Nachdem die Israelis anderthalb Jahre lang mörderische Attentate, unterschiedlich heftige Vergeltungsschläge und weitere blutige Anschläge hinnehmen mussten, finden sie sich jetzt mit einer alles andere als normalen Situation ab, ohne zu wissen, wie lange sie diese noch werden ertragen müssen. Sie haben sogar aufgehört, ihren Politikern die Frage zu stellen, denn es ist offensichtlich, dass auch diese die Antwort nicht kennen. Die Ministersitzungen sind heute ebenso effizient wie Stammtischgespräche: es gibt nichts Konkretes, nichts wirklich Neues, jeder wiederholt, was er vor einer Woche bereits sagte, alle haben irgendwie Recht, alle irren sich auch irgendwie. Und in zahlreichen Köpfen macht sich ein gewisser morbider Fatalismus breit.
Die Regierung der nationalen Einheit begnügt sich damit gemächlich dahin zu schippern, peilt keine entfernteren Destinationen an, kümmert sich ausschliesslich um den nächsten Strudel und schätzt sich bereits glücklich, die letzte Klippe wie durch ein Wunder umschifft zu haben. Die meisten Israelis gehen davon aus, dass es für die amtierende Regierung keine Alternative gibt, und werden sich gleichzeitig bewusst, dass diese ihre Aufgabe eigentlich nicht erfüllt, dass sie zu erstarren droht, dass sie nicht in der Lage ist, eine konsequente Politik durchzuziehen, ausser an den nationalen Zusammenhalt zu appellieren und zuzugeben, dass alles sicher erst mal schlechter wird, bevor es aufwärts gehen kann.
In dieser destruktiven Atmosphäre kristallisieren sich trotz allem zwei grundlegende Einstellungen heraus, die beide gefährlich und unbestimmt sind. Es sind keine langfristigen Lösungen – niemand wagt es heute von Frieden zu sprechen, die grössten Optimisten höchstens von einer provisorischen Einigung. Es geht nun einfach um den geeignetsten Weg, den Schaden zu begrenzen, eine Auszeit zu bekommen.
Die erste und beliebtere dieser beiden Varianten zielt auf eine Sanktifizierung des israelischen Territoriums ab. Ein Professor der Hebrew Universtiy in Jerusalem, der auf Militärgeschichte spezialisiert ist, schlägt sogar vor, eine Mauer den Linien von 1967 entlang zu errichten, die aber sehr viel höher sein soll als diejenige von Berlin, damit sogar Vögel sie nicht mehr überfliegen können. Und dies mindestens zwei oder drei Generationen lang. Eine derartige Trennung von Israelis und Palästinensern würde demnach bedeuten, dass alle jüdischen Siedlungen in Judäa-Samaria und Gaza aufgegeben werden und dass ihre Bewohner sich ins nationale Staatsgebiet zurückziehen. Andere, ernsthafte oder selbst ernannte Spezialisten sind weniger extrem und schlagen einen Teilrückzug und eine Linie mit schwer zu überwindenden militärischen Hindernissen vor. Dies würde Attentate nicht verhindern, ihre Zahl aber einschränken. Der Premierminister lehnt jedoch die Errichtung einer Abzäunung ab: sollten sich nach dem Bau Tausende von palästinensischen Frauen und Kindern dahinter drängen und rütteln, würden wir dann den Schiessbefehl erteilen? Nein, natürlich nicht, meint Ariel Sharon, der darüber hinaus auch nicht leugnet, dass er jeden Rückzug aus einer jüdischen Siedlung, egal wo sie liegt, ablehnt. Und der Premierminister kündigt innerhalb der Gebiete die Schaffung von mehreren Kilometer tiefen Pufferzonen an, in denen die israelische Armee patrouillieren und dafür sorgen soll, dass das Hinterland bestmöglich geschützt wird. Ist dies tatsächlich sein Ernst, fragen sich viele Israelis, handelt es sich dabei nicht um ein praktisch nicht zu verwirklichendes Projekt, das die Zivilbevölkerung nur etwas beruhigen und ihr Sand in die Augen streuen soll? Durch den Erwerb von Raketen und Minenwerfern, die zwar noch recht primitiv sind, deren Reichweite und Präzision sich aber zweifellos verbessern werden, ist die palästinensische Behörde in jedem Fall in der Lage, die Ortschaften an der Grenze zu bedrängen. Wir haben ja miterlebt, dass es der israelischen Armee in achtzehn Monaten nicht gelungen ist, die Schüsse auf das Quartier von Giloh in Jerusalem zu verhindern.
Die zweite Variante besteht darin, der Armee völlig freie Hand zu lassen und sie zu beauftragen, die palästinensische Autonomiebehörde auszuradieren und wieder die Kontrolle über sämtliche Gebiete zu übernehmen. Sharon zögert, diesen Befehl zu erteilen, obwohl ihn einige seiner Minister dazu drängen, denn er möchte einerseits die Regierung der nationalen Einheit beibehalten, die er als absolute Notwendigkeit ansieht, andererseits führt er auch strategische Gründe an. Die Rückkehr zu der Situation, wie sie vor den Osloer Abkommen bestand, würde zweifellos eine bessere Kontrolle der terroristischen Aktivität sowie die Zerschlagung der bewaffneten Milizen ermöglichen, die sich dank den Verträgen von 1993 in den Gebieten niedergelassen haben. Kann dies aber wirklich ohne zahlreiche Opfer auf beiden Seiten geschehen? Würde dies die Sicherheit der Israelis tatsächlich langfristig garantieren? Gäbe es nicht immer genügend Fanatiker, die sich in israelischen Städten in die Luft sprengen, um hier die Angst zu schüren? Würde die extrem harte Vergeltung, die darauf folgen würde, von der öffentlichen Meinung akzeptiert werden? Gewiss nicht, und die dann ausbrechende politische und ethische Debatte würde den inneren Zusammenhalt der israelischen Gesellschaft gefährden.
Zudem würde das bereits angeschlagene Image Israels in der Welt nur noch mehr darunter leiden, die politische Isolation, die bereits beunruhigende Ausmasse angenommen hat, würde sich weiter verstärken, so dass es selbst den USA schwer fallen könnte, einen so lästigen Verbündeten zu unterstützen.
Ausserdem ist es trotz aller Dementis offensichtlich, dass Israel die amerikanische Strategie in dieser Region berücksichtigen muss – und dies auch tut. Washington möchte nach Möglichkeit die Stabilität im Nahen Osten wahren, um dadurch in nicht allzu ferner Zukunft eine militärische Operation im Irak zu erleichtern. Ein offener Krieg zwischen Israel und den Palästinensern kann – selbst wenn er von kurzer Dauer ist – nur Verwirrung stiften und die Pläne von Washington in höchstem Masse behindern. Es ist jedoch im Interesse Israels, dass diese Pläne erfolgreich durchgeführt werden. Ist es da nicht vorteilhafter Zeit zu gewinnen, abzuwarten und sich zurückzuhalten?
Wegen der Unmöglichkeit, eine politische Marschrichtung zu bestimmen, und wegen der aktuellen Schwierigkeit, eine kohärente militärische Strategie festzulegen, bleibt der israelischen Regierung keine andere Wahl als nach Worten zu ringen, alles durcheinander zu werfen, seine Entschlossenheit durch Gewalt, aber nicht zu viel, auszudrücken, Arafat immer noch eine weitere Chance einzuräumen, ohne wirklich davon überzeugt zu sein, zu behaupten, diesmal lasse man keine Gnade walten, und dabei durchscheinen zu lassen, nach einigen Tagen Waffenstillstand könne man den Dialog wieder aufnehmen.
Auch wenn man sich eingesteht, dass keine repräsentative israelische Regierung in dieser Situation besser reagieren könnte, muss man doch feststellen, dass viele Israelis enttäuscht, beunruhigt, manchmal auch zornig sind. Während die Amerikaner wie ein Mann hinter ihrer Regierung stehen und dadurch auch in den liberalen intellektuellen Kreisen ihr Engagement für einen «gerechten Krieg» gegen den weltweiten Terror zum Ausdruck bringen, geschieht nichts Derartiges in Israel. Unter diesen Umständen droht die Enttäuschung zu Zwistigkeiten zu führen, riskiert die Sorge die Solidarität zu zerstören, kann die Wut unverantwortliche Taten nach sich ziehen. Und die wirtschaftliche Rezession, die mit einem Anstieg der Arbeitslosigkeit einher geht, ist dabei auch keine grosse Hilfe: Durch die Intifada hat die israelische Wirtschaft bereits fünf Milliarden Dollar verloren, die Arbeitslosenquote bewegt sich auf 11% zu und das Wachstum wird 2002 bestimmt nicht 0,5% übersteigen.
Diese offensichtliche Flaute darf eine Reihe von positiven Punkten allerdings nicht verdecken.
Die israelische Gesellschaft leidet zwar, doch sie hält durch. Es gibt keine Anzeichen von Fahnenflucht, es herrscht ein vernünftiges Vertrauen in die Zukunft und das Gefühl, dass die moralische Stärke der Israelis sie besser als ihre Nachbarn befähigt, ihren Weg zu gehen, das Ziel zu erreichen.
Die Umfragen besagen ganz deutlich: der Versuch Arafats – auf der Grundlage des libanesischen Vorfalls in Bezug auf die Hizbollah, der mit einem wenig glorreichen Rückzug der israelischen Armee endete –, kann nur fehlschlagen. Die Vorstellung, dass die vom Erfolg verwöhnte und sorglose israelische Gesellschaft ihre frühere Lebenskraft und Entschlossenheit verloren hat und dass einige heftige Ausfälle ausreichen, ihr ganzes Selbstvertrauen verpuffen zu lassen, hat sich als völlig falsch herausgestellt. Die Israelis erkennen im Grossen und Ganzen die Gefahr, die sie bedroht, und halten stand: zwar ohne die Unerschütterlichkeit
ihrer Vorfahren, etwas zögerlich manchmal und mit Murren, die führenden Politiker der Unentschiedenheit oder Unfähigkeit anklagend, doch eines steht fest, sie halten stand. Die blindwütigen Anschläge in den Städten und auf den Strassen, im Norden wie im Süden, in Tel Aviv wie in den Dörfern Samarias, machen den Israelis klar, dass sie alle im selben Boot sitzen. Ein weiteres positives Zeichen: die Gefahr hat die demokratische Debatte nicht einschlafen lassen. Im Gegensatz zu den Amerikanern und obwohl im hier herrschenden Kampf weit mehr auf dem Spiel steht als für die Grossmacht, die vom Terrorismus verwundet wurde, können sich die Gegenstimmen sowohl in der Presse als auch auf der Strasse völlig freies Gehör verschaffen, niemand denkt daran, sie zum Schweigen zu bringen. Die Weigerung einiger hundert Reservisten, in den Gebieten zu kämpfen, löst zwar eine heftige Diskussion aus, doch dies alles geschieht in der Achtung vor der Meinungsfreiheit. Die israelische Demokratie gehört bestimmt zu den authentischsten und stabilsten der Welt. Dies ist eine grosse Stärke.
Fast niemand bricht in Panik aus: nur wenige Israelis haben seit dem Beginn der Gewalttätigkeiten das Gefühl, die Flucht sei die einzige Rettung. Es ist keine auffällige Emigration zu verzeichnen, während die Immigration weiterhin beeindruckende Zahlen aufweisen kann, da vor allem argentinische Juden vor dem wirtschaftlichen Zusammenbruch in ihrem Land fliehen. Auch die Solidarität der Juden in der Diaspora ist spürbar, auch wenn man es begrüssen würde, wenn sie noch zahlreicher hierher kämen, wie dies während des Golfkriegs der Fall war.
Niemand gibt letztendlich seinen niedrigsten Instinkten freien Lauf. Während bei der Ermordung von jüdischen Frauen und Kindern in den palästinensischen Städten Freudenschreie und Hassrufe ertönen, geschieht auf israelischer Seite nichts dergleichen, ganz im Gegenteil. Wir wissen demnach, mit wem wir es zu tun haben, wir wissen aber vor allem, wer wir selbst sind.
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