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Inhaltsangabe Estland Herbst 2002 - Tischri 5763

Editorial - September 2002
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Rosch haschanah 5763
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Einzigartiges Schicksal

Von Professor Dov Levin*
Das Schicksal der estnischen Juden während der Schoah unterscheidet sich von demjenigen in den anderen jüdischen Gemeinschaften des Baltikums. Während Zehntausende von Juden aus verschiedenen europäischen Ländern in Estland zusammengeführt und hier getötet wurden, konnte der grösste Teil der einheimischen Gemeinschaft in die UdSSR flüchten. Viele von ihnen haben entweder in der Roten Armee oder in halb-militärischen Truppen gegen die Nazis gekämpft.
In der Zwischenkriegszeit lebten ca. 4'500 Juden in Estland und machten 0,4% der Gesamtbevölkerung aus. In bezug auf ihre Herkunft und ihre Kultur stammten sie aus drei verschiedenen Quellen: die erste Quelle war russisch, zurückzuführen auf die Kantonisten, diese "Soldaten Nikolais", die zum Eintritt in die Armee und zu 25 Jahren Dienst gezwungen worden waren, von denen erst die letzten Überlebenden endlich befreit wurden; die zweite Quelle ging auf Juden zurück, die aus Kurland (westliches Lettland) stammten und eine deutsche Erziehung besassen; die dritte Gruppe kam aus Litauen und dem östlichen Teil Lettlands (Latgalie) und verfügte über eine weitreichende jüdische Kultur. Bei den Kantonisten kann man die interessante Tatsache betonen, dass ihre Niederlassung in Estland von Russland gefördert worden war, das dieses kleine Land auf diese Weise friedlich kolonisieren wollte. Aus diesem Grund hatten die Russen den entlassenen jüdischen Soldaten angeboten, ihnen eine Synagoge zu bauen, Rabbiner kommen zu lassen und alles bereit zu stellen, was für den Kult und somit für das reibungslose Funktionieren einer jüdischen Gemeinde unerlässlich ist. Die dazu eingestellten Personen stammten aus Litauen und Lettland. 1894 erlaubte Alexander III, dass sich die Juden in allen baltischen Provinzen niederlassen. Dies verursachte, dass viele Juden aus Russland in diese Gegenden umzogen. Durch ihre Ankunft ersetzen sie diejenigen, welche von 1890 an in die USA ausgewandert waren. Im Ersten Weltkrieg wurden 110 Juden mobilisiert und 250 nahmen freiwillig im Unabhängigkeitskrieg Estlands von 1918 - 1920 teil.
Auf dem Höhepunkt seiner glorreichen Entwicklung lebten in Estland ungefähr 4'500 Juden, von denen ca. 2'200 in Tallinn, 920 in der Universitätsstadt Tartu-Dorpat (welche 1840 die ersten jüdischen Studenten aufnahm, von denen als erster der aus Jelgava (Mitau) stammende Alexander Wulfus ein Diplom erlangte) und weitere 1'300 auf andere Städte und Dörfer des Landes verteilt lebten. Die meisten Juden waren Geschäftsleute und Angestellte in kaufmännischen Berufen oder in der Verwaltung. Da sie finanziell unabhängig waren, brauchten nur wenige von ihnen Unterstützung. Kein einziger Jude arbeitete als Beamter und in der estnischen Armee gab es auch sozusagen keinen jüdischen Offizier. Trotz des Aufkommens von Nationalismus und Antisemitismus ab 1926 erhielten die Juden, wie andere Minderheiten auch, eine umfassende kulturelle Autonomie, die bis zur Annexion Estlands durch Russland gemäss dem deutsch-sowjetischen Pakt und bis zum Einmarsch der sowjetischen Truppen am 15. Juni 1940 bestehen blieb. Ihrem geringen Umfang zum Trotz war die Gemeinde bemerkenswert gut strukturiert, alle religiösen und politischen Tendenzen Osteuropas waren hier vertreten, von der extremen Linken bis zu den Rechtsradikalen. Die sogenannte "kulturelle"Autonomie, die man den Minderheiten zugestand, stellte in Wirklichkeit ein wirkungsvolles Machtinstrument dar, das es den verschiedenen Gemeinschaften ermöglichte, lokale Steuern einzutreiben (auch gezwungener Weise). Ungeachtet der Präsenz verschiedener politischer und religiöser Ausrichtungen innerhalb der Gemeinschaft besass diese ein sehr hohes kulturelles und intellektuelles Niveau, insbesondere in der Universitätsstadt Tartu, dem russischen Heidelberg, wo es ebenfalls sehr aktive und gut organisierte Studentenverbindungen gab, die in erster Linie die Stipendiensysteme für Studenten verwalteten. Diese schönen Tage des Gemeindelebens waren aber allzu rasch zu Ende. Als die Aktivitäten der estnischen Nationalisten immer zahlreicher zu werden begannen, weil sie von Nazideutschland unterstützt wurden, und als die jüdischen Flüchtlinge aus Polen, die am Ende der 1930er Jahre Estland erreichten, über ihre Erlebnisse berichteten, machte sich die Gemeinschaft immer grössere Sorgen, die ersten Juden reisten nach Palästina ab. Dann wurden alle baltischen Staaten von der UdSSR annektiert, so dass die Juden sozusagen von diesen Gemeinschaften abgeschnitten wurden, da deren Reise- und Bewegungsfreiheit nun eingeschränkt war. Ab Juni 1940 setzte der Prozess der Sowjetisierung Estlands ein, und auch wenn die Nationalisierungen letztendlich nur einen kleinen Teil der jüdischen Gesellschaft betrafen, war dies bei der Deportation in den Ural leider nicht der Fall. Acht Tage vor der Invasion durch die Deutschen, d.h. am 14. Juni 1940, wurden fast zehntausend Esten nach Sibirien ins Exil geschickt, darunter 500 Juden. Während der Verhaftungswellen wurden letztere besonders schlecht behandelt, da sie früher grösstenteils Fabrikbesitzer und Mitglieder der zionistischen Bewegung gewesen waren und dadurch als "gefährliche Elemente" galten. Gleichzeitig bot man einer Reihe von Juden, besonders denjenigen, die zur Arbeiterklasse gehört hatten oder Sozialisten gewesen waren, Posten in der Regierung, bei der Polizei und in der Armee an. Doch am 22. Juni 1942 griff Deutschland die UdSSR an und die Wehrmacht marschierte am 4. Juli 1941 in Estland ein. Die gesamte Besetzung Estlands dauerte insgesamt fast zwei Monate und endete mit der Evakuierung von Tallinn über das Meer in Richtung Leningrad. Auch einigen wenigen Juden gelang die Flucht auf diesem Weg. Die Juden beteiligten sich aktiv am Kampf der Sowjeten gegen die Deutschen. Insgesamt sind ungefähr 3'000 Juden ins Innere Russlands geflohen, was tatsächlich ihren einzigen Ausweg um sich zu retten, darstellte. Einige von ihnen haben es geschafft, ein neues Leben aufzubauen, andere haben sogar in Moskau studiert. Fast alle Männer und einige Frauen haben sich bemüht in die Rote Armee einzutreten, einige Hunderte von ihnen kamen in die estnischen Divisionen Esti Laskurkorpus der Roten Armee. Alle estnischen Juden, die beim Sturz von Tallinn noch im Land lebten, mit anderen Worten insgesamt 979 Menschen, wurden von den Deutschen und ihren nationalistischen Komplizen in Estland ermordet. In den ersten Wochen der Besatzung wurden alle Besitztümer der Juden konfisziert, ihnen wurden zahlreiche antisemitische Verbote auferlegt und sie mussten den gelben Stern tragen. Das Sonderkommando SKI unter der Leitung von SS-Obersturmbannführer Dr. Martin Sandberger wurde mit ihrer Hinrichtung beauftragt. Bei ihrer schrecklichen Aufgabe half ihnen eine Gruppe von nationalistisch gesinnten rechtsradikalen Esten, genannt Omakaitse (Freunde des Waldes). Diese Einheiten begannen Hunderte von Männern über 16 Jahren zu verhaften und zu ermorden. Die anderen, sowie Frauen und Kinder, wurden in Schulen zusammengetrieben und dann für Zwangsarbeiten eingesetzt, bis sie im Lager von Harku in der Nähe von Tallinn umgebracht wurden. Am 12. Oktober 1941 schrieb Sandberger in einem Bericht an seine Vorgesetzten, dass alle über 16-jährigen Männer, mit Ausnahme der Ärzte und der von den Deutschen bezeichneten jüdischen Persönlichkeiten, nämlich 440 Juden, von den Gruppen zur "Selbstverteidigung Estlands" hingerichtet worden seien.
Bezüglich der Phase betreffend dem Zweiten Weltkrieg sind in Estland mehrere interessante Aspekte hervorzuheben. Zunächst ist Estland der einzige baltische Staat, in dem mehr ansässige Juden gerettet - dank ihrer Flucht in die UdSSR - als von den Deutschen und ihren lokalen Komplizen ermordet wurden. Zweitens war Estland der erste Staat, der gegen Ende 1941 von den Nazis "judenfrei" erklärt wurde. Und drittens wurden die von den Sowjets deportierten Juden gerettet, trotz ihrer sehr harten Lebensbedingungen. Man darf auch nicht vergessen, dass eine Reihe von Juden, die innerhalb Russlands hätten Zuflucht finden können, lieber in Estland blieben, da sie sich mehr vor den Kommunisten als vor den Nazis fürchteten. Sie alle wurden von den Deutschen und ihren lokalen Mittätern ermordet. Einige von ihnen sagten: "Lieber Sklave bei den Deutschen als gut behandelt bei den Russen". Abschliessend muss betont werden, dass Zehntausende von Juden aus ganz Europa nach Estland geschafft wurden, um dort in fünfundzwanzig Arbeitslagern eingesperrt zu werden, wo sie in Ölschiefer-Minen schuften, Gräben gegen Panzerfahrzeuge ausheben oder Bunker bauen mussten. Das Hauptlager befand sich in Vaivara. Wenn die Juden geschwächt oder krank waren, wurden sie getötet. Ein Grossteil von ihnen ist an Krankheiten, Hunger oder durch Folter gestorben. Als die Rote Armee vorrückte, haben die Deutschen die Juden über die Ostsee in das Lager von Stutthof evakuiert. Zwischen dem 18. und dem 19. September 1944 hat man die meisten Juden in den Lagern von Klooga und Lagedi ermordet, nur einige Dutzende von ihnen haben überlebt.
Zwischen 1944 und 1950 kehrten ca. 1'500 überlebende estnische Juden, die in die UdSSR hatten fliehen können, nach Estland zurück. Nur eine sehr geringe Zahl derjenigen, die in Sibirien im Exil waren, durften nach Estland zurückkehren. Ein demobilisierter jüdischer Soldat erzählt nach seiner Ankunft in Tartu: "Als wir uns unter Freunden trafen, um abzuzählen, wie viele überlebt hatten, waren wir erschüttert... es waren nämlich nur noch drei oder vier am Leben - es gab niemanden mehr, mit dem man hätte sprechen können."
Von 1944 bis 1991 senkte sich der Eiserne Vorhang über Estland und über seine jüdische Gemeinschaft. Der kleinste der baltischen Staaten wurde wieder eine sowjetische "Republik"! Doch dies ist wieder eine alte Geschichte, die wieder neu ist.

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