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Inhaltsangabe Ethik und Judentum Herbst 2002 - Tischri 5763

Editorial - September 2002
    • Editorial

Rosch haschanah 5763
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Pflicht zur Solidarität

Von Rabbiner Shabtai A. Rappoport *
J. ist 35 Jahre alt, Elektroingenieur verheiratet und Vater von vier Kindern, seine Fachkollegen in dieser hoch technischen Branche respektieren ihn wegen seiner Begabung und Kreativität. Dank seinem Know-how und seiner Erfahrung sind seine Dienste sehr gefragt und er könnte seinen einträglichen Beruf in praktisch allen Ländern der zivilisierten Welt ausüben.
Seit kurzer Zeit plant er sich in Israel niederzulassen. Es wird ihm aller Voraussicht nach nicht schwer fallen, hier ein Geschäft aufzuziehen oder eine Stelle in einem Unternehmen dieser Branche zu finden, wo man ihn mit Freuden willkommen heissen wird. Eine derartige Veränderung dürfte allerdings in Bezug auf kulturelle Unterschiede nicht einfach sein; seine Frau und er sind in Europa geboren und erzogen worden, sie haben ihr ganzes Leben im selben Land verbracht, wo sich auch ihre gesamte Familie befindet, und sie gehören einer kleinen Gemeinschaft an. In Israel haben sie weder nahe Familienangehörige noch enge Freunde. Ihre Kinder, die in ihren jeweiligen Schulen perfekt integriert sind, haben keine Lust auf grosse Veränderungen. Und - last but not least - die gegenwärtig in Israel herrschende Unsicherheit macht ihnen Angst. Man scheint dort ständig in Gefahr zu sein und das Leben in Israel sieht so ganz anders aus als ihre heutige friedliche und ereignislose Existenz.
Als frommer Jude ist sich J. jedoch sehr wohl bewusst, dass von Juden erwartet wird, dass sie im Land Israel leben: "Und sollt das Land einnehmen und darin wohnen; denn euch habe ich das Land gegeben, dass ihr es in Besitz nehmt" (Numeri 33, 53). Er erinnert sich ebenfalls an den Bericht der Kundschafter, die Moses ins Land Kanaan sandte; bei ihrer Rückkehr versuchten sie, das Volk Israel von der Eroberung des Landes abzubringen, und später tadelt sie Moses folgendermassen: "Und als er euch aus Kadesch-Barnea sandte und sprach: 'Geht hinauf und nehmt das Land ein, das ich euch gegeben habe!', da wart ihr ungehorsam dem Mund des Herrn, eures G'ttes, und glaubtet nicht an ihn und gehorchtet seiner Stimme nicht. So seid ihr dem Herrn ungehorsam gewesen, solange ich euch gekannt habe" (Deut. 9, 23-24). Einerseits betrifft die Entscheidung von J. aber nur eine einzige Familie, deren Einwanderung in Israel keinen Einfluss haben wird auf die nationale Einnahme des Landes. Andererseits gibt es ja auch ganze Gemeinschaften frommer Juden, die alle Gebote der Torah einhalten und ausserhalb Israels ein glückliches Leben führen. Aus all diesen Gründen fragt sich J., ob er von Gesetzes wegen verpflichtet ist nach Israel zu emigrieren und welches die Folgen sind, falls er dies nicht tut und dadurch seine Verpflichtungen gegenüber G'tt und der Torah nicht einhält.
Rabbi Awraham von Soh'atschow, eine bekannte Autorität des 19. Jhs., erklärt, dass das Gebot in Israel zu wohnen aus der grundlegenden Pflicht der Juden entsteht, die Diener G'ttes zu sein: "Denn mir gehören die Israeliten als Knechte; meine Knechte sind sie, die ich aus Ägyptenland geführt habe. Ich bin der Herr, euer G'tt." (Levit. 25, 55). Der wesentliche Kern der Beziehung Meister-Diener besteht, neben der offensichtlichen Verpflichtung des einen, dem anderen zu dienen, aus der Tatsache, dass das Überleben des Dieners vollständig vom Meister abhängt. Der echte Diener - der Sklave - verfügt nicht über eigene Ressourcen, um sich und seine Familie zu ernähren. So haben wir in der Nacht des Auszugs aus Ägypten, wo wir Sklaven waren, unsere Freiheit - d.h. unseren Eintritt in den Dienst von G'tt - gefeiert, indem wir das Osterlamm schlachteten und assen, so wie alle Diener am Tisch ihres Herrn essen. Zur gleichen Zeit verkündet uns G'tt, dass das Land Israel über dem Ägyptenland stehe, diesem Land der Sklaverei für den Menschen: "Denn das Land, in das du kommst, es einzunehmen, ist nicht wie Ägyptenland, von dem ihr ausgezogen seid, wo du deinen Samen säen und selbst tränken musstest wie einen Garten, sondern es hat Berge und Auen, die der Regen vom Himmel tränkt, - ein Land, auf das der Herr, dein G'tt, acht hat und die Augen des Herrn, deines G'ttes, immerdar sehen vom Anfang des Jahres bis an sein Ende" (Deut. 11, 10-12). Unsere Weisen sagen: "Das Land Israel wird vom Heiligen gewässert, er sei gelobt, und der Rest der Welt wird von einem Gesandten gewässert, wie es geschrieben steht, Derjenige, welcher der Erde Regen gibt und das Wasser in die Felder schickt" (Trakt Taanit 10b). Man sieht demnach, dass die Abhängigkeit des Menschen von G'tt, wenn es um sein Überleben geht, nur im Heiligen Land deutlich wird und in diesem Land ist der Jude auch ein treuer Diener seines Herrn.
Hier scheint der Grund dafür zu liegen, dass die folgenden Gebote nur im Land Israel gelten: die Pflicht, Opfergaben und den Zehnten aus unseren Ernten zu leisten und sie den Priestern und Leviten zu übergeben, sowie die Einhaltung eines Sabbatjahres alle sieben Jahre. Eigentlich wird der Jude nur in diesem Land als echter Vasall - oder Mieter - G'ttes angesehen; diese Tatsache kommt konkret zum Ausdruck, indem er den G'ttesmännern einen Teil seiner Ernte abtritt und indem er alle sieben Jahre die menschlichen Bemühungen unterbricht, der Erde etwas abzuringen. Dieser Bund zwischen G'tt und den Juden verkörpert die Quintessenz der Torah.
Doch diese Gebote gelten nur, wenn sich das Land im Besitz der Juden befindet und wenn alle Juden dort wohnen (Maimonides, Gesetz über die Opfergaben Kap. 1, 26). Dies scheint also vorauszusetzen, dass die Pflicht in Israel zu leben erst dann besteht, wenn diese Bedingungen erfüllt sind; sie obliegt nicht dem Einzelnen, dessen persönliche Emigration diese Umstände nicht schaffen kann. Rabbi Yehoschua von Kutnow, ein berühmter Gelehrter aus dem 19. Jh., hält nämlich fest, die Pflicht in Israel zu leben betreffe die Nation, die sich das Land aneignen und dort unter der göttlichen Herrschaft frei leben muss; sie beziehe sich nicht auf den Einzelnen, der sich dort einfach niederlassen möchte.
Es gibt allerdings eine wichtige juristische Entscheidung betreffend den Wucher, deren logische Weiterentwicklung zu einer anderen Schlussfolgerung führt. Dieses Urteil stammt von Rabbi Yehudah Rozanis, einem hervorragenden Gelehrten aus dem 18. Jh., dessen Werk "Mishcne La'Melech" allen gedruckten Ausgaben des Mischne Torah von Maimonides beigelegt ist. Das biblische Gebot, vor einen Blinden kein Hindernis zu legen (Levit. 19, 14), wird als Verbot ausgelegt, jemandem zur Seite zu stehen, der eine göttliche Vorschrift missachtet, falls Letzterer dies nicht ohne Unterstützung tun kann (Trakt Avoda Zara 6b). Daraus kann man ableiten, dass ein Mann, der sich Geld leiht und sich damit verpflichtet Zinsen zu zahlen, die von der Torah verboten sind, den Kreditgeber bei seinem Vergehen unterstützt; In dem Ausmass, da der Kreditgeber ohne Kreditnehmer keinen Wucher betreiben kann, verletzt dieser das Verbot, ein Hindernis vor den Blinden zu legen (Maimonides, Gesetze des Kreditgebers und des Kreditnehmers Kap. 4, 2). Rabbi Yehudah hält also fest, dass jeder Kreditnehmer persönlich das Verbot der Beihilfe missachtet, selbst wenn der Kreditgeber ohne weiteres andere jüdische Kreditnehmer finden könnte (ibidem). Gemäss Rabbi Akiva Eiger, einem bekannten Gelehrten des 18. Jhs., gibt es ab dem Zeitpunkt, da eine beliebige Überschreitung nicht ohne Beihilfe geschehen kann, weil dies entweder nicht möglich ist (es braucht die Unterstützung mehrerer Personen) oder weil besondere Umstände vorliegen, keinen Unterschied zwischen einer geforderten oder einer zufälligen Unterstützung. Der Begriff der geforderten Unterstützung dient nur der Unterscheidung zwischen individuell erfolgten Überschreitungen und denjenigen, bei denen eine weitere Person notwendig ist. Kann aber eine Überschreitung nur mit Beihilfe begangen werden, verletzt jeder einzelne, der Unterstützung leistet, das Gesetz, und nicht nur derjenige, dessen Unterstützung unerlässlich ist (Responsa P1, 194).
Es steht fest, dass diese juristische Entscheidung ein ethisches Prinzip mit einer bedeutenden Tragweise in der jüdischen Halachah (Rechtsprechung) begründete: es wird nicht unterschieden zwischen den Geboten, die ein Verbot enthalten, und den positiven Geboten. So wie der Mensch kein Recht hat, bei einem Vergehen gegen G'tt Unterstützung zu leisten, so ist er auch verpflichtet, bei der Erfüllung der göttlichen Gebote mitzuwirken. Kommen wir nun auf unsere anfängliche Frage zurück: die Verpflichtung, das Land Israel einzunehmen und sich hier niederzulassen, kann natürlich nicht von einem Einzelnen allein eingehalten werden, sondern betrifft die gesamte Nation. Das oben Ausgeführte impliziert jedoch, dass jeder Mensch an der Verwirklichung dieser Verpflichtung teilnehmen muss.
Deshalb sollte jeder Jude, der sich die Herrschaft des göttlichen Rechts auf dieser Welt wünscht und glaubt, es sei die Pflicht der jüdischen Nation, wie die Knechte G'ttes zu handeln - was für alle Juden die Pflicht beinhaltet, das Land Israel einzunehmen -, nach Israel auswandern, um an diesem Prozess teilzunehmen, oder sich zumindest mit denen solidarisch zeigen, die bereits dort leben, und sich mit allen Mitteln für ihre Sache einsetzen.

* Rabbiner Shabtai A. Rappoport leitet die Yeschiwah "Schwut Israel" in Efrat (Gusch Etzion). Neben anderen Arbeiten hat er die beiden letzten Bände der Responsen herausgegeben, die von Rabbiner Mosche Feinstein, s.A., geschrieben wurden. Er entwickelt gegenwärtig eine Datenbank, die alle aktuellen Themen der Halachah umfasst. Richten Sie Ihre Fragen oder Kommentare an folgende E-mail-Adresse: shrap@012.net.il.

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