherapeut beigezogen werden.
In seiner endgültigen Zusammenstellung der Halacha, Arbaa Turim, zitiert Rabbi Yaakov ben Rabbi Ascher – eine bekannte Koryphäe des 14. Jahrhunderts – eine juristische Entscheidung (Responsa) seines berühmten Vaters (Even Ha'Ezer siman 154) in Bezug auf einen Ehemann, der regelmässig durch sein irrationales Verhalten und seine Wutausbrüche auffällt. Die Ehefrau erklärt, ihr Vater sei arm gewesen und sie habe diesen Mann geheiratet, weil ihr nichts anderes übrig geblieben sei. Zunächst habe sie gehofft, sein Verhalten ertragen zu können, doch jetzt sei sie am Ende ihrer Kräfte: er führt sich auf wie ein Geisteskranker und sie fürchtet, er würde sie während eines Wutanfalls einmal umbringen. Es stellte sich nun folgende Frage: muss das lokale Rabbinergericht den Mann dazu zwingen, seiner Frau die Scheidung zu gewähren? Rabbi Ascher verneint dies, da man die Scheidung nur unter den Umständen erzwingen könne, die ausdrücklich von den Weisen genannt würden. In diesem Fall sei es die Sache der Ehefrau, die Scheidung mit ihrem Mann auszuhandeln oder sich weiterhin darum zu bemühen, ihn so zu akzeptieren, wie er ist, seine finanzielle Unterstützung anzunehmen und die Ehe weiterzuführen. Dieser Entscheid wird ebenfalls von Rabbi Yossef Karo in seinem Kodex Schulchan Aruch (ibid. Abs. 5) erwähnt. Bedeutet dies, dass das jüdische Gesetz die Augen verschliesst angesichts ehelicher Gewalt?
Die berühmte Halacha-Koryphäe des 20. Jahrhunderts, Rabbiner Mosche Feinstein, diskutiert (Igrot Mosche Even Ha'Ezer Vol I siman 80) die Gültigkeit einer Ehe, in deren Verlauf die Ehefrau entdeckt, dass ihr Mann geisteskrank ist. Er hält fest, dass eine derartige Ehe ungültig ist, wenn die Ehefrau über den geistigen Zustand ihres Mannes vor der Eheschliessung nicht Bescheid wusste. Rabbiner Feinstein erklärt, dass die oben erwähnte Antwort von Rabbi Ascher seiner eigenen Entscheidung nicht widerspreche, das es sich im ersten Fall nicht um einen Geisteskranken, sondern vielmehr um einen Mann mit einem schlechten Charakter handle, mit dem man sich mit viel Geduld und Weisheit vielleicht vertragen könnte. Rabbiner Feinstein fügt jedoch im Namen von Rabbi Eliyahu aus Wilna (Biurei Ha’Gr’a seif katan 17) hinzu, dass die Antwort von Rabbi Ascher mit einem Entscheid von Rabbi Schlomo ben Aderet, einer herausragenden Autorität des 13. Jahrhunderts, die ebenfalls im Schulchan Aruch (ibid. seif 3, Kommentar von Rabbi Mosche Isserlish) zitiert wird, kompatibel zu sein scheint. In diesem Entscheid geht es um einen Ehemann, der seine Frau während seinen Wutausbrüchen regelmässig dazu auffordert, die eheliche Wohnung zu verlassen. Rabbi Schlomo urteilt, dieser Mann müsse zur Scheidung gezwungen werden, weil eine derartige Ehe als unerträglich angesehen wird. Auf den ersten Blick scheint die beschriebene Situation nicht ernster zu sein als diejenige, die in der Responsa von Rabbi Ascher erwähnt wird, wo er doch entschied, es gebe keinen Grund, den Mann zur Scheidung zu zwingen. Rabbi Eliyahu erklärt (gemäss der Auslegung seiner kurzen Anmerkung durch Rabbiner Feinstein), dass die Antwort von Rabbi Ascher sich auf eine Ehefrau beziehe, die sich zum Zeitpunkt der Eheschliessung des schlechten Charakters ihres zukünftigen Ehemanns bewusst gewesen sei und sich bereit erklärte, ihn trotzdem zu akzeptieren, da sie meinte, mit seinen Wutanfällen umgehen zu können. Nur in diesem Fall könne der Mann nicht zur Scheidung gezwungen werden. Die Entscheidung von Rabbi Schlomo bezieht sich jedoch auf einen Ehemann, der nach der Heirat gewalttätig geworden ist; daher ist die Frau nicht verpflichtet, weiterhin mit ihm zusammen zu leben, da ein solches Verhalten für eine Frau in der Regel inakzeptabel sei.
Nach der Erwähnung dieser Responsa von Rabbi Schlomo in seinen Kommentaren des Schulchan Aruch zitiert Rabbi Mosche Isserlish deutsche Halacha-Spezialisten aus dem 13. Jahrhundert: «Ein Ehemann, der seine Frau körperlich misshandelt, verletzt ein biblisches Gebot wie jeder Mann, der seinen Nächsten angreift. Kommt dies häufig vor, muss das Gericht ihn bestrafen, ihn aus der Gemeinschaft ausschliessen, ihn angemessen körperlich züchtigen und ihn dazu verpflichten, unter Eid zu versprechen, nicht mehr gewalttätig zu sein. Wenn er nicht einwilligt, wird er gemäss dem Beschluss bestimmter Instanzen nach ein- oder zweimaliger Vorwarnung gezwungen, seiner Frau die Scheidung zu gewähren, da die Misshandlung der Ehefrau ein Verhalten sei, das für einen Juden unzulässig ist, auch wenn dies bei den Ungläubigen toleriert werde.»
Halten wir fest, dass das jüdische Recht auch die verbale Gewalt als eine Aggression ansieht und sie daher als ebenso inakzeptabel verurteilt.
Im Kapitel, das als Einführung zum Band über das Zivil- und Strafrecht dient (Tur Choschen Mischpat), beleuchtet Rabbi Yaakov ben Ascher eine interessante Abweichung zwischen zwei recht ähnlichen Redewendungen, die im ersten Kapitel der Abhandlung erwähnt werden Avot. Das erste Sprichwort wird Rabbi Schimon dem Gerechten zugeschrieben, der zu Beginn des Zweiten Tempels lebte: «Das Universum ruht auf drei Pfeilern: der Torah, dem Dienst an G“tt und der Anwendung von Güte.» Das zweite Sprichwort soll von Rabbi Schimon ben Gamliel aus dem 2. Jahrhundert stammen: «Das Universum stützt sich auf drei Pfeiler: Gerechtigkeit, Wahrheit und Frieden.» Rabbi Yaakov zitiert die Erklärung, die Rabbi Yona von Girondi dazu gab. Die erste Redewendung bietet eine Reihe von absoluten Werten; das Universum existiert, damit diese Ideale erreicht werden können. Die zweite nennt eine Reihe von Mindestvoraussetzungen, damit die Welt lebenswert bleibt und nicht in Anarchie versinkt; die Gerechtigkeit soll das Böse verhindern, die Wahrheit soll die Herrschaft der Lüge verunmöglichen und der Frieden die Gewalt unterbinden. Rabbi Yona scheint anzudeuten, dass die Bestrafung von Verbrechen gemäss der Torah in einer Gesellschaft stattzufinden hat, in der die Ideale aus dem ersten Sprichwort gelten. Innerhalb einer solchen utopischen Gesellschaft sind Gewalt und andere Verbrechen aufgrund eben der gesellschaftlichen Struktur äusserst selten und die Bestrafung muss auf der absoluten Gerechtigkeit beruhen. Ist das Verbrechen aber verbreitet und der moralische Standard der betreffenden Gesellschaft tiefer, drängt sich die unmittelbare Notwendigkeit der zweiten Gruppe von Kriterien auf: die Gerichte und Gemeinschaften müssen neue Massnahmen verabschieden, um «Gerechtigkeit, Wahrheit und Frieden» zu gewährleisten. Die Garantie von Gerechtigkeit, Wahrheit und Frieden stellt für die Gemeinschaft eine zwingende Verpflichtung dar, und wenn man zu strengeren Strafen greifen muss – dann geschieht dies auch. Sonst zerfällt nämlich die Gesellschaft. Zahlreiche juristische Urteile (zitiert in Choschen Mischpat siman 2) halten fest, dass die jüdische Gemeinde nichtjüdische Behörden anrufen muss, wenn sie allein nicht mehr in der Lage ist Gewalttaten zu verhindern, denn die Beendigung der Gewalt ist von grundlegender Bedeutung.
Die Bitte der bedrängten Ehefrau darf somit nicht ignoriert werden. Die Gemeinschaft muss als Ganzes die Wahrung von Gerechtigkeit, Wahrheit und Frieden gewährleisten, und zwar nicht nur im öffentlichen Leben, sondern auch in der Intimität der Familie oder der Ehe. Das Nichteingreifen angesichts eines gewalttätigen Ehemannes ist nicht zulässig, weil diese Gleichgültigkeit die Existenz der ganzen Gemeinschaft als jüdische Gemeinde zu untergraben droht und sehr schwerwiegende Folgen haben kann. Es ist daher die Pflicht von K., alles in seiner Macht Stehende zu unternehmen, um die Misshandlung zu beenden, die Scheidung gegebenenfalls durchzusetzen und dabei die Sicherheit der Ehefrau zu garantieren, und eventuell gar die lokale Polizei zu alarmieren.
* Rabbiner Schabtai Rappoport leitet die Yeschiwah "Schwut Israel" in Efrat (Gusch Etzion). Er hat vor kurzem die letzten beiden Bände der Responsen herausgegeben, die von Rabbiner Mosche Feinstein, s.A., geschrieben wurden. Er entwickelt gegenwärtig eine Datenbank, die alle aktuellen Themen der Halacha umfasst. Richten Sie Ihre Fragen oder Kommentare an folgende E-Mail-Adresse: shrap@012.net.il.
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