Ich weiss nicht, was in Dinko Sakic vorging, als er die Tür zu seinem Haus in Santa Teresina in Argentinien öffnete und den Journalisten Jorge Camarasa und sein Kamerateam hereinbat. Er ahnte wahrscheinlich nicht, dass er dabei war, bei seinen Landsleuten in Kroatien eine schmerzliche Konfrontation mit ihrer blutigen Vergangenheit als Mitwirkende bei der Schoah herbeizuführen. Das Interview, das Sakic dem Journalisten Camarasa gab, löste nämlich eine Reihe von Ereignissen aus, die letztlich zu seiner Verurteilung in Zagreb führten. Die Anklageschrift führte die Massaker auf, die im Konzentrationslager von Jasenovac in Kroatien während der Zeit – im Jahr 1944 - begangen wurden, in der Sakic dort als Leiter fungierte. Dank dem 1999 abgehaltenen Prozess erfuhr die kroatische Öffentlichkeit die schmerzliche Wahrheit über die Rolle ihres Landes in der Geschichte des Zweiten Weltkriegs und bei den Verbrechen, die von der Ustascha, den lokalen Faschisten, begangen wurden.
Im Verlauf des Interviews, das am 6. April 1988 einen Senderekord im nationalen Fernsehen Argentiniens aufstellte, gab Sakic offen zu, er habe als Kommandant in Jasenovac gedient, jedoch ohne ein Wort der Reue betreffend seine Taten. Er war ganz im Gegenteil felsenfest davon überzeugt, er und seine Helfershelfer der Ustascha hätten das getan, was getan werden musste. Diese Erklärung schockierte umso mehr angesichts der Berichte der Überlebenden von Jasenovac, die von Camarasa für dieselbe Sendung befragt worden waren; diese Augenzeugen sprachen von Massenexekutionen im Lager, von der Grausamkeit und unbeschreiblichen Brutalität der Wärter: fast 85’000 Zivilpersonen, darunter 18’000 Juden, wurden in diesem KZ ermordet.
Nach diesem Interview wurde der Druck immer stärker, etwas gegen Sakic zu unternehmen. Am Tag nach der Sendung beantragte ich beim argentinischen Botschafter in Israel seine sofortige Verhaftung und bat gleichzeitig den Botschafter Kroatiens, sein Land solle die notwendigen Schritte im Hinblick auf die Auslieferung von Sakic unternehmen, damit er von einem kroatischen Gericht verurteilt werden könne. Das erste Gesuch war eigentlich vollkommen logisch, das zweite bedeutend weniger. Im Allgemeinen zieht es das Simon Wiesenthal Center vor, dass die nationalsozialistischen Kriegsverbrecher entweder in dem Land vor Gericht kommen, in dem die Verbrechen stattgefunden haben, oder aber in dem Land, dessen Staatsangehöriger sie sind (im Falle von Sakic kam dies auf dasselbe heraus); die Tatsache, dieses Land um die Verurteilung eines eigenen Bürgers zu bitten, stellte jedoch eine riesige Herausforderung dar angesichts der Sympathie, welche die Ustascha bei zahlreichen Kroaten noch genoss, und angesichts des Präsidenten Franjo Tudjman.
Obwohl Tudjman die Nazis als Befehlshaber der Partisanen in den Streitkräften von Tito bekämpft hatte und obwohl sein Bruder von den Ustaschis ermordet worden war, war seine ideologische Haltung Ende der 80er Jahre ultranationalistisch geworden und er versuchte, seine politische Macht durch die Betonung des faschistischen Nationalerbes zu stärken. Diese neue Ideologie drückte sich in verschiedener Weise aus: Verherrlichung der historischen Rolle des von den Nazis geschaffenen und von der Ustascha dirigierten kroatischen Marionettenstaates; Bemerkungen, wie z.B. «Ich bin stolz, dass meine Frau weder Serbin noch Jüdin ist» usw. Er dachte sogar daran, Jasenovac, das Konzentrationslager mit der düstersten Vergangenheit des Zweiten Weltkriegs, in eine Gedenkstätte zu verwandeln, das zugleich an die Henker wie auch an die Opfer erinnern sollte. Die Krönung war jedoch die Veröffentlichung des Buches «Wastelands of Historical Reality» (Ödland der historischen Wahrheit), in dem er die Juden anklagte, die Zahl der Holocaust-Opfer von einer auf sechs Millionen aufgebläht zu haben, und in dem er behauptete, die Juden hätten Jasenovac geleitet. Bedenkt man all diese Faktoren, stellte die Bitte, einen Ustascha-Kommandanten wie Sakic in Zagreb vor Gericht zu stellen, zumindest ein gewagtes Unterfangen dar. Ausserdem war es offensichtlich, dass das Abhalten einer Gerichtsverhandlung in Kroatien unter diesen Umständen für die Nation von grossem Nutzen sein konnte.
Unter dem gemeinsamen Druck Israels, der Vereinigten Staaten und der jüdischen Organisationen traf Kroatien in seinem Bestreben, in die NATO und in die Europäische Union aufgenommen zu werden, recht bald die notwendigen Vorkehrungen, um den Prozess von Sakic in Zagreb abzuhalten. Weniger als drei Monate nach seinem Auftritt im argentinischen Fernsehen in Santa Teresina steckte er bereits im Gefängnis und wartete auf die Eröffnung der Gerichtsverhandlung. Dieser Prozess sollte das Land stärker erschüttern als jedes andere Ereignis seit der Unabhängigkeit Kroatiens, da die unüberbrückbare Kluft zwischen Faschisten und Antifaschisten vertieft und der Kampf zwischen den beiden Gruppen verschärft wurde, nicht nur durch eine Stellungnahme in Bezug auf die Vergangenheit, sondern auch durch die Art und Weise die Zukunft zu planen.
Der Prozess begann im März 1999 und dauerte kaum länger als sechs Monate. Die Verhandlungen entpuppten sich als tägliche Geschichtsstunden, während die Überlebenden von Jasenovac als Zeugen auftraten und mit entsetzlicher Genauigkeit die Verbrechen beschrieben, die im Lager begangen worden waren. Da ich im Verlauf des Prozesses an verschiedenen Verhandlungen teilnahm, möchte ich hier einige Momente erwähnen, die für die im Gerichtssaal herrschende Atmosphäre und für den Kampf zwischen dem Guten und dem Bösen in der kroatischen Gesellschaft typisch waren. Erinnern wir beispielsweise an die Aussage von Yaacov Finci, der bei einer Razzia von der Ustascha verhaftet und zusammen mit mehreren anderen jüdischen Jugendlichen aus Sarajevo nach Jasenovac deportiert worden war. Einige Tage nach ihrem Eintreffen im Lager wurden die Jungen gezwungen, die Leichen der getöteten und von den Ustaschis verstümmelten Gefangenen zusammenzutragen und sie in den Fluss Sava zu werfen. Finci, der die Regeln seiner neuen Umgebung noch nicht ganz begriffen hatte, wandte sich verstört an einen Wächter und fragte ihn, weshalb man ihnen eine so makabre Aufgabe auftrage. «Weil ihr Jesus gekreuzigt habt», antwortete der Wächter. Die Wiedergabe dieses Gesprächs im Gerichtssaal veranlasste Sakic zu Lachanfällen. Als der Richter Drazen Tripalo ihn für diesen Ausbruch tadelte und ihn warnte, eine weitere Reaktion dieser Art würde zu seinem Ausschluss aus dem Saal führen, presste Sakic zwischen den Zähnen hervor, er sei «nicht verpflichtet, sich solches Geschwätz anzuhören». Finci weigerte sich ausserdem während seiner Aussage fotografiert zu werden, aus Furcht vor eventuellen Racheakten.
Ein weiteres bezeichnendes Ereignis fand am selben Tag statt, an dem Yaakov Finci seine Zeugenaussage ablegte. Nach der Nachmittagssitzung stand der Richter Tripalo in einer Ecke des Raumes und sprach mit jemandem, als Sakic, eskortiert von zwei bewaffneten Wärtern, zurück ins Gefängnis gebracht wurde. Der Angeklagte drehte sich wie gewöhnlich um, weil er einen Blick mit seinen Angehörigen und anderen Getreuen austauschen wollte, die andächtig jeder Gerichtssitzung beiwohnten. Sobald diese merkten, dass der Richter ihnen den Rücken zukehrte, grüssten sie Sakic noch im Gerichtssaal mit dem faschistischen Ustascha-Gruss.
Am Tag der Urteilsverkündung kamen zahlreiche Anhänger radikal andersdenkender Gruppen – für und gegen Sakic – , um das Urteil der Richter zu hören, jede Partei füllte dabei eine Hälfte des Saales. Nach der Verlesung des Urteils «schuldig» durch den Richter Tripalo und der Höchststrafe (20 Jahre Gefängnis), erlebte ich zwei Begegnungen, die bezeichnend waren für die Kluft innerhalb der kroatischen Gesellschaft. Beim Verlassen des Gerichtssaales kam ein Mann auf mich zu, der mir in einwandfreiem Amerikanisch zuschrie, ich solle mich besser um die «israelischen Verbrecher» kümmern, und fügte hinzu: «Wie rechtfertigen Sie eine Million vertriebener Palästinenser?» Im selben Moment rempelten andere Männer Zoran Pusic an, einen Verfechter der Menschenrechte, und spuckten ihn sogar an. Kurz vor diesen beiden unglücklichen Vorfällen war ich von einem hoch gewachsenen, gut gekleideten Mann angesprochen worden, der sich als Bruder von Dr. Mile Boskovic vorstellte, der im September 1944 von Dinko Sakic persönlich umgebracht worden war; dieser Mord stellte ein Schlüsselelement des Dossiers dar und diese Tat hatte zu einer der dramatischsten Zeugenaussagen des Prozesses geführt. (Nach dem Fluchtversuch zweier junger jüdischer Gefangener des Lagers versammelte Sakic alle Insassen im Haupthof und begann zufällig Männer auszuwählen, um sie als Vergeltungsmassnahme zu hängen. Boskovic gehörte zu diesen Männern und er erklärte Sakic, das Hängen sei mit der Tradition in Montenegro nicht vereinbar und er wehre sich als Montenegriner dagegen. Daraufhin zog Sakic seinen Revolver und erschoss ihn an Ort und Stelle.) Der Bruder dankte mir und dem Wiesenthal Center dafür, bei der Verurteilung von Sakic geholfen zu haben, und ich freute mich sehr über diese Dankbarkeit.
Nach Ansicht des Journalisten Igor Alborghetti, der heute als Vize-Redaktor bei der beliebten kroatischen Wochenzeitschrift Globus wirkt, verkörperte der Sakic-Prozess «eine entscheidende Wende für die kroatische Gesellschaft». Die späteren Ereignisse scheinen seiner Analyse Recht zu geben. Nach dem Prozess erlitt der rechte Flügel der Partei HDZ von Präsident Tudjman bei den Wahlen eine erste Teilniederlage und wurde durch eine Koalition von Liberalen und Sozialdemokraten ersetzt. Kurze Zeit später wurde Stjepan Mesic, einer der herausragenden antifaschistischen Politiker, zum Präsidenten gewählt und übernahm das Amt nach dem Tode Tudjmans. Unter dem Einfluss dieser neuen Ausrichtung betont Kroatien nun seine nazifeindliche Tradition und bemüht sich um die Aufnahme in die NATO und in die EU.
Der jüngste Besuch des Präsidenten Mesic in Israel bot die Gelegenheit, das Ausmass dieser Kehrtwende der kroatischen Diplomatie zu erfassen. Im Verlauf seines Aufenthalts entschuldigte sich Mesic in unmissverständlichen Worten in aller Öffentlichkeit für die Verbrechen der Ustascha und begann somit ein neues Kapitel für die bilateralen Beziehungen zwischen beiden Ländern sowie zwischen Kroaten und Juden.
Historische Fakten
In der Zwischenkriegszeit gehörte Kroatien zu Jugoslawien. Am 10. April 1941 schufen die Nazis und die Italiener einen unabhängigen Staat («Nezavisna Drzava Hrvatska» – Unabhängiger Staat Kroatien), der das gegenwärtige Kroatien und Bosnien-Herzegowina und eine Bevölkerung von ca. 6,3 Millionen Einwohner umfasste, darunter 40’000 Juden. Die Kontrolle über das Land wurde der faschistischen Bewegung Ustascha unter der Leitung von Ante Pavelic anvertraut. Während seiner gesamten Existenz war Kroatien ein Satellitenstaat des Dritten Reichs. Die Ustaschis versuchten Kroatien ethnisch von seinen Minderheiten zu «reinigen» – d.h. von den Serben, Juden und Zigeunern – und zu diesem Zweck wurden zahlreiche Konzentrationslager errichtet; das grösste und «bekannteste» von ihnen war das Lager von Jasenovac, 100 km von Zagreb entfernt: fast 85’000 Zivilpersonen, darunter 18’000 Juden, wurden hier in den Jahren 1941-1945 ermordet. Neben dem Massaker an den Juden in den Lagern verhafteten die Kroaten Tausende von Juden, die ab August 1942 nach Auschwitz deportiert wurden, wo die meisten von ihnen umkamen.
Es ist wichtig festzuhalten, dass die Umsetzung der Endlösung in Kroatien voll und ganz von der lokalen Bevölkerung getragen wurde, unter der Leitung der Ustascha. Insgesamt wurden ungefähr 30’000 Juden von der 40’000 Seelen zählenden jüdischen Gemeinschaft Kroatiens umgebracht. Zahlreiche Überlebende wurden zunächst von den Italienern geschützt, welche die dalmatische Küste besetzten und sich weigerten, die Juden der unter ihrer Kontrolle stehenden Gebiete auszuliefern; später wurden die Juden von den nazifeindlichen Partisanen gerettet, zu denen viele Kroaten gehörten.
* Dr. Efraim Zuroff, Nazi-Jäger, Historiker, Fachmann der Schoah im Baltikum und Leiter des Büros in Jerusalem des Simon Wiesenthal Center von Los Angeles.
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