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Inhaltsangabe Kroatien Frühling 2002 - Pessach 5762

Editorial - Frühling 2002
    • Editorial

Pessach 5762
    • Optimismus ist unerlässlich

Politik
    • Zu besserem Bewusstsein

Interview
    • Der Schlüssel zum Sieg
    • Tourismus und Terrorismus

Strategie
    • Die dritte Streitkraft

Terrorismus
    • Die neue Logik Des Terrorismus

Reportage
    • Notfallstation
    • Die Moral stärken

Judäa – Samaria – Gaza
    • Das Leben geht weiter

Judäa - Samaria - Gaza
    • Stop in Rechelim

Medizin
    • Das Labor der Hoffnung

Wirtschaft
    • Solidarität - Wo bist Du ?

Kroatien
    • Stjepan Mesic – Präsident der Republik Kroatien
    • Jerusalem und Zagreb – Ljubljana – Bratislava
    • Jude in Hrvatska
    • Glavni Rabinat u Hrvatskoj
    • Eine ungewöhnliche Bibliothek
    • Die Schoah in Kroatien
    • Die Ustascha
    • Singen zum Überleben
    • Eine entscheidende Wende

Ethik und Judentum
    • Ins Privatleben Eingreifen ?

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Singen zum Überleben

Von Roland S. Süssmann
Während jeder Reportagereise wird uns irgendwann das Privileg zuteil, eine ganz besondere Persönlichkeit, um nicht zu sagen einen «Charakter» kennen zu lernen, der durch seine Ausdrucksweise, seine Wesensart, seine Lebensgeschichte und seinen Einsatz innerhalb der Gemeinschaft herausragt und die Essenz unserer Begegnungen und Eindrücke verkörpert, die wir im Laufe unseres Aufenthalts erlebt haben.
In Zagreb sind wir MICHAEL MONTILJO begegnet, einem rüstigen Siebzigjährigen, der auf vielerlei Hochzeiten tanzt: er amtet als Präsident der Gesellschaft Kroatien-Israel, als Präsident des gemischten jüdischen Chors «Lira» und als Vizepräsident der kroatischen Sektion der «World Conference of Religion and Peace». Die letztgenannte Organisation beruht zwar auf einem Übermass an gutem Willen, muss ihre Nützlichkeit jedoch noch unter Beweis stellen. Dies kann man unter keinen Umständen von den beiden anderen Organisationen behaupten, denen sich Michael Montiljo widmet. Bevor wir uns aber seiner Tätigkeit im Bereich des Judentums zuwenden, möchte wir erst mehr über unseren Gesprächspartner erfahren, der niemanden gleichgültig lässt.

Können Sie uns in wenigen Worten von den wichtigsten Etappen berichten, die Ihr Leben geprägt haben?

Im Gegensatz zum Rest meiner Familie besass ich das grosse Privileg die Schoah zu überleben. Ich wurde in Sarajevo geboren, wo es damals vier Synagogen gab, von denen drei sephardisch waren. Meine Familie war ebenso arm wie fromm und wir wohnten überdies nur 50 Meter von einer der sephardischen Synagogen entfernt. Heute leben nur noch 600 Juden in Sarajevo, viele von ihnen jedoch leider in einer gemischten Ehe. Als 1941 die Ustascha die Macht ergriff, wurde meine ganze Familie verhaftet, mein Vater, meine Mutter, meine beiden Brüder, meine beiden Schwestern und ich. Wir wurden alle zusammen in ein provisorisches Lager gesteckt, aus dem ich aber fliehen konnte. Ich war zu jener Zeit 13 Jahre alt, und da ich nicht wusste, wohin ich gehen sollte, kehrte ich einfach in unsere Wohnung zurück. Auf der Glastür waren Siegel angebracht, auf denen jedem, der diese Tür durchschritt, mit der Todesstrafe gedroht wurde. Dennoch bin ich eingetreten, holte ein paar Nahrungsmittel und klopfte dann an die Tür unserer Nachbarn, wo eine jüdische Familie wohnte. Aus irgendeinem unerfindlichen Grund war die Mutter nicht deportiert worden. Diese heute 84-jährige Dame, die im jüdischen Altersheim von Zagreb wohnt, rettete mir das Leben. Sie riet mir, mich in die italienische Militärzone in die Stadt Mostar zu begeben, wo sie eine Stelle im Baugewerbe für mich besorgte. Dazu muss man sagen, dass die Italiener dafür bekannt waren, die Juden nicht umzubringen. Nach drei Monaten sehr harter Arbeit warnte mich der Besitzer des Unternehmens, die Situation der Juden würde sich sehr rasch drastisch verschlechtern und ich solle mich lieber sofort bei den italienischen Behörden melden, um eine sichere Lösung für mich zu finden. Ich habe seine Ratschläge befolgt und wurde in ein Lager auf einer Adria-Insel eingewiesen. Wir waren nicht wirklich frei, doch wir waren gesund und in Sicherheit. Dazu muss man sich im Klaren sein, dass diese Lager nichts mit denjenigen gemein hatten, die von den Deutschen und der Ustascha geführt wurden; sie dienten in erster Linie dazu, die Juden von der restlichen Bevölkerung zu isolieren, und nicht dazu, sie umzubringen. Diese Lager wurden übrigens «Confinazione libera» genannt. Nach einiger Zeit wurden wir per Schiff in ein echtes Konzentrationslager auf der Insel Rab gebracht, das strenger war und den Namen «Campo di conentramento per internati civili di guerra» trug. Wir wurden in Baracken zusammengepfercht, die von Stacheldraht und bewaffneten Wachtürmen umgeben waren, doch wir haben überlebt. Nachdem ich ein Jahr in Gefangenschaft verbracht hatte, kapitulierte Italien (Ende 1943) und zwar zur grossen Freude unserer Wärter, die einberufen worden waren und nicht zu den Faschisten gehörten. Wir haben dann im Lager selbst ein Bataillon von Partisanen zusammengestellt, das sich den Streitkräften von Josip Broz, genannt Tito, anschliessen wollte. Auf dem Festland unserer Insel gegenüber war von Tito bereits eine Zone befreit worden. Wir haben es geschafft, auf kleinen Booten dorthin zu gelangen, und haben dank diesem Entschluss überlebt. Ungefähr 400 Personen, die davon überzeugt waren, dass die britische oder amerikanische Marine sie holen würde, blieben zurück. Es kamen aber die Deutschen, und sie wurden alle nach Auschwitz deportiert… Ich persönlich landete in der kleinen Hafenstadt Senj, von wo ich zu Fuss nach Slowenien aufbrach (400 km Marsch), bevor ich mich einem Partisanenbataillon anschloss und ein numeriertes Gewehr erhielt. Ich war noch keine 16 Jahre alt und hatte überlebt. Es war zu Beginn des Jahres 1944, im unabhängigen Staat Kroatien gab es damals ca. 4000 jüdische Partisanen. Nach Kriegsende kehrte ich nach Sarajevo zurück und begab mich sofort in die Wohnung, wo ich mit meinen Angehörigen gelebt hatte. Es lebte eine zehnköpfige muslimische Tschetnik-Familie aus Serbien darin. Ich ging also wieder fort, um mein Leben zu organisieren und meine Zukunft zu planen, denn ich hatte ja auch fast vier Jahre Schulbildung verloren. Ich liess mich in Osijek nieder, wo es uns in einem von den Partisanen gegründeten Gymnasium ermöglicht wurde, den Schulstoff aus zwei Jahren innerhalb eines Jahres zu absolvieren.

Welches Schicksal hat Ihre Familie erlitten?

Sie wurden alle umgebracht: mein Vater und meine beiden Brüder in Jasenovac, meine Mutter und meine Schwestern in Dakovo. Gleich zu Beginn der Deportationen wurden die Familien getrennt und in Lager geschickt, die weit voneinander entfernt lagen. Die Ustachi rühmten sich ihrer grossen «Menschlichkeit», denn da das Lager nur 300 Meter vom Friedhof entfernt lag, begruben sie ihre Opfer mit einem Mindestmass an Respekt. Selbst heute kann ich noch die Absurdität des Schreckens ermessen, den meine Angehörigen durchgemacht haben. Der Direktor des Nationalarchivs hat mir letzthin anvertraut, dass in einem Bericht des Internationalen Roten Kreuzes die Tatsache erwähnt wird, dass die Ustascha den Gefangenen in ihrem Lager in Dakovo Zitronen verteilten. Ich antwortete ihm: «Mich macht es glücklich zu wissen, dass meine Mutter und meine Schwestern vor ihrer Ermordung noch diese grosse humanitäre Hilfe erfahren haben…»

Wie setzten Sie nach Ihrer Niederlassung in Osijek Ihre Ausbildung fort?

Da ich aus Sarajevo stamme, galt ich nicht als kroatisches Opfer des Faschismus, ich hatte also für die Beendigung meines Studiums keinen Anspruch auf ein anständiges Stipendium. In meiner sogenannten «Freizeit» arbeitete ich als Kellner in einem Studentenrestaurant, wobei mein Lohn aus drei Mahlzeiten bestand. Unter diesen schwierigen Bedingungen schloss ich mein Diplom der Rechtswissenschaften ab, dann war ich vier Jahre lang als Anwalt tätig, bevor ich ins Aussenministerium eintrat, wo ich Karriere machte. Ich habe auch für das Regime von Franjo Tudjman gearbeitet, als er sein Amt gerade angetreten hatte, und wurde dann entlassen. Nachdem der hebräische Staat 1992 das neue unabhängige Kroatien anerkannt hatte, unternahm ich noch eine diplomatische Reise nach Israel. In jenen Tagen hatte Tujdman sein Buch herausgegeben, das einige antisemitische Abschnitte enthält. Ziel meiner Reise war es abzuklären, wie die Beziehungen zwischen den beiden Ländern trotz dieser Publikation verbessert werden könnten.

Sie haben in Ihrem Leben nicht nur gearbeitet, Ihr Steckenpferd ist der berühmte gemischte Chor von Zagreb, «Lira». Wie hat diese spannende und schöne Erfahrung begonnen?

Die jüdische Gemeinschaft von Zagreb beschloss vor 47 Jahren diesen Chor zu gründen, weil viele Mitglieder während der Schoah getötet worden waren und sie den Wunsch hegte, die schönsten Melodien unseres Kulturguts nicht nur zu bewahren, sondern auch weiterhin zu verbreiten. So singt unser Chor die herrlichen Melodien aus unserer liturgischen und volkstümlichen Tradition in hebräischer, jiddischer und spanischer Sprache. Unser Repertoire umfasst auch patriotische und folkloristische Lieder aus Kroatien sowie ausgewählte Stücke der grossen klassischen und zeitgenössischen Musik. Während fast vierzig Jahren hat Emis Cosetto den Chor dirigiert, seit vier Jahren ist nun Tomislav Uhlik, einer der jüngsten und begabtesten kroatischen Dirigenten und Komponisten, stabführend. 25 Jahre lang setzte sich der Chor ausschliesslich aus Juden zusammen. Doch mit der Zeit wanderten unsere jüdischen Chormitglieder nach Israel oder Amerika aus, verstarben oder singen einfach nicht mehr. Immer öfter musste ich folglich bei Menschen anklopfen, die Musik lieben und judenfreundlich eingestellt sind. Heute sind die Juden in der Minderheit, ausserdem zählen wir dreissig Frauen bei insgesamt fünfzig und Sängern. Der Chor tritt an Konzerten überall in der Welt auf, auch in der Schweiz, und wir haben 18 Platten, Kassetten und CDs aufgenommen. Ein Artikel über unseren Chor wäre unvollständig ohne die Erwähnung der Tatsache, dass wir das Privileg genossen haben, vor Tito zu singen, der uns herzlich gratulierte. Tudjman wiederum hat trotz seiner extrem nationalistischen Ideen , vielleicht aber gerade deswegen, das Kultusministerium ermächtigt, uns eine Subvention zu zahlen, denn er hatte begriffen, dass unsere Auftritte in der ganzen Welt, insbesondere diejenigen in den USA, Kroatien nur nützen könnten.
Ich möchte die Tatsache betonen, dass ich keinesfalls Musiker und mit knapper Not in der Lage bin, Noten korrekt zu lesen; dennoch bin ich die treibende Kraft und die Seele dieses Chors und kümmere mich um die kleinsten Details, die technischen, administrativen, finanziellen Aspekte usw. Ich werde nicht jünger, wie wir alle, doch im Moment habe ich noch keinen Nachfolger gefunden und fürchte, es würde das Ende des Chors bedeuten, wenn ich jetzt aussteige. Freiwillige, die bereit sind, ihre ganze Freizeit einer derartigen Aufgabe zu widmen, sind wie überall sehr schwer zu finden, wenn nicht gar inexistent!

Ihre andere Tätigkeit ist die Präsidentschaft der Gesellschaft Kroatien–Israel. In dieser Eigenschaft wurden Sie eingeladen, in der Delegation des Präsidenten an der historischen Reise des Präsidenten Mesic im Oktober 2001 teilzunehmen. Welches sind die Haupttätigkeiten dieser Vereinigung?

Als Fanjo Tudjman mich entliess, sagte ich mir, dass er mir wohl kündigen könne, dass ich aber deswegen noch lange nicht Däumchen drehen wolle. Ich habe also vor acht Jahren diese Vereinigung gegründet und einen Vorstand ins Leben gerufen, zu dem auch ein Bischof gehört. Wir möchten den wirtschaftlichen, kulturellen und touristischen Austausch zwischen beiden Ländern verbessern. In den letzten acht Jahren sind tausend Menschen über unsere Organisation nach Israel gereist, jeder von ihnen hat ungefähr US$.1'000.- für seine Reise gezahlt, was einem Beitrag von einer Million Dollar für den israelischen Tourismus entspricht! Wir veranstalten diverse israelische Kulturanlässe in Kroatien, die immer rege besucht werden, da von unseren 700 Mitgliedern 500 Juden sind. Leider habe ich mehr Erfolg mit den Reisen und den verschiedenen Aufführungen als im eigentlichen wirtschaftlichen Bereich.

Trotz seiner schwierigen Vergangenheit, trotz des Leids, das er während der Schoah erlebt hat, und trotz der Ermordung seiner Familie sprüht Michael Montiljo vor Energie und Optimismus und sprudelt vor Ideen für neue Projekte «seines» Chors über. Während des gesamten Gesprächs wiederholte er immer wieder, wie ein Leitmotiv: «Ich habe überlebt!»


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