News Neueste Ausgabe Befragung: Resultate Suchen Archiv Français English Русский עברית Español


Inhaltsangabe Estland Herbst 2002 - Tischri 5763

Editorial - September 2002
    • Editorial

Rosch haschanah 5763
    • Neues Leben - Neue Hoffnung

Politik
    • Veränderung erwartet

Interview
    • Strenge und Pragmatismus
    • Demokratie und Scharia

Strategie
    • Die richtige Wahl

Medizin
    • Hingabe - Initiative - Erneuerung

Reportage
    • Leben retten!
    • Vorsicht und Vorbeugung

Judäa-Samaria-Gaza
    • Har Chevron

Wirtschaft
    • Kata

Estland
    • Jerusalem und Tallinn
    • Einzigartiges Schicksal
    • Esti Pea Rabi
    • Stalins Kreis
    • Kampf und Ungerechtigkeit
    • Vergangenheit und Gerechtigkeit!

Finnland
    • Jerusalem und Helsinki
    • Helsingin juutalainen seurakunta
    • Dilemma und Loyalität
    • Das Schicksal der jüdischen Kriegsgefangenen

Kunst und Kultur
    • Das persische Herz

Ethik und Judentum
    • Pflicht zur Solidarität

Artikel per E-mail senden...
Vergangenheit und Gerechtigkeit!

Von Dr. Efaim Zuroff *
In Estland haben wir kürzlich etwas Seltenes, wenn nicht gar noch nie Dagewesenes erlebt: in einer lokalen Zeitung publizierte der amerikanische Botschafter ein Editorial, in dem er die estnischen Behörden heftig kritisierte und die Tatsache anprangerte, dass keinerlei Strafverfahren gegen die Bürger dieses Landes angestrengt worden sei, die sich der Kriegsverbrechen und der Zusammenarbeit mit den Nazis schuldig gemacht haben. In dem Artikel, der am 28. Mai dieses Jahres in der estnischen Tageszeitung Eesti Paevaleht erschien, wirft Botschafter Joseph De Thomas dem Staat, in dem er tätig ist, vor, sich mit seiner Rolle in der Schoah nicht angemessen auseinandergesetzt zu haben; er legt den Finger auf die drei wesentlichen wunden Punkte und schlägt auch Massnahmen vor, um die Situation zu beheben.

Er schreibt in erster Linie: "Estland muss da Recht sprechen, wo Verbrechen begangen wurden", d.h. es sollte eine eindeutige Haltung in Bezug auf die Strafverfolgung von estnischen NS-Kriegsverbrechern einnehmen, von denen seit der Unabhängigkeit Estlands von der Sowjetunion kein einziger vor Gericht gestellt wurde. Erinnern wir daran, dass in derselben Zeitspanne kommunistische Verbrecher verfolgt und zahlreiche von ihnen verurteilt wurden. In einer zweiten Phase muss "Estland anerkennen, dass die Schoah Teil seiner Geschichte ist", indem es den Tag der Schoah in würdiger und bedeutungsvoller Weise begeht und indem es alle Orte im Land bezeichnet, an denen Verbrechen und Massaker verübt wurden. Und schliesslich fordert der Botschafter: "Informiert die Kinder über die Vergangenheit", und zwar indem das Thema der Schoah in entsprechender Weise in den estnischen Geschichtsbüchern behandelt wird, was gegenwärtig seines Wissens nicht der Fall ist.

Der Artikel von Botschafter De Thomas bewirkte natürlich einen Skandal und löste bei Esten aller Ausrichtungen einen Sturm der Entrüstung aus, bei Beamten, Journalisten und einfachen Bürgern; fast einstimmig setzten sie sich für die Verteidigung ihres Landes ein und waren der Ansicht, das Thema der Schoah sei ausreichend diskutiert worden. In ihren Briefen weisen einige darauf hin, dass die estnischen Geschichtsbücher über anderthalb Seiten der Schoah widmen - und bestätigen damit die Worte des Botschafters -, andere vertreten die Meinung, diese Fokussierung auf die Strafverfolgung von Naziverbrechern, während man die kommunistischen Kriminellen vernachlässige, entspreche einer diskriminierenden Anwendung des Gesetzes und widerspreche der estnischen Verfassung (ganz zu schweigen von den amerikanischen Rechtsgrundsätzen). Man konnte auch die Anschuldigungen des berühmten Chronisten Eerik-Niiles Kross lesen, Sohn des bekannten estnischen Schriftstellers Jaan Kross; er wagte zu behaupten, dass die Esten sich vor allem aus einem Grund nicht so intensiv für die Wahrung der Erinnerung an die unter der deutschen Besatzung ermordeten estnischen Juden eingesetzt hätten, nämlich wegen der "lächerlichen Übertreibungen von Efraim Zuroff" [betreffend die Mittäterschaft der Esten bei den Verbrechen der Schoah] und "den Aktivitäten der estnischen Juden in den mörderischen sowjetischen Bataillons" [KGB-Agenten, die 1941 und nach dem Zweiten Weltkrieg Tausende von estnischen Bürgern folterten, darunter auch Hunderte von Juden]. Kurz, man sieht, dass die Esten in erster Linie mit Ablehnung reagiert haben, insbesondere in Bezug auf die Strafverfolgung ihrer nationalsozialistischen Kriegsverbrecher.

Nachdem ich diese Frage jahrelang eingehend untersucht und mich persönlich in mehreren Anläufen dafür eingesetzt hatte, die estnischen Kriegsverbrecher vor Gericht zu bringen, kann ich den Wahrheitsgehalt des Artikels von Botschafter De Thomas angemessen beurteilen: Er widerspiegelt nicht nur die estnische Realität in korrekter Weise, sondern er legt auch den Finger auf die wundeste Stelle, die Weigerung der Esten, die Teilnahme ihrer Mitbürger an den Verbrechen der Schoah vollumfänglich einzugestehen.

Dieser allgemeine Gedächtnisschwund betreffend die Rolle der einheimischen Kollaborateure bei der Umsetzung der Endlösung ist zwar allen baltischen Staaten gemein, doch die Situation in Estland zeichnet sich aus verschiedenen Gründen durch besondere Schwierigkeiten aus. Erster Faktor: die vor dem Krieg hier ansässige jüdische Gemeinschaft war extrem klein, sie umfasste nur ungefähr 4500 Personen. Zweitens gelang es fast 80 % der jüdischen Bevölkerung Estlands, vor der Ankunft der Nazis in sowjetisches Gebiet zu flüchten, so dass sich während der Besetzung durch die Nazis nur ca. tausend Juden noch in Estland befanden. Drittens stammten die meisten der auf estnischem Boden ermordeten Juden aus dem Ausland und waren keine estnischen Bürger, was eine Identifikation mit den Opfern erschwert und ein allfällig für sie empfundenes Mitgefühl nicht unbedingt fördert; was die Verantwortung für die Massaker und die Bestrafung der Schuldigen angeht, so verlangt man da anscheinend schon zu viel. Und schliesslich muss die Tatsache erwähnt werden, dass die meisten Verbrechen gegenüber den Juden, die von estnischen Polizeibataillons auf einheimischem Boden, aber vor allem im Ausland verübt wurden (insbesondere in Belarus, Polen und Litauen), der estnischen Öffentlichkeit nicht bekannt waren. Erst vor kurzem sind diese Taten ans Tageslicht gekommen.

Durch all diese Elemente wiegten sich die Esten lange Zeit in dem Glauben, sie seien im Gegensatz zu ihren baltischen Nachbarn nicht wirklich betroffen vom Problem der Kollaboration Einheimischer mit den Nazis. In Litauen und Lettland weiss man es, die Behörden waren gezwungen, sich mit dieser Frage sofort nach der Erlangung der Unabhängigkeit auseinanderzusetzen. Doch die geschichtlichen Fakten widerlegen kategorisch die vermeintliche Unschuld Estlands; davon zeugen auch die Schlussfolgerungen der Internationalen Kommission in Bezug auf die Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die 1998 auf Initiative des estnischen Präsidenten Lemart Meri gegründet wurde. Die Kommission sollte die Verbrechen untersuchen, die unter nationalsozialistischer und sowjetischer Besatzung in Estland verübt wurden. Gemäss einer im Januar 2001 veröffentlichten Zusammenfassung der Schlussfolgerungen tragen zahlreiche Esten zumindest teilweise die Verantwortung für folgende Handlungen:

1. Ermordung fast aller estnischen Juden, die unter der Besatzung der Nazis in diesem Land lebten;

2. Ermordung von fast 3000 Juden, die 1942 aus dem Ghetto von Theresienstadt deportiert, ins Arbeitslager Jagala transportiert und in Kalevi-Liiva umgebracht wurden;

3. Ermordung von Tausenden von Juden, die in den Lagerkomplex von Vaivara deportiert und vor dem Einmarsch der Russen auf estnisches Gebiet getötet wurden;

4. Verfolgung und/oder Ermordung von Tausenden von Juden in Estland, Belarus, Polen und Litauen durch Angehörige der Estnischen Legion und verschiedener estnischer Polizeibataillons;

Die Aufdeckung dieser Ereignisse durch die Kommission führte jedoch nie zu Strafverfolgungen, kein einziger estnischer Verbrecher während der Schoah (im Land selbst oder im Ausland lebend) wurde während den rund zehn Jahren seit der Unabhängigkeit Estlands behelligt. Die estnischen Behörden haben in dieser Zeitspanne nicht einmal eine Untersuchung zu diesem Thema aus eigenem Antrieb eingeleitet. Hingegen lassen sie es sich nicht nehmen, über die zahlreichen Verfahren zu berichten, die nach dem Zweiten Weltkrieg von Sowjets gegen estnische Kollaborateure angestrengt und bis in die Mitte der 70er Jahre fortgesetzt wurden; die Esten sind der Meinung, ihr Land sei in gewisser Weise "gesäubert" worden und kein estnischer Nazi-Verbrecher habe einem Verfahren entkommen können. Es ist jedoch nicht von der Hand zu weisen, dass Estland seit der Erlangung der Unabhängigkeit zahlreiche estnische Nazi-Verbrecher hätte verurteilen können, wenn nicht der politische Wille dazu gefehlt hätte. Die Fälle von Evald Mikson und Harri Mannil sind das auffälligste Beispiel für die Schwächen der Regierung in diesem Bereich. Beiden gelang es, während des Zweiten Weltkriegs ins Ausland zu flüchten, und man fand in der Folge heraus, dass der eine von ihnen in Island, der andere in Venezuela lebte. Mikson war Chef des Omakaitse im Distrikt Vonnu gewesen und wurde später zum stellvertretenden Leiter der estnischen politischen Polizei im Distrikt von Tallin-Harju. Erinnern wir daran, dass der Omakaitse eine Gruppe von estnischen Nationalisten war, die sich freiwillig für Sicherheitsmissionen meldeten und in den ersten Wochen nach dem Einmarsch der Nazis in Polen und in den baltischen Staaten Selbstverteidigungsgruppen bildeten. In beiden Funktionen nahm Mikson aktiv an der Verfolgung und Ermordung zahlreicher Zivilpersonen, vor allem von Juden teil. Mannil diente in Tallinn unter seinem Befehl und war direkt an der Verhaftung Dutzender Zivilisten beteiligt, die später von der estnischen Polizei ermordet wurden. Die estnischen Behörden versuchten nicht, die Auslieferung dieser beiden Verbrecher zu erwirken, sondern beschlossen anfänglich Mikson zu unterstützen und Mannil einfach zu ignorieren. Die Tatsache, dass Mikson in Reykjavik lebte, wurde vom Simon Wiesenthal Center aufgedeckt, das Island sofort darum ersuchte, gegen ihn vorzugehen; auf Grund dieses Gesuchs veröffentlichte das Aussenministerium von Estland eine Mitteilung, in der beteuert wurde, Mikson sei "keines Verbrechens schuldig, bestimmt nicht gegenüber dem jüdischen Volk". Darüber hinaus beschuldigte es die sowjetischen Behörden, sie hätten versucht falsches Beweismaterial herzustellen, obwohl in den Archiven Estlands Dokumente aufbewahrt werden, die Miksons Schuld nachweisen und seine Teilnahme an schwerwiegenden Verbrechen eindeutig belegen. Bei Mannil war hingegen ein offizielles Gesuch des Wiesenthal Centers notwendig, in dem die estnischen Behörden aufgefordert wurden, seinen Fall zu untersuchen, damit diese vor einem Jahr endlich die entsprechenden Massnahmen einleiteten. Es stellte sich heraus, dass Mannil anscheinend der reichste Este weltweit ist und dass die kulturellen Institutionen seines Landes von seiner Grosszügigkeit profitieren. Es wird dadurch verständlich, weshalb es den estnischen Behörden widerstrebte, ein Rechtsverfahren gegen diesen Nazi-Kriegsverbrecher einzuleiten. Wir möchten aber betonen, dass diese Zurückhaltung sich in Estland nie bemerkbar machte, solange es sich um kommunistische Kriminelle handelte, von denen die meisten bereits verurteilt wurden. Die Internationale Kommission deckte im vergangenen Jahr auf, dass Mitglieder des 36. Estnischen Polizeibataillons am 7. August 1942 an der Ermordung von über 2500 Juden in Nowogrudok in Polen beteiligt waren, und brachte die aktive Rolle der estnischen Polizeibataillons im Völkermord und den in Estland, Polen und Litauen verübten Verbrechen gegen die Menschlichkeit an die Öffentlichkeit. Nach der Enthüllung dieser Fakten wandte ich mich an den Premierminister Mart Laar und drängte ihn, eine Spezialeinheit für die Ermittlungen gegen nationalsozialistische Kriegsverbrecher in Estland zu schaffen. Zu meiner grossen Überraschung liess mich Laar wissen, dass eine derartige Einheit bereits im Rahmen der Sicherheitspolizei existiere. Unter diesen Umständen hätte man erwarten können, dass Estland zum ersten Mal gegen Kriegsverbrecher ermitteln und gegebenenfalls gegen diese prozessieren würde. Doch leider ist fast ein Jahr später immer noch keine einzige Untersuchung eröffnet worden; wir können nur hoffen, dass trotz allem entsprechende Massnahmen ergriffen werden und dass zumindest einige der Esten, die an den Verbrechen der Schoah teilgenommen haben, über ihre Taten Rechenschaft ablegen müssen. Aus diesem Grund war der Artikel von Botschafter De Thomas nicht nur ausserordentlich aufschlussreich, sondern erschien auch genau zum richtigen Zeitpunkt, um eine Gesellschaft aufzurütteln, die ausnahmslos alles leugnet und sich weigert, jede Mittäterschaft ihrer Bürger bei der Schoah einzugestehen.




* Dr. Efraim Zuroff, Nazi-Jäger, Historiker, Fachmann der Schoahh im Baltikum und Leiter des Büros in Jerusalem des Simon Wiesenthal.


Contacts
Redaction: edition@shalom-magazine.com   |  Advertising: advert@shalom-magazine.com
Webmaster: webmaster@shalom-magazine.com

© S.A. 2004