Am 3. März dieses Jahres griff ein Araber einen israelischen Kontrollposten an, tötete dabei sechs Soldaten und verletzte zahlreiche andere Menschen. Avigdor Schatz, der Verantwortliche für Sicherheitsfragen der Region von Benjamin, war im Auto nahe am Ort des Anschlags unterwegs, als er eine Funkmitteilung erhielt und über die Lage informiert wurde. Er begab sich sofort an den Ort des Geschehens, um Hilfe zu leisten. Sobald er aus dem Auto gestiegen war, richtete der arabische Terrorist seine Waffe auf ihn und schoss ihm in den Rücken. Die Kugel schlug auf Schulterhöhe ein und trat an der Brust wieder aus, durchtrennte dabei jedoch die Atemwege. Schwer verletzt wurde Avigdor so schnell wie möglich ins Krankenhaus Hadassah Ein Karem transportiert und in die Abteilung für Unfallchirurgie von Professor AVRAHAM I. RIVKIND eingeliefert.
Seine Überlebenschancen waren gering. Professor Rivkind und sein Team haben ihm nicht nur das Leben gerettet, sondern pflegten ihn so gut, dass er schon im Mai sein normales Leben sowie die meisten seiner Aktivitäten wieder aufnehmen konnte.
Dieses Beispiel steht für die Wunder, die Professor Rivkind vollbringen kann, und für seinen Erfolg; von ihm wird gesagt, er gehe sogar mit dem Kopfhörer seines Talkie-Walkies im Ohr schlafen. Seit der arabische Terror von Arafat und seinen Schergen wieder angefacht wurde, gibt es in allen Spitälern Israels sehr viel mehr Arbeit, unter anderem natürlich auch in der Abteilung für Unfallchirurgie des Krankenhauses Hadassah.
Trotz seines langen Arbeitstages hat sich Professor Avraham I. Rivkind bereit erklärt uns zu empfangen. Ungeachtet seiner grossartigen Leistungen ist er ein einfacher Mensch geblieben, denn er braucht niemanden mehr zu beeindrucken: seine Erfolge sprechen für sich.
Seit September 2000 kommen uns die Schreckensberichte über die entsetzlichen Vorfälle in Israel, die durch den arabischen Terrorismus ausgelöst werden, mittlerweile schon fast banal vor. Sie stehen im Zentrum dieser Tragödie und können täglich ermessen, bis zu welchem Ausmass jede Verletzung eine Katastrophe darstellt. Können Sie uns sagen, inwiefern sich Ihre Tätigkeit seit dem Ausbruch der Terrorwelle verändert hat?
In Wirklichkeit arbeiten wir weiter wie bisher, es ist einfach "etwas mehr" geworden. Die herkömmliche Routinearbeit wurde dadurch ja weder eingeschränkt noch vernachlässigt. Alle Operationen, auch diejenigen, die nicht als dringend zu bezeichnen sind, sowie selbst die Komfortchirurgie, wurden beibehalten. Die Zahl der Verkehrsunfälle und der Unfälle im Haushalt ist ja nicht zurückgegangen, daher wird die Anteilung für Unfallchirurgie ganz einfach stärker beansprucht als vor den Terrorangriffen. Die jüngsten Statistiken haben ein recht interessantes Phänomen gezeigt: bei Anschlägen sind 80% der Opfer Männer, während im Allgemeinen das Verhältnis in den Abteilungen für Unfallchirurgie 60% Männer und 40% Frauen beträgt. Ein weiterer deutlicher Unterschied ist bei der Art der Verletzungen zu beobachten. Es gibt eine internationale Tabelle, auf der die verschiedenen Schweregrade für Verletzungen definiert sind: sie heisst "Injuries severity score" (Quote für den Schweregrad von Verletzungen). Die Wunden, die durch einen Terroranschlag entstehen, sind sehr viel schwerer als Verletzungen nach beispielsweise einem Autounfall. Das Krankenhaus Hadassah betreut mehr Verletzte als andere vergleichbare Einrichtungen im übrigen Land, weil in Jerusalem mehr terroristische Anschläge verübt werden und weil wir zahlreiche Patienten aus anderen Spitälern aufnehmen. Die schwersten Fälle werden an uns überwiesen.
Welches sind Ihre Kriterien, um eine Person als schwer verletzt zu bezeichnen?
In unserer Abteilung liegt zur Zeit eine junge Frau namens Efrat, die an Kopf und Brust - sie weist eine Beckenverletzung auf - sowie an den Beinen verletzt ist. Sie wurde an allen diesen Körperstellen von Nägeln, Schrauben und Bombensplittern getroffen. Sie war bewusstlos, als sie hier eintraf, und litt unter teilweisen Lähmungen, die allmählich schwächer wurden. Es handelt sich folglich um eine Mehrfachverletzung, die sowohl die Neurochirurgie als auch die Kardiothorax-, die orthopädische und die allgemeine Chirurgie betrifft.
Welche chirurgischen Eingriffe werden in einem solchen Fall als Erstes vorgenommen?
Wir richten uns dabei nach den Prioritäten und wenden das amerikanische System "ATLS", Advanced trauma life support, an, das vom "American code of surgeons committee on trauma" entwickelt wurde und das wir seit zwölf Jahren bei uns einsetzen. Wir arbeiten demzufolge gemäss den Prioritäten, die wir "A, B, C und D" nennen und die für folgende Anfangsbuchstaben stehen: A = Airways (Atemwege); B = Breathing (Atmung); C = Circulation (Blutkreislauf); D = disability (Behinderung). Es ist die Aufgabe der Allgemeinchirurgen, sämtliche Eingriffe zu koordinieren und zu beschliessen, wer welche Art von Operation benötigt, welcher Patient zuerst in die Intensivstation kommt oder beobachtet wird usw. In bestimmten Fällen können wir nicht sofort operieren, in anderen Fällen muss der Patient mehrmals in den OP, manchmal immer wieder. Es gibt kein Routineschema, wir handeln je nach Verletzung jedes einzelnen Patienten, auch wenn wir einer Katastrophe mit zahlreichen Verwundeten gegenüberstehen. Wir bemühen uns nach Kräften, jede Behandlung "massgeschneidert" durchzuführen und sie an die jeweilige Situation des Opfers anzupassen. Wir haben beispielsweise eine Frau mit schweren Verbrennungen aufgenommen, die aber auch einen Milzriss aufwies. Sie musste unbedingt operiert werden, bevor man ihre Brandwunden versorgen konnte. Wir mussten die Stelle, an der wir den Schnitt zwischen den verbrannten Körperteilen durchführen wollten, mit grösster Präzision berechnen, damit die Narbe verheilen konnte, ohne beim Kontakt mit den Verbrennungen Infektionen zu bewirken...
Waren Sie auf eine derart schreckliche Situation vorbereitet, sowohl was die Zahl der Opfer betrifft als auch im Hinblick auf die ganz neue und gravierende Art der Verletzungen?
Als die ersten Opfer der neuen Intifada bei uns eintrafen, haben wir wie immer normale Röntgenaufnahmen gemacht. Doch wie gross war unsere Überraschung, als wir in den Wunden Nägel, Bombensplitter und andere Gegenstände dieser Art entdeckten! Wir waren es gewohnt, durch Explosionen entstandene Traumata zu sehen, wie z.B. nach den Anschlägen in den Bussen. Hier aber standen wir vor einer Kombination von Verletzungen, die sowohl auf eine Explosion als auch auf das Eindringen spitzer Projektile zurückzuführen waren. Aus diesem Grund ist unsere Quote beim "Injuries severity score" so hoch, während die Sterblichkeitsrate doch niedrig bleibt.
Weist die niedrige Sterblichkeitsrate darauf hin, dass die Verletzten gesund werden und wieder in ein würdiges Dasein zurückkehren können, das so normal wie möglich ist?
In unserem Spital sind die Überlebenschancen sehr hoch. Dazu kommt die Tatsache, dass mindestens 10% unserer Patienten ein Rehabilitationsprogramm durchlaufen, was angesichts der schweren Verletzungen sehr viel ist. Im Verlauf der letzten 20 Monate haben wir ca. 1'700 Patienten behandelt.
Mussten Sie zusätzliche Chirurgen anstellen?
Nein, aber alle unsere Kollegen, die aus professionellen Gründen, zu Forschungszwecken oder für ein Praktikum hätten ins Ausland reisen sollen, haben ihre Pläne annulliert. Diese Entwicklung gibt übrigens uns Ärzten die Möglichkeit, auf unserem Gebiet weiterzukommen, denn das, was wir hier sehen und erleben, existiert nirgendwo anders auf der Welt.
Wird die Behandlung dieser neuartigen Verletzungen irgendwann an der medizinischen Fakultät gelehrt werden?
Im vergangenen Mai haben wir einen Spezialkurs für die Medizinstudenten von Hadassah organisiert. Auf diese Weise konnten sich hundert Studenten zwei Wochen lang intensiv mit Verletzungen befassen. Danach führten wir eine gross angelegte praktische Übung durch, in der ein Teil der Studierenden die Rolle der Verletzten übernahm und die anderen die Situation wie in der Realität managen mussten. Bei dieser Gelegenheit schickte eine der grössten Koryphäen für Unfallchirurgie der Welt, Professor Asher Hirshberg aus Houston, Texas, uns seine rechte Hand, einen Israeli, der aus dem einzigen Grund nach Jerusalem kam, um uns einen vierstündigen Kurs zu geben. So wollte uns diese Koryphäe zeigen, wie sehr er unsere Arbeit hier schätzt. Meines Erachtens ist es sehr wichtig, dass unsere Schüler wissen, wie sie nicht nur angesichts des Terrorismus reagieren sollen, sondern auch in allen anderen Katastrophenereignissen. Man muss sich klar machen, dass die von uns ausgebildeten zukünftigen Ärzte sich überall im Land niederlassen werden und es undenkbar ist, dass sie nicht in der Lage sind, mit Unfallverletzten umzugehen. Aufgrund dieser Überlegungen haben wir im Rahmen unseres Kurses auch andere Berufszweige eingeladen, wie z.B. die Polizei und die Feuerwehr, damit sie uns ihre Funktions- und Arbeitsweise anlässlich einer Katastrophe erklären. Ich möchte diesen Ansatz noch weiter führen. Bis heute galt die Traumatologie ein wenig als die "arme Verwandte" in der Medizin, die Unfallchirurgie wurde in den Hintergrund gedrängt, da die gesamte Forschung allein auf die Möglichkeiten zur Bekämpfung von Krankheiten ausgerichtet wurde. Wenn man von einer Verletzung sprach, wurde dies immer als weniger gravierend angesehen als wenn man eine Krankheit erwähnte. Nach dem 11. September 2001 konnte sowohl in Israel als auch in den USA ein neues Bewusstsein beobachtet werden, das zu dem Schluss kam, der Terrorismus müsse auf medizinischer Ebene ebenso bekämpft werden wie Krebs oder Aids. Die Opfer des Terrors sowie diejenigen von Verkehrsunfällen sind Patienten, die nicht nur betreut werden müssen, sondern in deren Interesse ernsthafte Forschung betrieben und finanziert werden muss.
Die Terroristen werden immer raffinierter und verwenden immer heimtückischere Methoden. Besitzen Sie eine Möglichkeit, beispielsweise auf der Grundlage einer Zusammenarbeit mit der Armee oder dem Nachrichtendienst, sich auf die Heilung dieser neuartigen Verletzungen vorzubereiten, die von einem neuen Waffentyp oder vom Sprengstoff herrühren, den die arabischen Terroristen verwenden?
Wir bereiten uns darauf vor, im Falle eines Angriffs mit C-Waffen die Folgen zu bekämpfen und entsprechend zu reagieren. Schon heute entdecken wir, dass die Terroristen bestimmte chemische Substanzen einsetzen. So tauchen sie die Nägel und Schrauben manchmal in Rattengift, um die Blutungen zu verstärken. Die Ratten, die dieses Gift fressen, sterben bekanntlich an inneren Blutungen. Wir befassten uns mit dem sehr konkreten Fall eines kleinen zehnjährigen Mädchens, das heute zum Glück geheilt ist, bei dem uns das Ausmass der Blutung deutlich zeigte, dass in der Bombe des Terroristen Rattengift enthalten war. Wir haben es einer Behandlung unterzogen, die in der Regel bei Traumatologie-Patienten völlig kontraindiziert ist und bei der Bluterkrankheit verabreicht wird, Novo 7. Damit haben wir einen Durchbruch in der Traumatologie-Forschung erzielt. Ausserdem haben wir festgestellt, dass einige der Selbstmordattentäter mit Hepatitis B infiziert sind. Deswegen wird jedes bei uns eintreffende Opfer zunächst automatisch gegen diese Krankheit behandelt. Wir lernen, wie Sie sehen, jeden Tag und mit jedem Fall etwas Neues hinzu, so dass wir in der Forschung und mit unserer Methode zur Bekämpfung der Folgen des Terrors Fortschritte erzielen können.
Könnten Sie uns die Verwendung von Novo 7 noch etwas besser erklären?
Dieses Medikament ist extrem kostspielig, da schon eine kleine Flasche fast US$ 8'000,-- kostet. Es gab einen Fall in Israel, bei dem ein Verletzter so stark blutete, dass er bereits im Sterben lag. Einer der Chirurgen sagte sich, es gebe jetzt sowieso nichts mehr zu verlieren, er werde jetzt das Unmögliche versuchen und Novo 7 injizieren, was allen Grundsätzen bei der Behandlung von Unfallverletzungen widerspricht. Die Blutung hörte auf. Nachdem wir von diesem Fall gehört hatten, beschlossen wir, diese Methode nun auch anzuwenden. Sie funktioniert nicht immer, aber dieses Medikament wirkt ab und zu unglaubliche Wunder. Wir erforschen dieses Gebiet gegenwärtig auf internationaler Ebene zusammen mit Frankreich, Deutschland und Südafrika, um zu prüfen, ob wirklich bald die Ära eines neuen Medikaments anbricht, das in den hoffnungslosesten Fällen eingesetzt werden kann. Bis heute haben wir das Produkt ungefähr zehn Patienten gespritzt. Wir haben es sogar am Minister Rehavam Zeevi versucht, der ermordet wurde, doch bei ihm war es zu spät. Ich denke, dass diese neue Therapie ganz bestimmt einen Durchbruch in unserem Bereich darstellt.
Gibt es andere, nur von Ihnen verwendete Techniken, die bei Patienten eingesetzt werden?
Wir gehen bei der Behandlung von Unfallverletzungen oft auf ungewöhnliche und unkonventionelle Weise vor, was sich meist als wirksam erweist. Einige dieser Methoden wurden publiziert, andere noch nicht. In Bezug auf die Unfallchirurgie wird beispielsweise allgemein gelehrt, dass die von Geschossen verursachten durchgehenden Wunden (Durchschusswunden) offen bleiben müssen. Wir verschliessen sie aber trotzdem und es hat sich erwiesen, dass unsere Soldaten, die oft schwere Schussverletzungen aufweisen, sehr gut genesen. Wir spüren auch nicht jeden einzelnen Bombensplitter oder jede Kugel im Körper auf. Unsere Erfahrung hat gezeigt, dass die Patienten in bestimmten Fällen sehr gut mit einer Kugel oder einem Stück Metall im Körper weiterleben können, ohne unter Infektionen zu leiden. Wir betreuen unsere "Kunden" nach ihrem Austritt aus dem Spital jeweils noch eine Zeitlang. Sollte einer von ihnen ein Problem haben, untersuchen wir ihn sofort und reagieren entsprechend.
Es deutet alles darauf hin, dass der Terror sich nicht nur auf Israel beschränken, sondern sich auf Europa und die USA ausdehnen wird. Stehen Sie in Kontakt zu den medizinischen Fakultäten der Länder, die von Ihren Erfahrungen profitieren möchten?
Zwei Wochen vor dem berüchtigten 11. September 2001 nahm ich an einem Ärztekongress teil. Als ich meinen Vortrag über die Verletzungen nach Explosionen hielt, verliessen alle amerikanischen Ärzte den Saal und gingen Kaffee trinken. Es blieben nur die Inder, Pakistani und Iren im Saal zurück. Nun hat sich in Amerika das Blatt gewendet, nun hören sie uns zu. Die Traumatologie ist zu einem Thema geworden, mit dem es sich zu befassen lohnt... Heute versuchen sie ihren Rückstand aufzuholen, doch wir sind ihnen ein gutes Stück voraus und sie beginnen uns um Rat zu fragen.
Unter Ihren Patienten befinden sich auch verletzte Terroristen. Mit welcher Einstellung pflegen Sie diese?
Das Spital ist wie eine Insel, wir sehen nur die Verletzungen und die leidenden Menschen. Ich persönlich denke nicht im geringsten daran, dass ich einen Terroristen behandle. Sie wissen übrigens ganz genau, dass sie bei uns viel bessere Überlebens- und Heilungschancen haben als in einem arabischen Spital. Wir, die israelischen Juden, sind in erster Linie Menschen, und man bezeichnet uns oft als "Rachmanim bnei Rachmanim" (mitfühlende Wesen und Söhne mitfühlender Wesen), wir können uns doch nicht am Beispiel Deutschlands oder anderer Völker orientieren, deren humanitäres Verhalten zu wünschen übrig lässt. Wir glauben an das, was wir tun, und dies erlaubt uns, über gewissen Gefühlen zu stehen und uns vor allem nicht von den Schrecken traumatisieren zu lassen, die wir täglich sehen müssen.
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