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Inhaltsangabe Finnland Herbst 2002 - Tischri 5763

Editorial - September 2002
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Rosch haschanah 5763
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Helsingin juutalainen seurakunta

Von Roland S. Süssmann
Auf den ersten Blick gleicht die kleine Strasse Malminkatu in einem höher gelegenen Quartier von Helsinki allen anderen Strassen dieses Viertels. Sie zeichnet sich jedoch durch etwas ganz Besonderes aus: hier liegen nämlich die Synagoge und das Zentrum des gesamten jüdischen Lebens in Finnland. In einem riesigen Gebäude neben der Synagoge befindet sich das Gemeinschaftszentrum, der Kindergarten, die jüdische Schule und das Altersheim. Hier ist auch die koschere Küche der Stadt anzutreffen, die täglich ungefähr zweihundert Mahlzeiten vorbereitet, die meisten davon für die Schule. Ein kleiner koscherer Lebensmittelladen verkauft auch tiefgefrorenes Fleisch aus Frankreich, da ca. 10% der Juden sich streng koscher ernähren. Heute zählt Finnland rund 1'500 Juden, die sich auf zwei Gemeinschaften aufteilen: die eine befindet sich in Helsinki, die andere in Turku. Ungefähr 1'000 von ihnen sind Mitglieder der Gemeinde.
Diesen Status erlangt man nur, wenn man authentischer Jude ist, d.h. man wird nur mit einer jüdischen Mutter oder nach einer Konvertierung durch einen echten Rabbiner (weder liberal noch reformiert) als vollwertiges Mitglied anerkannt. Jeder Mensch wird demnach einzeln aufgenommen; innerhalb eines jüdischen Ehepaars werden auch Mann und Frau als zwei individuelle Mitglieder angesehen. Wegen der hohen Zahl von gemischten Ehen nehmen viele Menschen, die nicht Mitglied sind, dennoch an den Aktivitäten der Gemeinschaft teil, so dass sich insgesamt fast 3'000 Personen direkt oder indirekt am Leben der Gemeinde beteiligen. In Bezug auf die gemischten Ehen weist die jüdische Gemeinschaft eine "Besonderheit" auf. Zahlreiche Israelis haben nämlich Finninnen geheiratet, die sie entweder einmal in einem Kibbuz kennengelernt haben, oder die Mitglied der im Südlibanon stationierten FINUL waren und daher Kontakt zu Israel hatten. Zum Thema gemischte Ehe muss man ausserdem auch wissen, dass ein jüdischer Vater, dessen Frau und Kinder nicht jüdisch sind, dennoch Mitglied der Gemeinschaft sein kann und seine Kinder in die jüdischen Schulen schicken darf. Es ist in diesem Zusammenhang interessant festzustellen, dass fast 90% der schulpflichtigen Kinder, die zum Besuch der jüdischen Schule berechtigt sind, diese auch tatsächlich besuchen. Neben dem Kindergarten, in dem ca. dreissig Kleinkinder betreut werden, hat die Schule ungefähr hundert, auf neun Schuljahre verteilte Schülerinnen und Schüler. Nach diesem Abschnitt werden die Gymnasiasten in der Regel in eine öffentliche Schule aufgenommen, wo sie nach weiteren drei Jahren die Matura ablegen. Die jüdische Gemeinschaft besteht nicht nur aus Juden, die aus Finnland stammen. Die Schule, deren Unterrichtssprache Finnisch ist, wird von Kindern aus allen möglichen Ländern besucht, die insgesamt acht verschiedene Muttersprachen sprechen: Schwedisch, Englisch, Hebräisch, Russisch, Italienisch, Französisch, Deutsch und Spanisch.
Dazu kommt, dass es in Finnland zwei offizielle Sprachen gibt, nämlich das Finnische und das Schwedische. Der Grund dafür ist in der Geschichte Finnlands zu suchen, das bis 1809 zum Königreich Schweden gehörte und später zu einem Grossfürstentum des russischen Reiches wurde. Die Schweden gestatteten es den Juden nicht sich in Finnland niederzulassen und dieses Verbot wurde von Zar Alexander I. weitergeführt. Die ersten Juden, die eine Aufenthaltsbewilligung erhielten, waren "Kantonisten", jüdische Soldaten des Zaren, die für eine Dauer von 25 Jahren in der russischen Armee zu dienen gezwungen wurden. Bei ihrer Befreiung durften sie in ihren Garnisonsstädten, Helsinki und Vyborg, wohnen bleiben und dort trotz des Widerstands der ansässigen Bevölkerung die ersten jüdischen Gemeinschaften gründen. Jahrelang lebten die Juden in einer Zwangsjacke von Pflichten und Verboten. 1880 begann die Debatte um die Emanzipation der Juden, sie dauerte fast zehn Jahre. Die schwedische Intelligentsia und die Presse setzten sich tatkräftig für die Einführung von Reformen zugunsten der Juden ein, während die reaktionäre finnische Presse sich entschieden dagegen auflehnte und dabei von antisemitischen Intellektuellen und vor allem vom Klerus unterstützt wurde. 1889 wurde schliesslich ein Text verabschiedet, der die Juden berechtigte in Vyborg, Turku und Helsinki zu wohnen, doch andere Einschränkungen blieben weiterhin in Kraft. Damals wohnten 1'000 Juden im Land. Erst 1909 liess der liberale Flügel des Parlaments über die Abschaffung der antijüdischen Gesetze abstimmen, als er die Opposition der Konservativen mit 112 gegen 48 Stimmen besiegte. Die Ratifizierung dieser Entscheidung trat jedoch erst 1917 in Kraft! Zwischen den beiden Weltkriegen stieg die jüdische Bevölkerung auf ca. 2'000 Personen, die zum grössten Teil aus Russland eingewandert waren. Viele Juden entschieden sich für freie Berufe, andere wandten sich der Industrie oder dem Holzhandel zu. Die meisten aber befassten sich mit dem Textilhandel. Während des Winterkriegs kämpften die Juden an der Seite der Finnen, und als die Stadt Vyborg von der UdSSR annektiert wurde, zogen die 300 dort lebenden Juden nach Finnland. Während des Zweiten Weltkriegs befand sich Finnland in der einmaligen und paradoxen Lage, dass das Land zwar ein direkter Verbündeter Nazideutschlands war, sich aber weigerte, seine jüdischen Mitbürger zu deportieren, von denen übrigens viele in der Armee Dienst taten. Die in Finnland lebenden Juden, die aber nicht die finnische Nationalität besassen, insgesamt 160 Menschen, konnten in das nicht Krieg führende Schweden flüchten. Zu einem bestimmten Zeitpunkt liessen die Finnen zu, dass die Gestapo 50 aus Österreich oder dem Baltikum stammende und nach Finnland geflohene Juden deportierten. Als Marschall C.G. Mannerheim erfuhr, dass die ersten elf von ihnen nach ihrer Ankunft ermordet worden waren, stellte er die Fortsetzung dieser Operation sofort ein.
Alle diese geschichtlichen Entwicklungen erklären, weshalb die Juden schwedisch sprechen und nicht finnisch. Dazu muss man wissen, dass Schwedisch, wie Jiddisch, eine germanische Sprache ist, während Finnisch näher am Ungarischen liegt und zu der finno-ugrischen Sprachen gehört. Für die neu Eingewanderten war es daher leichter, sich an das Schwedische anzupassen, und heute noch sprechen die älteren Menschen diese Sprache untereinander. Doch die jüngere Generation spricht kein Schwedisch mehr und die Predigten des Rabbiners werden auf Englisch gehalten.
Trotz der geringen Zahl von Mitgliedern ist die heutige Gemeinschaft sehr dynamisch. Neben dem Angebot der üblichen Dienstleistungen im sozialen Bereich, bei Beerdigungen usw. sind hier auch alle jüdischen Organisationen vertreten, die auf der ganzen Welt in den grossen Gemeinden tätig sind: WIZO, KKL, Keren Hayessod, Maccabi und selbst ein Gemeindechor. Der Rabbiner arbeitet allerdings nicht ganztags für die Gemeinschaft. Es ist Mosche Edelmann, der in Israel wohnt, der aber mindestens eine Woche pro Monat sowie alle Feiertage in Helsinki verbringt.
Damit wir uns ein genaueres Bild von der jüdischen Gemeinschaft in Finnland machen können, sind wir GIDEON BORLOWSKY begegnet, dem Präsidenten des Zentralrats der Juden in Finnland und der israelitischen Gemeinde von Helsinki.

Können Sie uns in ein paar Worten Ihre Aufgabe definieren und Ihre oberste Priorität nennen?

Ich bemühe mich in erster Linie darum, das jüdische Leben in diesem Land zu bewahren und zu verstärken. Bis zum Zweiten Weltkrieg gab es in Finnland drei Gemeinschaften: die zweite befand sich in Vyborg (Viipuri auf Finnisch), das am finnischen Meerbusen liegt und seit 1947 zu Russland gehört. Die meisten Juden haben fliehen können und haben sich in Tampere niedergelassen, wo bis zum Ende der 1960er Jahre eine jüdische Gemeinde bestand; später haben sich ihre Mitglieder der Gemeinde in Helsinki angeschlossen. Die dritte Gemeinde war in Turku zu Hause, der wichtigsten Gemeinschaft an der südwestlichen Küste. In Finnland gab es drei Synagogen, doch heute sind nur noch zwei davon übrig. Die jüdische Gemeinschaft von Turku schrumpft immer weiter, und heute leben nicht einmal mehr zweihundert Juden hier.
Mein Ziel ist es, das jüdische Leben hier zu pflegen und zu bestärken. Dies ist alles andere als leicht, wenn man in einer stark weltlich geprägten Umgebung lebt, was sich selbstverständlich auch in der jüdischen Gesellschaft widerspiegelt. Es gibt sehr viele gemischte Ehen, doch seltsamerweise schicken diese Ehepaare ihre Kinder meist in die jüdische Schule. Die Motive dafür sind von Familie zu Familie unterschiedlich, aber wenn jemand eine gemischte Ehe eingeht, ist es immer schwer, die Kinder jüdisch zu erziehen, wie dies in einer traditionellen Familie der Fall wäre. In einem gewissen Sinne zählen die Eltern auf die Schule, um diesen Missstand zu beheben. Dazu kommen objektive Überlegungen, wie beispielsweise die Qualität des Unterrichts oder die Grösse der Klassen, die im Schnitt nur 10 Schüler umfassen.
Auf struktureller Ebene kann ich ohne mich zu rühmen sagen, dass es auf der ganzen Welt keine andere Gemeinschaft unserer Grösse gibt, die ebenso viele und ebenso vollständige Dienstleistungen anbietet wie wir. Wir sind, wie die Schweiz, eine der seltenen Gemeinschaften, die den Zweiten Weltkrieg überlebt haben und daher heute noch über die alten Strukturen verfügen, die vor der Schoah entstanden sind. Dazu kommt die Tatsache, dass der harte Kern unserer Gemeinde aus alten jüdischen Familien besteht, von denen die meisten seit vier oder fünf Generationen in diesem Land leben. Das Eintreffen von Juden aus anderen Gemeinschaften hat den Charakter des hiesigen jüdischen Lebens nicht verändert. Es ist folglich die Stabilität unserer Strukturen, die uns die Weiterführung einer sehr homogenen jüdischen Gemeinschaft ermöglicht.

Wie sieht es mit dem Antisemitismus aus?

Es gibt ihn eigentlich kaum. Dies ist vor allem darauf zurückzuführen, dass die jüdische Gemeinschaft sehr klein ist, auch wenn der Antisemitismus nicht aus rationalen Gründen entsteht. Die in Europa gegenwärtige herrschende israelfeindliche Stimmung ist in erster Linie das Produkt der Muslims. Die finnische Gesellschaft ist aber schon immer ausländerfeindlich gewesen und hat niemanden ins Land hineingelassen. Dies gilt auch für die Muslims, und daher ist ihre Zahl in Finnland sehr niedrig. Ihnen steht nicht die notwendige Grundlage zur Verfügung, um gegen Israel oder gegen die Juden aktiv zu werden. Es gibt zwar eine ultranationalistische Bewegung, die aber nicht im Parlament vertreten und auch weniger xenophob ist als in anderen Ländern, da aufgrund der geschlossenen Grenzen nur sehr wenige Ausländer hier leben. Ausserdem hat Finnland im Allgemeinen immer Sympathie für Israel an den Tag gelegt, es identifiziert sich mit diesem kleinen Staat, der seine Grenzen verteidigt, ganz zu schweigen von der Tatsache, dass beide Staatsflaggen "blau und weiss" sind.

Wie sehen Sie die Zukunft Ihrer Gemeinschaft?

Sie sprechen da einen Punkt an, der in der Führung unserer Gemeinde ständig diskutiert wird. Im Moment sind wir zu dem Schluss gekommen, dass die Gemeinschaft in ihrer heutigen Form noch lange Zeit weiterbestehen wird. Es besteht keine Gefahr einer Auflösung in der nächsten Zukunft. Wir befinden uns weiterhin an der Grenze zu einer kritisch knappen Zahl, ausser wenn sich die klimatischen Verhältnisse auf der Erde radikal verändern und unsere Winter milder werden... Unsere Gemeinschaft ist von Überalterung bedroht und unsere Mitglieder haben nicht viele Kinder. Es stellt sich demnach die Frage, ob wir langfristig in der Lage sein werden, alle unsere Strukturen und Einrichtungen weiterhin zu finanzieren. Die Schule ist in das landesweite Bildungswesen integriert und profitiert dabei von einer speziellen Gesetzgebung. Aus diesem Grund übernimmt der Staat einen grossen Teil der Kosten. Für den Rest müssen wir selber aufkommen, die Eltern bezahlen keine Schulgebühren. Wir unternehmen daher alles, damit die hier lebenden Juden von einer möglichst umfangreichen und angenehmen Infrastruktur der Gemeinschaft profitieren können. Unser Ausschuss der Gemeindeabgeordneten umfasst 32 Mitglieder, er wählt den leitenden Ausschuss mit sieben bis neuen Mitglieder. Letzterer ernennt den Präsidenten, der für eine Amtszeit von drei Jahren gewählt wird. Ich persönlich übe dieses ehrenvolle Amt seit 1989 aus und bin vor kurzem neu gewählt worden.
Auf einer weiteren Ebene muss ich ebenfalls betonen, dass wir ausgezeichnet mit den anderen Gemeinden der skandinavischen Länder zusammenarbeiten, und zwar schon seit vor dem Zweiten Weltkrieg. Schon damals pflegten wir auch gute Beziehungen zu den jüdischen Gemeinschaften der baltischen Staaten, fast 300'000 Juden lebten zu jener Zeit vor den Toren Finnlands. Heute haben wir Kontakt zur jüdischen Gemeinde von Estland, da die estnische und die finnische Sprache sich sehr ähnlich sind.

Die jüdische Gemeinschaft Finnlands ist, wie wir sehen, eher klein, schlägt sich aber wacker. An ihrer Spitze steht eine solide und realistische Führung, welche die Zukunft mit Gelassenheit und Voraussicht vorbereitet.

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