News Neueste Ausgabe Befragung: Resultate Suchen Archiv Français English Русский עברית Español


Inhaltsangabe Estland Herbst 2002 - Tischri 5763

Editorial - September 2002
    • Editorial

Rosch haschanah 5763
    • Neues Leben - Neue Hoffnung

Politik
    • Veränderung erwartet

Interview
    • Strenge und Pragmatismus
    • Demokratie und Scharia

Strategie
    • Die richtige Wahl

Medizin
    • Hingabe - Initiative - Erneuerung

Reportage
    • Leben retten!
    • Vorsicht und Vorbeugung

Judäa-Samaria-Gaza
    • Har Chevron

Wirtschaft
    • Kata

Estland
    • Jerusalem und Tallinn
    • Einzigartiges Schicksal
    • Esti Pea Rabi
    • Stalins Kreis
    • Kampf und Ungerechtigkeit
    • Vergangenheit und Gerechtigkeit!

Finnland
    • Jerusalem und Helsinki
    • Helsingin juutalainen seurakunta
    • Dilemma und Loyalität
    • Das Schicksal der jüdischen Kriegsgefangenen

Kunst und Kultur
    • Das persische Herz

Ethik und Judentum
    • Pflicht zur Solidarität

Artikel per E-mail senden...
Kampf und Ungerechtigkeit

Von Roland S. Süssmann
Die Ironie der Geschichte besteht oft aus der Umkehrung einer Situation, die sich für den Einzelnen in eine grausame und zynische Realität verwandelt. So werden diejenigen Männer, die 1945 den kleinsten der baltischen Staaten vom Joch der Deutschen befreit hatten, heute, seitdem Estland wieder unabhängig ist, als die Komplizen des russischen Besatzers angesehen. Dies trifft auch auf ISAAC SERMANN zu, der sich Yitzchok nennen lässt; er war früher Soldat der Roten Armee, in der er siebeneinhalb Jahre lang gedient hat.
I. Sermann ist als estnischer Jude 1919 in Tallinn geboren worden und wuchs in der kleinen Stadt Rakvere auf, die 100 km von der Hauptstadt entfernt liegt. Sein Vater war Klempner, aber auch Präsident der jüdischen Gemeinschaft, ausserdem "Gabaï" (Verantwortlicher der Gottesdienste) und Präsident der zionistischen Bewegung. Wegen seiner verschiedenen Ämter musste er Rakvere verlassen und liess sich in Tallinn nieder. Der kleine Isaac war das siebte und letzte Kind seiner schon recht betagten Eltern, die ihren ersten Sprössling 1889 bekommen hatten. Zusammen mit seiner Schwester, die seit 1928 in Frankreich lebt und heute 96 Jahre alt ist, gehört Isaac zu den einzigen Überlebenden seiner Familie. Schon vor dem Krieg hatte Isaac Serman eine turbulente Schulzeit. Er besuchte zuerst eine deutsche Schule, bevor er mit seinen Eltern nach Frankreich zog, wo er zwei Jahre lang Schüler des Gymnasiums "Hoche" in Versailles war. Bei seiner Rückkehr nach Estland nahm ihn die deutsche Schule nicht mehr auf, und so beendete er seine Schulzeit in einem estnischen Institut. Es ist eine interessante Tatsache, dass seine Eltern nicht aus Frankreich ausgewiesen wurden, weil sie Juden waren, sondern auf Grund einer Verordnung, die nach einem politischen Mord erlassen worden war. Nach der Ermordung des Königs von Jugoslawien, Alexander I. Karadjordjevic, im Jahr 1934 sowie des damaligen französischen Aussenministers Louis Barthou, wurden alle Ausländer, die seit weniger als zwei Jahren im Land lebten, ausgewiesen. Er beendete das Gymnasium 1938 und auf Wunsch seines Vaters sollte er unmittelbar danach nach Palästina reisen. Doch am Tag, an dem er die Schule abschloss, wurde er von der estnischen Armee für ein Jahr Militärdienst rekrutiert. Im Verlauf dieser Zeit verlängerte die Armee die obligatorische Zeit um sechs Monate. Isaac wurde erst im Mai 1940 von seinen militärischen Verpflichtungen befreit, d.h. einen Monat vor dem Einmarsch der Sowjets in Tallinn. Der junge Mann begann nach einer Arbeit zu suchen, doch damals gaben nur jüdische Industrielle jungen Juden eine feste Stelle. Da die Fabriken verstaatlicht und ihre jüdischen Besitzer von den Sowjets vertrieben und später des Landes verwiesen worden waren, weil sie als "gefährliche Elemente" galten, musste sich Isaac Sermann mit Gelegenheitsjobs begnügen.
In Wirklichkeit war die Rote Armee schon teilweise in Estland stationiert, und 1939 war die estnische Armee, vor allem ihre Panzer, in Richtung russische Grenze aufgebrochen, um die Sowjets zu bekämpfen. Der Präsident von Estland, Konstantin Päz, unterbrach diese Operation und vermied auf diese Weise ein Massaker, denn die kleine estnische Armee hätte gegen die mächtige Rote Armee keine Chance gehabt. Isaac Semann gehörte dieser Expedition an, welche die Strecke Tallinn bis zur russischen Grenze einmal hin und wieder zurück marschierte.

Sie haben siebeneinhalb Jahre Ihres jungen Lebens in der Roten Armee verbracht. Wie sind Sie dort eingetreten und wie haben Sie den Zweiten Weltkrieg erlebt?

Ich verliess meine Stadt Rakvere am 6. August 1941 um 18 Uhr, und um 19.20 Uhr marschierten die deutschen Truppen dort ein. Ich floh nach Narva, eine Grenzstadt zu Russland, und schaffte es, in der Nacht vom 16. zum 17. August nach Russland zu gelangen. Dort trat ich einem Arbeiterregiment in der Ausbildung bei, wo ich bis im November 1941 blieb. Unsere erste grosse Schlacht fand bei Kinghissepp statt, denn wir waren von den Deutschen, die bis zum See von Peipous vorgedrungen waren, bereits eingekesselt worden. In meinem Regiment befanden sich auch andere Juden, einer von ihnen, Alexander Grossmann, war ein früherer Klassenkamerad, dem ich sehr nahe stand. Letzterer nahm an allen Kämpfen des Kriegs teil, ohne je verletzt zu werden, und zu einem bestimmten Zeitpunkt war er gar als Dolmetscher zwischen den russischen und deutschen gefangenen Kommandanten tätig, da er der Einzige war, der beide Sprachen beherrschte. Er lebt noch immer in Tartu, und im vergangenen Mai hat er seinen 82. Geburtstag gefeiert. Von Kinghissepp aus zogen wir uns nach Leningrad zurück, das wir aber nicht erreichten; wir kamen bis Peterburg vor den Toren der Stadt, wo wir eine der schrecklichsten Schlachten austragen mussten. Irgendwann ist eine Bombe neben mir explodiert, und ich stand dermassen unter Schock, dass ich drei Tage lang weder sprechen noch hören konnte. Was die Nahrung angeht, war alles ganz simpel: wir hatten Anrecht auf 175 Gramm Brot pro Tag. Da es aber aus Leningrad stammte, das bereits belagert wurde, traf es nach drei Tagen dermassen gefroren bei uns ein, dass wir es mit den Händen auftauen mussten und schliesslich fast nur Wasser übrig blieb. Da gingen wir eben in die Kartoffelfelder und fanden ab und zu rohe Erdäpfel. Die Luftwaffe flog im Rhythmus von 30 bis 50 Junker alle zehn Minuten Angriffe auf Leningrad. Da die russische DCA sehr stark war, drehten die deutschen Kampfflugzeuge um und warfen alle ihre Bomben über der Ostsee und dem finnischen Meerbusen ab, da es ihnen nicht möglich war, mit ihren Sprengkörpern zu landen. Man muss sich also vor Augen halten, dass die gesamte Küstenlinie in Flammen stand, und darüber hinaus kochte das Meer tatsächlich wie heisses Wasser. Alles was ich nach diesen Angriffen gesehen oder erlebt habe, war geringfügig im Vergleich zu diesen Attacken. Dazu muss man wissen, dass wir mit dem Rücken in 800 m Entfernung zum Meer stationiert waren, während die deutschen Panzer vor uns standen. Schliesslich gelang uns der Durchbruch und wir erreichten Leningrad, von wo ich über den Ladoga-See zum ersten Bahnhof aufbrach, was kein Pappenstiel war. Von dort kam unsere Einheit für drei Wochen nach Sibirien. Inzwischen hatte ich erfahren, wo sich meine Eltern aufhielten, die zusammen mit meinem Bruder und dessen Tochter evakuiert worden waren. Doch die Armee gestattete mir nicht, ihnen nach Europa nachzureisen, und so musste ich bis Omsk weiter fahren. Dort wurde ich einer estnischen Kolchose zugeteilt, die vor dem Krieg von Leuten aus Estland gegründet worden war, die sich hier ein besseres Leben als zu Hause schaffen wollten. Drei Wochen lang arbeitete ich in dieser Kolchose und erhielt dann den Befehl, der Ersten Division Estlands beizutreten. Am 10. Januar 1942 kehrte ich nach Omsk zurück, eine Woche später war ich Mitglied dieser Division. In der estnischen Armee hatte ich als einfacher Soldat gedient, doch auf Grund meiner militärischen Erfahrung ernannte mich die Rote Armee zum stellvertretenden Kommandanten einer Grundeinheit eines Artillerieregiments. In dieser Funktion nahm ich übrigens an der ersten Schlacht unserer Division teil. Die Zweite Division Estlands wurde im März 1942 gegründet, und zusammen zählten diese beiden Divisionen fast vierzigtausend Mann, die unter dem Namen "Achtes Estnisches Korps" zusammengefasst wurden. Das Korps wurde dann in eine kleine Stadt in der Umgebung von Moskau verlegt, bis wir irgendwann den Befehl erhielten, in Richtung Stalingrad zurückzukehren. Aus einem mir unbekannten Grund wurde unser Konvoi unterwegs nach Valuki umgeleitet, wo wir im Dezember 1942 an einer grausamen Schlacht teilnahmen. Als wir noch in der Nähe von Moskau stationiert waren, unternahmen wir sehr ausgedehnte Manöver und waren perfekt auf einen Kampf auf einem Feld oder im Wald vorbereitet. Wir hatten überhaupt nicht für den Kampf in einer Stadt trainiert. In Valuki jedoch mussten wir zum ersten Mal in der Geschichte der Roten Armee eine heftige Schlacht bestehen, die sich in einer Stadt abspielte. Wir hatten extrem hohe Verluste hinzunehmen, viele junge Juden haben ihr Leben hier verloren, eine grosse Zahl kehrte mit schweren Verletzungen nach Hause, einige von ihnen waren ein Leben lang invalid. Ich habe hier langjährige Freunde und enge Vertraute verloren. Weil die Zahl der Opfer in den ersten Tagen enorm hoch war, liess die Armee ein anderes Regiment aus Sibirien kommen. Mit zwei Beispielen kann ich vielleicht das Ausmass der Tragödie veranschaulichen. Da es noch Januar war, wurde es erst ab zehn Uhr morgens hell. Die neuen Truppen trafen gegen acht Uhr ein und mussten sofort am Kampf teilnehmen. Auf diese Weise erlebte ich die Ankunft von Micha Blechmann, einem bekannten Sportler meiner Stadt Rakvere. Als ich ihn traf, sagte ich zu ihm: "Pass auf dich auf, die Lage ist sehr gefährlich. Komm heute Abend zu mir und ich kann dich in mein Bataillon aufnehmen". Ich habe ihn nie wieder gesehen... Ausserdem war da der Mann meiner Cousine, Schlomo Kulman, dem ich dasselbe sagte... auch ihn habe ich nie wieder gesehen. Es war nicht möglich, diese Männer sofort nach ihrer Ankunft in ein neues Bataillon aufzunehmen, weil sie sofort in die Schlacht geschickt wurden. Die Liste ähnlicher Beispiele ist lang und schmerzlich. Wir haben auch in der Schlacht um die Befreiung der Insel Saaremaa viele junge Juden verloren. Als ich mit meiner Einheit in die Umgebung von Tallinn zurückkam, kreuzten wir eine andere Einheit, die zu dieser Insel aufbrach. Unter den Soldaten befand sich auch Avraham Blechmann, ein Freund von mir. Wir gaben uns ein Handzeichen zum Gruss... danach habe ich ihn nie wieder angetroffen. Am 8. Januar 1943 wurde ich verletzt und verbrachte einen Monat im Spital der Stadt Kalin.

Wann und unter welchen Umständen kehrten Sie nach Estland zurück?

Wir setzten den Krieg fort, eine Schlacht nach der anderen, einen Verlust nach dem anderen, doch ohne je unser Ziel aus den Augen zu verlieren: die Befreiung Estlands. 1944 standen wir in Leningrad, das aus seiner Einkesselung befreit worden war, und im März fanden in Estland, in Narva, die ersten Kämpfe statt. Im Juli lieferten wir eine entsetzliche Schlacht, um den Übergang über den Fluss Narova zu erzwingen. Im Laufe der Kämpfe tat sich Avraham Freimann, einer meiner besten Freunde, durch seine Taten hervor. Später habe ich ihn für eine Auszeichnung vorgeschlagen, und er hat tatsächlich den roten Orden mit dem fünfzackigen Stern bekommen. Er ist vor zwei Jahren gestorben.
Im September haben wir erneut den See Peipous überquert, bevor eine Schlacht um den Fluss Embach austragen mussten. Ab da marschierten wir recht schnell auf Tallinn zu. Sie müssen wissen, dass wir neben den zahlreichen tragischen Momenten auch Augenblicke des Glücks und der Emotionen erlebt haben, dazu gibt es unzählige Anekdoten. Eines Abends, als wir in einem Dorf übernachteten, verbrachte ich die Nacht bei einer einheimischen Familie. Im Verlauf des Gesprächs wurde mir klar, dass der Sohn dieser Leute mit mir die Schule in Rakvere besucht hatte. Die Familie hatte seit Monaten keine Nachricht von ihm. Ich konnte dem abhelfen, da mir der junge Mann... am Vorabend begegnet war. Am nächsten Morgen brach meine Einheit nach Tallinn auf, um die Hauptstadt zu befreien, und ich sollte die Befehlshaber begleiten, weil ich Estnisch sprach. Eine halbe Stunde, nachdem ich dazu abkommandiert worden war, teilte man mir jedoch mit, ich sei ersetzt worden. Es war undenkbar, das ein Jude zu den ersten Befreiern von Tallinn gehören sollte. Ich kehrte etwas später in die Hauptstadt zurück und stiess am 24. Dezember 1944 zufällig auf meine Eltern, meinen Bruder und meine Nichte. 1947 wurde ich aus der Armee entlassen, nachdem ich während des Kriegs drei Mal verwundet worden war.

Wussten Sie während des Kriegs, dass Tausende von Juden nach Estland deportiert und dort getötet wurden?

Wir hörten zahlreiche Gerüchte, doch ich entdeckte das Ausmass der Katastrophe erst 1944, als ich ins Land zurück kam.

Heute gilt Ihre Tätigkeit in der Roten Armee nicht mehr sehr viel. Was löst dieser Umstand bei Ihnen aus?

Die Rückkehr des estnischen Korps nach Tallinn erfolgte zu Fuss ab Riga. In Lettland wurden wir gefeiert und beklatscht, sobald wir die Grenze überschritten hatten, glich der Weg einem riesigen Blumenteppich. Am 17. Juni 1945 defilierte das Eesti Laskurkorpus in den Strassen von Tallinn: der Umzug war 8 km lang und umfasste 30'000 Mann! Ich erinnere mich noch sehr gut an die Art und Weise, in der wir von den estnischen Müttern, Schwestern und Töchtern empfangen wurden. Nie habe ich es erlebt, dass ein Besatzer von der Menge so begeistert empfangen und mit Blumen überschüttet wurde. Leider hat sich das Blatt heute gewendet, jetzt werden diejenigen, die mit den Nazis zusammengearbeitet und gekämpft haben, als die Befreier angesehen. Wir, die wir in der Roten Armee gekämpft, die Nazis besiegt und Estland von Joch der Deutschen befreit haben, werden heute von der Gesellschaft geächtet, weil sie in uns die Verkörperung des Besatzers sieht! Diese Situation ist nur schwer zu ertragen, denn wir sind die Parias der Gesellschaft.

Nach dem Krieg nahm Isaac Sermann sein Studium an der Universität von Tartu auf. Er wurde Journalist, wurde dann aber gezwungen, im Nationalen Filmarchiv zu arbeiten, bevor er pensioniert wurde. Dieser ehemalige jüdische Kommandant der Roten Armee ist überzeugt, einen gerechten Kampf geführt und das Gute gegen das Böse verteidigt zu haben. Heute ist er voller Bitterkeit, aber er gibt weiterhin Unterricht und hält Vorträge über "seinen" Krieg, insbesondere im Rahmen der jüdischen Schule.

Contacts
Redaction: edition@shalom-magazine.com   |  Advertising: advert@shalom-magazine.com
Webmaster: webmaster@shalom-magazine.com

© S.A. 2004